46 Fortbildung Zungenpressen. Beim Zungenpressen wird die Zunge meist fest gegen die Zahnreihen gedrückt oder auch zwischen den Zähnen eingelagert (Abb. 4). Dabei ist je nach Pressmodus ein unterschiedliches Bild zu erwarten. Es sind unter anderem frontale, laterale oder seitlich offene Bisse zu erkennen, vergrößerte sagittale Stufen sind häufig der Fall. Nicht selten wird so der Durchbruch von Zähnen behindert. Die Zunge kann sich auch habituell in ein Diastema zwischen den Zähnen einlagern, was zu dessen deutlicher Vergrößerung führen kann. Neben der rein habituellen Ursache können aber auch beispielsweise Makroglossien oder eine hypo-/hypertone Zungenmuskulatur eine Rolle spielen. Autoaggressive Habits. Als Beispiel für autoaggressive Habits, also selbstverletzende Angewohnheiten, können Fingernagelkauen und Lippenbeißen oder -saugen aufgeführt werden. Ersteres, die sogenannte Onychophagie, tritt häufig auf, jedoch nicht ausschließlich bei Kindern und Jugendlichen und kann emotionaler Ausdruck von ungelösten Konflikt- oder Stresssituationen sein. Hierbei werden unphysiologische Kräfte auf die Zähne und deren Parodont ausgeübt, was in extremen Fällen zum Jiggling und zu Resorptionen im Bereich der Zahnwurzel führen kann. An den Fingern selbst können dabei schmerzhafte Nagelbettentzündungen, Hauteinrisse oder auch Nagelwuchsstörungen auftreten (Abb. 5). Lippenhabits, welche deutlich seltener auftreten als Lutschhabits, sind nicht selten Folge von ebenjenen. Eine Unterkieferrücklage begünstigt diese Habits. Bei der Zahnstellung im Rahmen des Lippenbeißens sind protrudierte Inzisiven im Oberkiefer und retrudierte Inzisiven im Unterkiefer häufig sichtbar, beim Lippensaugen auch teilweise eine Kombination aus beiden im Sinne einer bialveolären Retrusion. Neben teils schmerzhaften Einlagerungen in die Unterlippe leiden die Patient*innen häufig unter trockenen und spröden Lippen und einer Mentalishyperaktivität (Abb. 6 bis 8). Viszerales Schluckmuster. Mit viszeralem Schluckmuster bezeichnet man die Einlagerung der Zunge zwischen den Zahnreihen unter Beteiligung der mimischen Muskulatur. Häufig wird dies auch als infantiles Schluckmuster bezeichnet. Ab einem Alter von zwei bis drei Jahren sollte zunehmend die Umstellung auf das somatische Schluckmuster erfolgen, bei welchem die Zunge beim Schluckakt am Gaumen anliegt und die Lippenmuskulatur entspannt (Abb. 9). Welche enorme Wichtigkeit in der korrekten Umstellung auf das somatische Schluckmuster liegt, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass der Schluckakt täglich zwischen 1000 bis 2000 Mal durchgeführt wird. Üblicherweise führt die von der Zunge ausgeübte Kraft zu einem wachstumsstimulierenden Effekt und zur Ausformung von Gaumen und Oberkiefer, die jedoch bei fehlender Umstellung nicht stattfinden. Häufigste Folgen eines bestehenden infantilen Schluckmusters sind ein frontal offener Biss und/oder eine bialveoläre Protrusion der Frontzähne. Mundatmung. Grundsätzlich muss man erwähnen, dass Mundatmung nicht nur in habitueller Form existiert, sondern ebenso organisch bedingt sein kann, verursacht beispielsweise durch adenoide Vegetationen oder Septumdeviation. Hier ist die Abb. 6 Abb. 7 Lippenbeißen bei Unterkieferrücklage, inkompetenter Mundschluss. Mundschluss mit angespannter Mentalismuskulatur. ZBW 7/2021 www.zahnaerzteblatt.de
Fortbildung 47 interdisziplinäre Zusammenarbeit mit HNO-Ärzten zielführend. Ist die Nasenatmung jedoch frei möglich, spricht man von habitueller Mundatmung. Patient*innen mit Mundatmung weisen häufig entsprechende Symptome auf. Durch die ständige Mundhaltung sinkt die Zunge nach unten, und somit fehlt der wachstumsstimulierende Reiz im Oberkiefer bzw. für den Gaumen, sodass man hier meist ausgeprägte Schmalheiten mit Zahnengständen vorfindet (Abb. 10). Der Gaumen ist oft auffällig hoch, nicht selten liegen Kreuzbisse und Progenien mit offener Tendenz vor. Zwischen Muskulatur der Zunge, Wange und Lippen herrscht kein Gleichgewicht. Neben Zahn- und Kieferfehlstellungen sind des Weiteren auch ein deutlich erhöhtes Kariesrisiko, Mundgeruch und Atemwegsinfektionen gegeben. Therapieansätze. Grundsätzlich werden orofaziale Dyskinesien vom behandelnden Zahnarzt oder Kieferorthopäden festgestellt. Dabei sind neben der klinischen Inspektion der Zahn- und Kieferstellung das Beobachten des Kindes sowie die Anamneseerhebung notwendig. Wichtig ist es herauszufinden, ob eine primäre oder sekundäre Ursache zugrunde liegt. Damit wäre es möglich, eine Verbesserung der Zahn- und Kieferfehlstellung nach dem Abstellen der Angewohnheit zu erreichen. Lutschhabits. Im Rahmen von Lutschhabits bis zum dritten Lebensjahr kommt es häufig zu Spontankorrekturen der Fehlstellung. Ansonsten sind ein Beruhigungssauger zum Abgewöhnen des Habits, konfektionierte Mundvorhofplatten oder Bitterstoffe zum Bestreichen der Finger gegebene Therapieoptionen. Im Vorschulalter können Lutschprotokolle sowie Gespräche mit Eltern und Kind über Lutschfolgen, mögliche psychische Ursachen oder Einflussfaktoren, wie z. B. permanente Reizüberflutungen Abb. 8 Impressionen Unterlippe beim Lippenbeißen. Lippenhabits treten deutlich seltener auf als Lutschhabits. sinnvoll sein. Bei einer apparativen Therapie zum Beispiel im Rahmen einer kieferorthopädischen Frühbehandlung kann sich die Anwendung aktiver Platten oder funktionskieferorthopädischer Geräte als sinnvoll erweisen, welche dabei auch zur Desorientierung des Lutschfingers beitragen können. Grundsätzlich sollten dabei stets HNO-ärztliche Befunde berücksichtigt werden (verlegte Nasenatmung, Polypen etc.). Zungenpressen. Je nach Ursache für das Zungenpressen bieten sich autogenes Training und Entspannungsübungen an. Des Weiteren ist die Verordnung von myofunktioneller Therapie beim Vorliegen der primären Form sinnvoll, um dieses fehlerhafte Abb. 9 Schluckmuster. Vergleich somatisches und viszerales Schluckmuster. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2021
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