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Ausgabe 3/2020

Fortbildung 33

Fortbildung 33 Pathogenese. Im vergangenen Jahrzehnt konnten wesentliche Einblicke in die Pathobiologie der oralen Mukositis generiert werden. Während traditionell der direkte therapieassoziierte Zelltod epithelialer Stammzellen als Hauptursache der oralen Mukositis galt, verorten aktuell vorherrschende Modelle die Pathogenese in einer komplexen Interaktion zwischen epithelialen und bindegewebigen Kompartimenten. Zugrundeliegende pathobiologische Vorgänge werden in einem fünfstufigen Prozess charakterisiert, der durch Expression proinflammatorischer Zytokine gekennzeichnet ist und in Gewebeschädigung durch kombinierte Apoptose und Gewebsnekrose resultiert [1, 2, 4]. Bleibt eine Infektion der ulzerierten Mukosa aus, nimmt die orale Mukositis einen selbstlimitierenden Verlauf. Die Inzidenz lokaler oder systemischer Infektionen ist jedoch sehr hoch [10]. Der Verlust der Schleimhautintegrität mit einhergehender Zunahme der mukosalen Permeabilität begünstigt eine mikrobielle Kolonisation und damit die Ausbildung aktiver Läsionen. In dieser Phase sind myeloablatierte Patienten durch ein erhöhtes Risiko für Bakteriämie und Sepsis besonders gefährdet. Obgleich die Rolle von Mikroorganismen in der Pathogenese der oralen Mukositis bereits seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung ist, ist deren Einfluss auf den Verlauf der oralen Mukositis nach wie vor weitgehend ungeklärt. Der Zustand oraler Gesundheit wird als Gleichgewicht zwischen Wirt und oralem Mikrobiom in einer sogenannten Homöostase angesehen. Eine mikrobielle Homöostase schützt vor Kolonisierung mit exogenen und oft pathogenen Mikroorganismen („colonisation resistance”), fördert die normale Entwicklung physiologischer und immunologischer Prozesse und trägt auch darüber hinaus zur systemischen Gesundheit des Wirtes bei [11]. Demgegenüber kann eine Störung der mikrobiellen Homöostase durch veränderte intrinsische und extrinsische Faktoren zu einer mikrobiellen Dysbiose durch selektive Begünstigung potenziell pathogener Mikroorganismen führen – es entstehen Nischen mit virulentem Milieu. Vor diesem Hintergrund ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und dem Risiko für orale Mukositis auszumachen – schlechte Mundhygiene, Karies, endodontische und parodontale Erkrankungen gelten als Risikofaktoren [12, 13]. Als weitere patientenbezogene Risikofaktoren erhöhen ein reduzierter Speichelfluss, bestimmte genetische Faktoren, eine eingeschränkte Nieren- und Leberfunktion sowie eine vorausgegangene Krebstherapie das Auftreten und die Ausprägung der oralen Mukositis [14-16]. Therapiebezogene Risikofaktoren sind hingegen in Abhängigkeit von Art und Dosis der Tumortherapie zu verorten, insbesondere Hochdosischemotherapie und allogene Stammzelltransplantation gehen mit einem hohen Risiko für eine schwere orale Mukositis einher [6, 14-16]. Grundsätzlich konnte festgestellt werden, dass zytotoxische Therapien in erheblichem Maße das ökologische Gleichgewicht beeinflussen und zu Shifts in der oralen Mikroflora führen [17, 18]. Prävention und Therapie. Eine Suche nach Reizen in der Mundhöhle mit ggf. bedarfsgerechter zahnärztlicher Sanierung gilt als sogenannter standard of care zur Prävention einer oralen Mukositis bei Patienten vor Tumortherapie. Die medizinischen Fachgesellschaften empfehlen in diesem Zusammenhang etwa die Versorgung kariöser Läsionen, die Glättung scharfer Kanten an Zähnen und Zahnersatz, ggf. Extraktion nicht erhaltungsfähiger Zähne, Sanierung von Schleimhautdefekten, Behandlung und Prävention von Prothesendruckstellen und eine bedarfsgerechte Fluoridierung [16]. Darüber hinaus finden sich vielzählige Maßnahmen zur Prophylaxe und Therapie oraler Mukositis während onkologischer Behandlungen (vgl. [16, 19-22]). Hierbei handelt es sich jedoch ausschließlich um allgemeine Maßnahmen oder symptomatische Therapien – kausale Strategien stehen bislang noch aus. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutsamkeit präventiver Maßnahmen offenbar: Eine standardisierte Mundhygiene wird demnach als Grundpfeiler in allen Altersgruppen und WHO Grad 3. Ulzerationen, Aufnahme flüssiger Nahrung möglich (Abb. 3). WHO Grad 4. Blutende Ulzerationen, orale Nahrungsaufnahme nicht möglich (Abb. 4.) Quelle der Abbildungen: D. Schüßler www.zahnaerzteblatt.de ZBW 3/2020

34 Fortbildung bei allen Tumorbehandlungen mit einem Risiko für orale Mukositis empfohlen [20, 23-26]. Die Ergebnisse einer rezenten systematischen Übersichtsarbeit unterstreichen die präventive Wirkung oraler Mundhygieneprotokolle und deuten ebenso auf positive Effekte bei Fortführung der Mundhygieneprotokolle nach Ausbildung einer oralen Mukositis [20, 26]. Es wird angenommen, dass das orale Mikrobiom über Stimulation einer inflammatorischen Wirtsreaktion Inzidenz und Schweregrad der oralen Mukositis beeinflussen kann [10, 27, 28]. In diesem Kontext wird die Rationale der positiven Effekte von Mundhygieneprotokollen in einer Modulation der oralen Mikroflora vermutet, welche wiederum mit einer verringerten Immunreaktion des Wirts einhergeht [20]. Auch wenn die bislang untersuchten Mundhygieneprotokolle im Detail mitunter voneinander abweichen, stimmen sie in wesentlichen, nachfolgend aufgeführten Bestandteilen überein [19, 20, 25, 26]: • Individuelle Mundhygiene • Regelmäßige Mundspülung mit milden Spüllösungen • Zähneputzen mit weicher Zahnbürste, die regelmäßig ausgetauscht werden sollte • Interdentalraumhygiene mit Zahnseide und/oder Interdentalraumbürsten • Noxenkarenz (Tabak, Alkohol, scharfe oder sehr heiße Speisen, säurehaltige Lebensmittel) • Fortwährende Selbstbeobachtung auf Läsionen der Mundschleimhaut • Risikoadaptierte Präventionsmaßnahmen durch den Zahnarzt • Engmaschiges klinisches Monitoring Dementsprechend sollte bereits im Rahmen der zahnärztlichen Abklärung von Risikofaktoren ein umfassendes Mundhygienetraining unter Instruktion und Motivation des Patienten zur Etablierung einer sorgfältigen Mundhygiene erfolgen. Mikrobiom und Mukositis. Untersuchungen des oralen Mikrobioms von Patienten unter HSZT sind gänzlich rar, erste Studien liefern jedoch wichtige Anhaltspunkte zum Einfluss der oralen Mikroflora in diesem Bereich: In einer Untersuchung von 13 Mikroorganismen mittels qPCR an 49 Patienten unter HSZT konnte Porphyromonas gingivalis im Besonderen als positiver prädiktiver Faktor für orale Ulzerationen ausgemacht werden, aber auch P. micra, T. denticola, F. nucleatum, C. glabrata und C. kefyr wiesen Assoziationen mit oralen Läsionen auf [29]. In einer Untersuchung des Speichelmikrobioms von 61 Patienten mit Fanconi-Anämie (davon 53 Patienten bei Zustand Acknowledgement Das Forschungsprojekt „Mikrobiom und orale Mukositis: Einfluss spezifischer Mikrobiomprofile auf die Mundgesundheit von Patienten unter Stammzelltransplantation“ wird unterstützt durch eine Forschungsförderung der Deutschen Gesellschaft für Präventivzahnmedizin und CP GABA. nach HSZT) konnten Assoziationen zwischen Streptococcus, Haemophilus, Aggregatibacter, Selenomonas, Capnocytophaga und Corynebacterium und schweren Formen einer oralen Mukositis (Grad 3 bis 4) festgestellt werden [30]. Diese Befunde stützen die Annahme, dass spezifische bakterielle Profile einen wesentlichen Einfluss in der Pathogenese der oralen Mukositis haben könnten. Grundsätzlich ist die Mukositis jedoch nicht nur auf den Mund- und Rachenraum beschränkt, sondern kann auch im gesamten Verdauungstrakt mit Schleimhautentzündungen einhergehen. Die Rolle des intestinalen Mikrobioms bei der Pathophysiologie der gastrointestinalen Mukositis ist ebenfalls nur ansatzweise erforscht. Eine Analyse von Stuhlproben von 28 Patienten vor und nach allogener Stammzelltransplantation mittels 16S rRNA Sequenzierung zeigte eine deutliche mit gastrointestinaler Mukositis einhergehende taxonomische und funktionale Dysbiose des intestinalen Mikrobioms [31]. Dieselbe Arbeitsgruppe untersuchte die Rolle des Darmmikrobioms als Prädiktor für Infektionen der Blutbahn während allogener Stammzelltransplantation. Patienten, deren intestinales Mikrobiom vor Initiation der Stammzelltransplantation eine geringere Diversität sowie verminderte Abundanz bestimmter Taxa (so etwa Barnesiellaceae, Coriobacteriaceae, Faecalibacterium, Christensenella, Dehalobacterium, Desulfovibrio und Sutterella) aufwies, entwickelten demnach im Verlauf häufiger Bakteriämien und Blutbahninfektionen. Ausgehend davon wies ein entsprechend entwickelter Risikoindex eine Sensitivität sowie eine Spezifität von jeweils 90 Prozent auf [32]. Orale Bakterien kolonisieren den gesunden Darm im Allgemeinen nur in geringem Maße [33]. Erhöhte Konzentrationen von Mikroorganismen oralen Ursprungs finden sich indessen etwa im Darmmikrobiom von Patienten mit chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen [34, 35], HIV-Infektion [36, 37], Leberzirrhose [38, 39] und Darmkrebs [40]. So zeigten sich etwa starke Korrelationen zwischen der Anwesenheit von Veillonellaceae und Fusobacteriaceae im Mikrobiom der intestinalen Mukosa sowie dem Krankheitsstatus von Morbus Crohn [34]. Die typischen oralen Bakterien Rothia, Streptococcus, Neisseria, Prevotella und Gemella wiesen im Darmmikrobiom von Patienten mit Colitis ulcerosa, primär sklerosierender Cholangitis und gastroösophagealem Reflux eine statistisch signifikant höhere Abundanz im Vergleich zu gesunden Kontrollprobanden auf [35]. In tierexperimentellen Untersuchungen konnte direkt nachgewiesen werden, dass P. gingivalis [41, 42] und Klebsiella spp. [35] eine Dysbiose des Darmmikrobioms und eine abberante Aktivierung des intestinalen Immunsystems sowie weitere inflammatorische Vorgänge in verschiedenen Geweben und Organen hervorrufen können. In diesem Zusammenhang wird neuerdings die Rolle der Mundhöhle als Reservoir für potenzielle orale Pathobionten diskutiert [35]. Assoziationen zwischen einer ektopen Kolonisierung des Darms mit Mikroorganismen oralen Ursprungs und gastrointestinaler Mukositis sind bislang nicht untersucht worden. ZBW 3/2020 www.zahnaerzteblatt.de

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