44 Fortbildung Zahnärztlich-kieferorthopädische Auffälligkeiten Habituelle orofaziale Störungen Der Zahnwechsel und die Entwicklung des Gebisses mit Einstellung in eine stabile Okklusion von Ober- und Unterkiefer sind insgesamt ein komplexes Geschehen. Neben genetischen Einflüssen spielen bei der Verzahnung auch umweltbedingte Gegebenheiten eine große Rolle. Habituelle orofaziale Störungen, wie z. B. eine falsche Zungenlage beim Schlucken, können bei Fortbestand zu Zahn- und Kieferfehlstellungen führen. Somit ist die Bedeutung des rechtzeitigen Erkennens, Hinterfragens und Therapierens solcher habitueller orofazialer Störungen oder auch von Dyskinesien von enormer Wichtigkeit. In diesem Übersichtsartikel werden die am häufigsten auftretenden orofazialen Habits mit deren Auswirkungen näher beleuchtet (sämtliche Bezeichnungen gelten gleichwohl für beiderlei Geschlecht). Habituelle orofaziale Störungen. Unter diesen Störungen (auch als Dyskinesien bezeichnet) fasst man muskuläre Fehlfunktionen zusammen, welche das stomatognathe System betreffen. Diese Angewohnheiten stellen kein primär bewusstes Verhalten dar, sondern sollten eher als unbewusst auftretende Handlungen und neuromuskuläre Fehlfunktionen erfasst werden. Von großer Bedeutung ist, dass diese Verhaltensmuster physiologische Wachstumsprozesse stören und die Ausbildung von Zahn- und Bisslageanomalien fördern können. Umgekehrt kann sich aber auch aus einer bestehenden Anomalie im Zahn- oder Kieferbereich eine Dyskinesie entwickeln. Somit wird deutlich, dass die Dyskinesien grundsätzlich in eine primäre und eine sekundäre Form unterschieden werden können (Abb. 1). Als primäre Dyskinesie werden somit verursachende Fehlfunktionen bezeichnet, dass heißt, dass sie ein Grund für die entstandene Gebissanomalie sind. Durch die Beseitigung einer solchen Fehlfunktion kann es theoretisch zu einer Besserung der Zahnoder Kieferfehlstellung kommen. Bei sekundären, also adaptiven Dyskinesien handelt es sich um Anpassungserscheinungen an bereits vorhandene dentale oder skelettale Anomalien, sodass hier zunächst die Therapie der morphologischen Abweichung im Vordergrund steht. Auch in der aktuell gültigen ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) werden unter dem Punkt G24.4 idiopathische orofaziale Dystonien (inkl. orofazialer Dyskinesien) beschrieben. Beispielhaft für häufig auftretende Fehlfunktionen können Lutschhabits und autoaggressive Habits – wie Fingernägelkauen oder das viszerale Schluckmuster und Zungenpressen – benannt werden. Habits im zahnärztlichen Bereich. Grundsätzlich gibt es eine Vielzahl von Dyskinesien, welche in diesem Übersichtsartikel nicht alle beleuchtet werden Abb. 1 Einteilung der Dyskinesien. Was war zuerst da? Das Verhalten oder die Gebissanomalie? ZBW 7/2021 www.zahnaerzteblatt.de
Fortbildung 45 Abb. 2 Abb. 3 Daumenlutschen. Protrudierte obere Inzisiven bei Daumenlutschhabit, frontale Ansicht. Seitliche Ansicht. Protrudierte obere Inzisiven bei Daumenlutschhabit, seitliche Ansicht. können. Somit beschränken wir uns hier auf sehr häufig auftretende Fehlfunktionen, wobei oftmals auch Kombinationen auftreten können. Lutschhabits. Als Lutschhabit bezeichnet man das Lutschen an Fingern oder anderen Lutschkörpern. Die häufigste Angewohnheit ist das Lutschen am Daumen. Im Kleinstkindalter gilt dieses Lutschen der physiologischen Stillung des Saugreflexes und der Hand-Mund-Koordination. Üblicherweise wird dieses „Habit“ im Entwicklungsgang von selbst eingestellt. Sollte es jedoch zu lange bestehen, können die Alveolarfortsätze deformiert werden und es kommt zu Zahnfehlstellungen. Als typische Folgen exzessiver Ausübungen von Lutschhabits gelten die Protrusion der oberen Frontzähne (Abb. 2 und 3) und/oder der Retrusion unterer Schneidezähne. Ersteres erhöht auch das Risiko von Frontzahntraumata. Zusätzlich besteht häufig eine Distalokklusion bzw. Rückbisslage durch eine Zwangsführung des Unterkiefers bei oberem Schmalkiefer. Ein frontal offener Biss und eine Vergesellschaftung mit Mundatmung und Sigmatismen ist nicht selten. Auch der Lutschfinger kann Impressionen bzw. Deformationen erfahren. Keinesfalls muss aber immer das Lutschen am Daumen die Ursache für Kiefer- und Zahnfehlstellungen sein. Auch Schnuller, Bettdeckenzipfel oder andere Finger können als Lutschkörper dienen. Abb. 4 Abb. 5 Zungenpressen. Beim Zungenpressen wird die Zunge gegen den Gaumen und die Zahnreihen gedrückt. Fingernagelkauen. Ein Beispiel für autoaggressive Habits ist das Fingernagelkauen. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2021
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