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Zahnmedizin im Nationalsozialismus

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Ausgabe 2-3/2022

22_TITELTHEMA und

22_TITELTHEMA und Praktiken während der NS-Zeit fanden bei diesem Prozess Berücksichtigung. Das zeigt sich darin, dass von den 23 Angeklagten sieben zum Tode verurteilt wurden, fünf zu lebenslangen Haftstrafen und vier zu Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. RASCHE AMNESTIE Zahlreiche Urteile der Nürnberger Prozesse wurden ab 1950 im Strafmaß erheblich abgemildert, dies betraf auch die Urteile des Ärzteprozesses. Verhandelt wurden in Nürnberg vor dem Internationalen Militärgerichtshof Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zu denen die Verfolgung und Vernichtung der Juden zählen, ebenso die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Unter der Rubrik Kriegsverbrechen wurden Tötung und Misshandlung von Kriegsgefangenen, Hinrichtungen von Geiseln, Verschleppung zur Zwangsarbeit geahndet. Bei der Schwere dieser Taten kann man heute kaum mehr verstehen, warum es oft zu keiner angemessenen Bestrafung oder zu baldigen Strafminderungen kam. Zumal der Straferlass nicht auf einer Neueinschätzung der Schuld der Verurteilten basierte, sondern auf einer Änderung der politischen Rahmenbedingungen. SPRUCHKAMMERN Veränderungen in der Beurteilung der Naziverbrechen zeichneten sich schon ab, als die Amerikaner ab 1946 in ihrer Besatzungszone (Bayern, Groß-Hessen und Württemberg-Baden) die Entnazifizierung teilweise in deutsche Hände gaben. Zu diesem Zweck wurden die Spruchkammern eingerichtet, die als Laiengerichte fungierten. Sie führten im Gegensatz zu Gerichten keine Ermittlungen durch; ihre Aufgabe war es, die Person und ihr Handeln während des Nationalsozialismus zu beurteilen. Lag eine Schuldvermutung vor, konnte der Beklagte diese entkräften und Zeugen benennen. Das führte dazu, dass viele Belastete sich gegenseitig entlasteten, sogenannte Mitläuferfabriken etablierten sich. Die Epuration in der französischen Besatzungszone, wo im Gegensatz zur amerikanischen Zone nicht alle Erwachsenen einen Fragebogen ausfüllen musste, war von dem Bemühen getragen, dem deutschen Nachbarn „Demokratie und Friedenssehnsucht“ beizubringen. Doch die französische Besatzungsmacht hatte von Anfang an einen schweren Stand: Man betrachtete sie nicht als wirkliche Sieger, Übergriffe in der ersten » Ich habe geschworen, niemals zu schweigen, wann immer und wo immer Menschen leiden und gedemütigt werden. Wir müssen immer Partei ergreifen. Neutralität hilft dem Unterdrücker, nie dem Opfer.« Elie Wiesel, (1928–2016) Überlebender von Auschwitz und Träger des Friedensnobelpreises Phase der Besetzung, die Reparationsleistungen sowie eine schlechte Ernährungslage der Bevölkerung standen der Demokratisierungspolitik im Wege. DIE JUNGE BUNDESREPUBLIK Eine strafrechtliche Aufarbeitung in der 1949 gegründeten Bundesrepublik war zunächst auch durch den Streit darüber blockiert, welches Recht angewandt werden konnte. Es wurde schließlich auf Grundlage jener Teile des zivilen Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung verhandelt, die sowohl in der Zeit, in der die Verbrechen geschahen als auch nun in der Bundesrepublik gültig waren. So konnten lediglich Täter verurteilt werden, denen eine unmittelbare Mordbeteiligung nachzuweisen war. STABILES STAATSWESEN Die Notwendigkeit, aus Trümmern ein Staatswesen aufzubauen und zu stabilisieren – und das angesichts eines sich verschärfenden Kalten Krieges – erforderte einen leistungsfähigen Verwaltungsapparat. Entgegen der erklärten Absicht der Siegermächte wurde das deutsche Berufsbeamtentum wieder eingeführt, der Grundgesetz-Artikel 131 ebnete den Weg. Öffentlich Bedienstete, die beim Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldige oder Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer) eingestuft worden waren, konnten wieder eingestellt werden. So kamen einstmals überzeugte Nationalsozialisten wieder in Amt und Würden und konnten ihre Karriere fortsetzen, außerdem waren ihre Versorgungsansprüche im Grundgesetz verankert. Nicht nur als Staatsdiener, auch in der Wirtschaft, der Politik, der Standespolitik, an Hochschulen, im diplomatischen Dienst waren Mitläufer und auch Täter zu finden. Ein dynamischer wirtschaftlicher Aufschwung half dabei, den Handlungsspielraum gegenüber den Siegermächten langsam zu vergrößern. ZBW_2-3/2022 www.zahnaerzteblatt.de SÜDWESTSTAAT Im späteren Baden-Württemberg dauerte der Weg zur Autonomie etwas länger, denn die französischen und amerikanischen Besatzungsmächte hatten den Südwesten in drei Teile geteilt. Erst 1952, drei Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, wurde nach kontroversen Diskussionen und einer Volksabstimmung aus den Ländern Württemberg-Baden, Baden und Württemberg-Hohenzollern ein einziger Südweststaat. Die Weichen für die Zukunft waren gestellt. ALLTAG UND VERDRÄNGEN Je mehr Normalität einkehrte, desto blasser wurden die Erinnerungen, das Mantra „Wir haben das alles nicht gewusst“ war eine Schutzbehauptung, deren Wahrheitsgehalt inzwischen widerlegt ist. Selbst wenn Einzelheiten wie die konkreten Funktionsweisen der Vernichtungslager den meisten Erwachsenen nicht bekannt waren, kann von einer strikten Geheimhaltung der Massenverbrechen keine Rede sein. Aber so genau wollten es auch die Töchter und Söhne der Nachkriegsgeneration oft nicht wissen und so vergingen weitere Jahrzehnte, bis man durch Gedenkstätten und seit 1992 mit den Stolpersteinen des Künstlers Gunter Demnig den Opfern der Willkürherrschaft durch biografische Recherchen Namen und Würde zurückgab. Doch die Vergangenheit ist noch lange nicht „bewältigt“, auch was die Verstrickung der Zahnärzteschaft in Holocaust, „Euthanasie“ und Zwangssterilisierungen angeht. Sieht man Fotos mit Kisten voller Goldzähne von im KZ Ermordeten und liest, dass den Lagerzahnärzten z. B. in Buchenwald „die Überwachung beim Herausbrechen und der Sicherung des Zahngoldes getöteter Häftlinge“ oblag, wird klar, dass es auch in den Reihen der Zahnärzteschaft Täter geben muss – mehr als bisher angenommen. Dorothea Kallenberg

ZBW_2-3/2022 www.zahnaerzteblatt.de 23_TITELTHEMA Erinnerung an den Holocaust im Spiegel der Generationen DAS GEDENKEN ALS HERAUSFORDERUNG Die Anerkennung der eigenen Schuld und Verantwortung hat unter den Deutschen keineswegs nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnen. Das eigene Leid stand zunächst im Vordergrund und das Schweigen über die Verbrechen hat in der Gesellschaft vier Jahrzehnte lang angehalten. » Ihr seid nicht schuldig, für das, was in der Geschichte geschehen ist, aber ihr tragt eine Verantwortung dafür, dass es sich nicht wiederholt!« Max Mannheimer, Überlebender der Schoah Erinnerungskultur. Einer der Forschungsschwerpunkte von Prof. Dr. Dr. Aleida Assmann ist die Kulturanthropologie und dabei insbesondere die Themen kulturelles Gedächtnis, Erinnerung und Vergessen. Wann und wie ist in Deutschland die Erinnerung an den Holocaust entstanden? Da die Alliierten die Westdeutschen als Bündnispartner im Kalten Krieg brauchten, haben sie keinen großen Druck ausgeübt, so konnte sich das „Vergessen“ durchsetzen. Die Kriegsgeneration kannte angesichts der historischen Schuld nur drei Reaktionen: das Leugnen, das Rechtfertigen und das Schweigen. Das Schweigen wurde gebrochen, als die nachwachsende 68er-Generation ihre Eltern herausforderte und vehement anklagte. Doch auch das war noch nicht der Beginn einer deutschen Holocaust-Erinnerung. Die begann erst 20 bis 30 Jahre später, als sich die jungen Erwachsenen in den Städten, Universitäten und Kliniken, wo immer sie arbeiteten, auf Spurensuche machten. Sie gingen in die Archive, recherchierten die Biographien der ermordeten jüdischen Familien und sicherten ihre Namen. Es Foto: Valerie Assmann begann das Verlegen von Stolpersteinen, zu denen die überlebenden Angehörigen eingeladen wurden. Und jetzt erst kamen in großer Zahl die Zeugen des Holocaust zu Wort und es wurde ihnen endlich zugehört. GENERATION ENKEL Welche Rolle spielt die Generation der Enkel in dieser Erinnerung? Eine Studie mit dem Titel „Opa war kein Nazi“ zeigte, dass auf das Beschweigen der Täter das Beschönigen der Enkel folgte. Sie waren bestrebt, „die Eltern und Großeltern im nationalsozialistischen Universum des Grauens so zu platzieren, dass von diesem Grauen kein Schatten auf sie fällt“. Sie waren beeinflusst durch den normativen Geschichtsrahmen, der in Filmen, Büchern, Schule und Ausstellungen den Holocaust aus der Opfer-Perspektive präsentierte. Deshalb passten einige Jugendliche ihre Familiengeschichte an das nationale Narrativ an, indem sie Geschichten hinzuerfanden, die die Großeltern als widerständige Helfer der Juden zeigten. Das war aber nur eine Momentaufnahme. Allgemein hat das Interesse an der eigenen Familiengeschichte zugenommen. Diese neue Entwicklung lässt sich mit dem Stichwort „Opa war ein Nazi“ zusammenfassen. Die älter gewordenen Enkel*innen nehmen sich der Hinterlassenschaften des Familienarchivs an, machen Erinnerungsreisen an historische Orte und führen Interviews. Sie betreiben eine ernsthafte historische Selbstaufklärung und suchen weiterhin den Dialog mit der Vergangenheit. MIGRATIONSGESELLSCHAFT Wie wird sich die Erinnerung an den Holocaust und seine Täter in der Migrationsgesellschaft weiterentwickeln? Durch anhaltende Migrationswellen ist die Gesellschaft deutlich diverser geworden und es gibt immer mehr Deutsche, die eine andere Herkunft und Geschichte haben. Was für ein Verhältnis haben diese Jugendlichen jenseits der Tätergesellschaft zur deutschen Geschichte und Erinnerung? Der KZ-Überlebende Max Mannheimer machte viele Schulbesuche. Ein Satz, mit dem er die Schüler*innen ansprach, gilt heute gerade auch für die heterogen zusammengesetzten Klassen: „Ihr seid nicht schuldig, für das, was in der Geschichte geschehen ist, aber ihr tragt eine Verantwortung dafür, dass es sich nicht wiederholt!“ Die Geschichte der NS-Zeit ist in Deutschland weiterhin in Spuren, Denkmälern und Gedenkstätten präsent. Es bleibt ein Kernthema der gemeinsamen politischen Bildung, zu dem Zugänge aus ganz unterschiedlichen Perspektiven möglich sind. Prof. Dr. Dr. Aleida Assmann

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