16 Titelthema Neue Möglichkeiten durch § 22a SGB V Ein besonderer Praxisbesuch Dr. Guido Elsäßer war bundesweit der erste Referent einer Landeszahnärztekammer speziell für die Behindertenzahnheilkunde. Für die seit 1. Juli 2018 geltenden präventiven Leistungen für Menschen mit Behinderung hat er berufspolitisch lange gekämpft. Wie die praktische Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelungen im Praxisalltag aussehen, hat ZBW-Redakteurin Andrea Mader bei einem Besuch in seiner Schwerpunktpraxis in Kernen-Stetten erlebt. Behandlung. Für die Behandlung von Patienten mit Behinderung muss in der Praxis deutlich mehr Zeit eingeplant werden – auch birgt die Behandlung einen enormen Beratungs- und Aufklärungsaufwand. „Ist kaputt“, Walther Geking * zeigt auf seinen Zahn, „muss man reparieren. Das machst du“, legt er fest und zeigt auf ZFA Britta Kraft. Dr. Guido Elsäßer betritt das Behandlungszimmer. „Jetzt kommt der Doktor“. Das klingt nach Ehrerbietung, aber Dr. Elsäßer winkt ab, „wir sind nicht mehr die Götter in Weiß. Heute gibt es ein neues Verständnis im Umgang mit Behinderten, im Mittelpunkt steht der Patient. Wie auch mit Patienten ohne Behinderung, gehen wir auf Augenhöhe mit unseren behinderten Patienten um. Wenn es angezeigt ist auch in einfacher Sprache. Vieles läuft nonverbal“, erläutert er. *Hinweis: Aus datenschutzrechtlichen Gründen wurden die Namen der Patienten und ihrer pädagogischen Mitarbeiter geändert. „Die Prothese passt nimmer rein“, teilt Walther Geking mit, „da muss man ‘ne Neue machen“. Dr. Elsäßer schmunzelt, „vielleicht kann man sie reparieren?“ Dann wirft er einen Blick in den Mund von Walther Geking und auch die Prothese schaut er sich an. „Die passt schon noch“, stellt er fest, „da ist etwas weggebrochen, wir reparieren das, während Frau Kraft die Zähne sauber macht“. Jetzt bekommt Walther Geking Angst, er krallt sich an den Armlehnen des Behandlungsstuhls fest, zuckt, zittert. Es dauert eine Weile bis Britta Kraft mit der Zahnsteinentfernung beginnen kann. Die ganze Zeit beruhigt sie ihren Patienten, spricht mit ihm und lobt „gut machen Sie’s“. Walther Geking ist 78 Jahre alt. Er lebt seit seinem 10. Lebensjahr in einer Einrichtung für Menschen mit Fotos: Frank Kleinbach Behinderung. Früher in Schorndorf, seit fünf Jahren nun in einer Wohngemeinschaft der Diakonie Stetten. Zu seinem heutigen Zahnarztbesuch begleitet ihn eine Mitarbeiterin aus der Betreuungsgruppe der Wohngemeinschaft. Walther Geking war das letzte Mal im Juni bei Dr. Elsäßer in der Praxis. Nur drei Monate später hat er wieder Beläge und Zahnstein. „Sie müssen jeden Tag putzen“, sagt Dr. Elsäßer in strengem Ton und legt lächelnd nach, „haben Sie im Urlaub ein bisschen geschlampert?“ Das lässt auch Walther Geking wieder lächeln. Die zweite Zahnsteinentfernung wäre ohne die neuen gesetzlichen Bestimmungen nicht möglich. Seit dem 1. Juli haben Pflegebedürftige und Menschen mit Behinderung einen verbindlichen Rechtsanspruch auf zusätzliche zahnärztliche Vorsorgemaßnahmen im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung. Enormer Aufklärungsbedarf. Der von Walther Geking zu Beginn als „kaputt“ bezeichnete Zahn ist abgebrochen und muss entfernt werden. Die Prothese muss in der Folge erweitert werden. All das vermerkt Dr. Elsäßer auf dem Formblatt bzw. der Anlage 2 „Zahnärztliche Information und Pflegeanleitung“. Das neue Formblatt ist Grundlage für die Abrechnung der neuen Leistungen. „Ich verwende das Formblatt als Kommunikationsplattform zwischen Patienten, ihren gesetzlichen und pädagogischen Betreuern und mir als Zahnarzt“, erläutert Dr. Elsäßer. Das ausgefüllte Formblatt wird der pädagogischen Mitarbeiterin aus der Betreuungsgruppe der Wohngemeinschaft ausgehändigt, für den gesetzlichen Betreuer. „Das ist bei Walther seine Friseurin“, erklärt sie, „schon seit 20 Jahren schneidet sie ihm die Haare“ und regelt seine Angelegenheiten, die das Betreuungsgericht festgelegt hat. Dazu zählt auch die Gesundheitssorge, das heißt, sie muss entscheiden, ob die von Dr. ZBW 11/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 17 Elsäßer empfohlene Behandlung erfolgen kann. Erst nachdem sie ihre Unterschrift unter das entsprechende Formular gesetzt und mit Dr. Elsäßer gesprochen hat, kann eine Terminvereinbarung für Walther Geking in der Praxis erfolgen und die Behandlung beginnen. „Der Beratungs- und Aufklärungsbedarf bei dieser Patientenklientel ist enorm“, erklärt Dr. Elsäßer und legt einen ganzen Stapel an Formularen vor: Behandlungsvertrag, Anamnesebogen für Patienten mit Unterstützungsbedarf, Einwilligungserklärungen für diverse Eingriffe, Einwilligungserklärung bei Narkose. Dr. Elsäßer hat all diese Formulare selbst mit seinem Team entwickelt. „Vielen Kollegen ist das einfach zu viel Aufwand, sie behandeln deshalb eher ungern Patienten mit Behinderung“. Für Dr. Elsäßer ist das keine Alternative, er hat eine Schwerpunktpraxis für Behindertenzahnheilkunde in Kernen-Stetten und ist ein bundesweit anerkannter Experte für den Bereich der Behindertenzahnheilkunde u. a. auch bei der Bundeszahnärztekammer. „Dieser erhöhte Beratungs- und Aufklärungsaufwand muss auch im BEMA abgebildet werden und entsprechend der GOZ-Position für die Fremdanamnese honoriert werden“, fordert Dr. Elsäßer mit Blick auf den vor ihm liegenden Stapel an Formularen. „Anna Doriani ist sehr musikalisch, sie spielt Klavier und gerade lernt sie Gitarre – was sie aber besonders auszeichnet, ist, dass sie sich alle Geburtstage merken kann“, stellt Dr. Elsäßer seine nächste Patientin vor. Anna Doriani lebt allein in einer Wohnung in der Diakonie Stetten, auch zum heutigen Zahnarztbesuch ist sie allein gekommen. „Ich bin traurig“, erklärt sie, „weil ein Freund umzieht“. Vor der anstehenden Wurzelkanalbehandlung hat sie ziemliche Angst – sie stöhnt und winselt leise vor sich hin und krallt sich an ihrem VfB-Trikot fest. „Das tut nicht mehr weh, der Zahn hat keinen Nerv mehr“, versichert Dr. Elsäßer. Er muss viele Pausen einlegen und seine Patientin zum Durchhalten motivieren. Dennoch kann er die geplante Wurzelkanalbehandlung nicht abschließen. Dr. Elsäßer bricht die Behandlung ab und schlägt Anna Doriani vor, sie Formblatt. Das neue Formblatt „Zahnärztliche Information und Pflegeanleitung“ ist Grundlage für die Abrechnung der neuen Leistungen und dient als Kommunikationsplattform zwischen Patienten, ihren gesetzlichen und pädagogischen Betreuern und dem Zahnarzt. soll nächstes Mal einen pädagogischen Mitarbeiter mitbringen. Dann möchte er es nochmals versuchen, um eine Behandlung in Vollnarkose zu vermeiden. „Vielleicht ist sie ja nur so aufgewühlt, weil ein Freund fortgezogen ist?“ Dr. Elsäßer ist enttäuscht, dass der zeitliche Mehraufwand in den neuen gesetzlichen Regelungen nicht berücksichtigt wurde, „hier wünschen wir uns Zuschlagspositionen“, unterstreicht er die Forderungen der AG Zahnmedizin für Menschen mit Behinderungen oder besonderem medizinischen Unterstützungsbedarf (AG ZMB) innerhalb der DGZMK. Viel lustiger. „Auf Wohngruppen von Behinderteneinrichtungen ist es einfach viel lebensfroher“, sagt Dr. Elsäßer gut gelaunt. Ausgestattet mit Notebook, Handy und einem kleinen Rollwagen mit Einmal-Instrumenten zur Untersuchung sind er und seine Mitarbeiterin Britta Kraft auf dem Weg in die Gartenstraße. Dort stehen vier Häuser der Diakonie Stetten, in der je drei Wohngruppen à neun Personen leben. „Heute untersuchen wir nur und entscheiden, wen wir zur Behandlung in die Praxis einbestellen“, erläutert Dr. Elsäßer. Die neuen präventionsorientierten Leistungen nach § 22a SGB V gelten unabhängig vom Ort der Leistungserbringung und auch ohne dass ein Kooperationsvertrag bestehen muss. Dr. Elsäßer und Britta Kraft beginnen im Erdgeschoss. Sie klingeln und werden von Christian Härle empfangen. Christian Härle ist Heilpädagoge und betreut die Wohngruppe. Ein heller Untersuchungsort in der Wohnung ist schnell gefunden: Das Zimmer eines Bewohners. Auf dem Nachttisch stellt Britta Kraft das Notebook ab und wählt sich mit dem Handy per Hotspot auf den Praxisserver ein. „Das freut mich jetzt richtig“, begeistert sich Dr. Elsäßer, „so kann Frau Kraft die Befunde direkt in die Praxis-EDV eingeben“. Zum Einsatz kommt wieder das Formblatt „Zahnärztliche Information und Pflegeanleitung“. Christian Härle schiebt Reiner Richter ins improvisierte Untersuchungszimmer. Reiner Richter ist Dr. Elsäßer bestens in Erinnerung – aufgrund seiner Spastik hat er ihm erst kürzlich in der Aufregung einen schmerzhaften Tiefschlag verpasst, unabsichtlich natürlich. Heute auf der Wohngruppe ist er viel ruhiger als in den Praxisräumen und sehr kooperativ – ein Termin in der Praxis ist dennoch notwendig für eine Füllung. Richard Rudolph ist der nächste, er hat viele weiche Beläge und kann sich die Zähne nicht selbst putzen. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 11/2018
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