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Zahnmedizinischer Nachwuchs

Ausgabe 7/2021

24 Berufspolitik

24 Berufspolitik politische Strategie umfassen muss. Das kann die mentale Gesundheit sein oder die gesundheitliche Beeinträchtigung anderer nicht Coronainfizierter, die sich nicht mehr ins Krankenhaus getraut haben. Ebenso gilt das für wirtschaftliche Güter – viele Menschen konnten ein Jahr nicht mehr ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das alles sind ethische Fragen, die reflektiert werden müssen, weil sie elementare Fragen der Gerechtigkeit betreffen. Da stimme ich Ihnen zu. Grundsätzlich ist der wirtschaftliche Umgang mit Ressourcen ein hohes Gut und ethisch geboten. Eine Ökonomisierung im Sinne, dass wirtschaftliche Ziele das Handeln von Akteuren im Gesundheitswesen maßgeblich leiten, ist hingegen eine problematische Entwicklung. Es muss eine Debatte darüber geben, welche Ressourcen innerhalb eines nationalen Gesundheitssystems vorgehalten werden. Welche müssen im europäischen Raum beziehbar sein? Selbstverständlich gibt es auch im Gesundheitswesen eine internationale Arbeitsteilung, das kann in einer globalisierten Welt gar nicht anders sein. Doch die Pandemie hat auch die Grenzen des Outsourcings aufgezeigt. Stichwort Impfpriorisierung. War der Rat beteiligt und wie beurteilen Sie die in der Corona-Impfverordnung vom 15.12.2020 empfohlene Priorisierung? Der Ethikrat war beteiligt – die Priorisierung ist von der STIKO unter Mitarbeit des Ethikrates und der Leopoldina erarbeitet und beschlossen worden. Der Ethikrat steht geschlossen hinter der Priorisierung. Es ist vernünftig, dass die Personen, die das höchste Risiko für den größten Schaden haben, prioritär geschützt werden müssen. Und es ist auch denjenigen, die ein viel geringeres Risiko haben, zuzumuten, dass sie länger warten müssen. Auch die berufspolitische Spezifizierung halten wir für begründet, d. h. Personen im Gesundheitswesen, die einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind und in Nähe zu Patientinnen und Patienten arbeiten, müssen prioritär geschützt werden. Das ist notwendig, sinnvoll und wohlbegründet. Ich halte es aber für bedenklich, dass einzelne Ministerpräsidenten sich dazu hinreißen ließen, ständig über Ausnahmen von der Priorisierungsreihenfolge öffentlich zu reflektieren, anstatt an die Solidarität zu appellieren. Es ist ja keine Willkür, sondern es gibt gute Gründe für diese Reihenfolge und diese Gründe müssen den Menschen erklärt werden, damit sie nicht denken, hier würden Privilegien verteilt. Ich hätte mir eine einvernehmlichere öffentliche Kommunikation der politisch Verantwortlichen gewünscht. Mit der Aufweichung der Impfpriorisierung und der Verlagerung in die Hausarztpraxen wird die Verantwortung jetzt in die Hände der Hausärzte gelegt, die nun den Ansturm der Impfwilligen selektieren müssen. Das halte ich für bedenklich. Foto: Deutscher Ethikrat Prof. Dr. Franz-Josef Bormann Die Pandemie hat auch gezeigt, dass die letzten 25 Jahre in der Gesundheitspolitik auf Ökonomisierung und Rationalisierung ausgelegt waren. Das hatte zur Konsequenz, dass aus Kostengründen elementare Dinge der Daseinsvorsorge in Niedriglohnländer ausgelagert wurden. In der Pandemie stellte man dann fest, dass es vielleicht besser gewesen wäre, Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung im eigenen Land zu produzieren. Geärgert hat mich auch die fortwährende Kritik an unserer offensichtlich zu hohen Anzahl an Krankenhausbetten – in der Pandemie waren wir froh, dass diese Krankenhausbetten nicht wegrationalisiert wurden. Ich denke, es ist auch eine Aufgabe des Ethikrates, dafür zu sorgen, dass Gesundheitsversorgung nicht ausschließlich ökonomisch betrachtet wird. Foto: F. Kraufmann Dr. Bert Bauder Das ist richtig. Man müsste klar politisch kommunizieren, dass trotz der Aufhebung der Impfpriorisierung die Knappheit des Impfstoffs weiterbesteht. Nicht für alle, die geimpft werden wollen, steht zeitgleich Impfstoff zur Verfügung. Den Schwarzen Peter jetzt den Hausärztinnen und -ärzten zuzuschieben, ist keine Lösung, denn nun werden diese und ihr Personal aggressiv und ungefiltert mit der Ungeduld der Impfwilligen konfrontiert. Aber das Problem hat noch eine weitere, viel dramatischere Dimension: Die Priorisierung läuft nur in Deutschland aus, aber das bedeutet nicht, dass der Grundgedanke der Priorisierung in einem globalen Maßstab gegenstandslos wäre. In vielen Teilen der Welt sterben extrem vulnerable Menschen an COVID-19 – und wir streiten darüber, wer mit viel geringerem Risiko als nächstes geimpft wird. Das ist zwar psycho- ZBW 7/2021 www.zahnaerzteblatt.de

Berufspolitik 25 logisch nachvollziehbar, aber aus medizinisch-ethischer Perspektive, die auch eine globale ist, eine problematische Gemengelage. Erst kürzlich hat die WHO bekannt gemacht, dass sich ca. zehn Nationen den Löwenanteil des Impfstoffs gesichert haben. Die Pandemie ist jedoch nicht national, europäisch oder auf G8-Ebene zu lösen. Je mehr die Pandemie ungebremst in den Armutsregionen der Welt wütet, desto mehr Mutationen entstehen. Und in unserer globalisierten Welt des Reisens gelangen diese Mutationen dann auch in unsere Wohlstandsregionen. Pandemien sind Großschadensereignisse, die nationale Egoismen ad absurdum führen. Die Impfstoffverteilung ist aus global-ethischer Perspektive ein Desaster. Es ist sehr schwer, eine Balance zwischen nationalen Interessen und internationalen und globalen Bedarfen herzustellen. Kommen wir zum Thema Impfneid. Verfassungsrechtler und Juristen befürworten, dass vollständig Geimpfte früher ihre Grundrechte zurückerhalten. Für mich stellt sich das jedoch etwas differenzierter da. Diejenigen, die bereits durch die Impfpriorisierung zurückgesteckt haben, sollen nun ein zweites Mal zurückstecken. Das sind vor allem die Jüngeren. Wie stehen der Ethikrat bzw. Sie dazu? Zunächst muss man im Hinblick auf die Rückgewähr der Freiheiten die jeweilige Eingriffstiefe der Maßnahmen berücksichtigen. Nicht alle infektionsschutzbedingten Maßnahmen sind gleich belastend für die Menschen. Es ist ein Unterschied, ob ich im öffentlichen Raum eine Maske tragen muss oder in Quarantäne gestellt werde. Wenn der entscheidende Sachgrund, nämlich die Infektiosität nicht mehr besteht, müssen die Regeln zurückgenommen und die Freiheiten wieder gewährt werden. Das ist ein Gebot des Verfassungsrechts, aber auch ein ethisches Gebot, weil die Ethik verlangt, den Schaden zu minimieren. Jetzt kommen aber die von Ihnen angesprochenen Gerechtigkeitsgefühle der Menschen ins Spiel: Ich bin noch nicht geimpft, aber andere bereits Geimpfte erhalten gewisse Freiheiten zurück, die ich aber auch erhalten werde, wenn ich geimpft bin. Da wäre jetzt die Frage, hält man das aus Gerechtigkeitsgründen für eine Alles-oder-Nichts- Entscheidung? Entweder müssen alle gleich leiden oder alle erhalten zum gleichen Zeitpunkt alle Freiheiten wieder zurück. Diese egalitäre Forderung der totalen Gleichbehandlung ist rational nicht zu begründen. Was man jedoch von den Geimpften verlangen kann, ist, dass sie Rücksicht nehmen auf die Belange der noch Nicht-Geimpften. Denn, dass die Geimpften schon geimpft sind, ist ja nicht Ergebnis einer Zufallsentscheidung oder ungerechten Privilegierung. Wir haben eine priorisierte Impfung für besonders Gefährdete durchgeführt. Es gibt also einen guten Grund, denn die Geimpften waren in einer Weise gefährdet, wie es die Nicht-Geimpften nicht waren. Es musste ein höheres Risiko abgewendet werden. Kurzum: Psychologisch gesehen habe ich großes Verständnis für die Ungeimpften und ihre Ungeduld. Aber ich weigere mich, dieses Gefühl in ein Gerechtigkeitsargument umzuwandeln. Von Gerechtigkeitswegen geboten ist keine Gleichbehandlung per se, sondern die Gleichbehandlung Gleich-Gefährdeter. Das ist ein Unterschied. Noch ein Gedanke: Warum sollte man nicht Menschen in prekärer wirtschaftlicher Lage vorrangig ein Impfangebot machen? Das wären jedenfalls vernünftigere Argumente als zu sagen, bis nicht der Letzte ein Impfangebot erhalten hat, gibt es keinerlei Rückgewähr von Freiheitsrechten für Geimpfte. Das scheint mir eine irrationale Position zu sein. Ich füge jedoch hinzu, dass nicht alle im Rat dieser Meinung sind. Ich danke Ihnen für diese klare Aussage. Sie haben die Risiko- Asymmetrie in der Bevölkerung angesprochen. Durch die Impfung hat man versucht, die Risiko-Asymmetrie auszumitteln, Gerechtigkeit herzustellen. Das hat man aber, meiner Meinung nach, schlecht kommuniziert. Das ist richtig. Es kommt noch etwas hinzu: Nicht nur das Risiko war ungleich verteilt, auch die Belastungen waren ungleich verteilt. Vergleichen Sie einmal die Lebenssituation eines hochbetagten, weitgehend isolierten Bewohners in einer Pflegeeinrichtung mit der eines im Homeoffice arbeitenden Angestellten. Nur weil wir alle belastet waren, bedeutet das doch nicht, dass wir alle in der gleichen Weise belastet waren. Diese Asymmetrie gebietet es meiner Meinung nach, eine der Priorisierungs-Logik entsprechende zeitlich gestaffelte Rückgewähr der Freiheitsrechte vorzunehmen. Als eine der Lehren aus der Pandemie würde ich mir ein wenig mehr Demut und Bescheidenheit in der Gesellschaft wünschen. Das wäre sehr heilsam und das würde ich auch als Moraltheologe sehr befürworten, denn wir leben in einer sehr individualistischen und zunehmend narzisstischen Gesellschaft. Die Mentalität, alles sofort und für sich selbst haben zu wollen, ist sehr bedenklich. Ich bin allerdings im Hinblick auf die menschliche Natur und ihre Fehlbarkeit nicht so wahnsinnig optimistisch, was unser Lernverhalten durch die Pandemie betrifft. Ich lasse mich gerne positiv überraschen. Aber daran glauben, dass wir wieder die Demut lernen, tue ich erst dann, wenn der empirische Beweis dafür erbracht ist. Fatal wäre, wenn die Menschen nach der Pandemie eine Jetzterst-Recht-Mentalität an den Tag legen. Aber vielleicht gibt es auch einige Vernünftige, für die die Pandemie Anlass ist für eine selbstkritische Rückschau. Das ist ein wunderbares Schlusswort. Wir danken Ihnen sehr für das Gespräch, Herr Prof. Bormann. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2021

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