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Ausgabe 2/2016

104 Fortbildung Von der

104 Fortbildung Von der Diagnose zur Therapie Dentale Erosionen Nichtkariöse Zahnhartsubstanzdefekte, zum Beispiel dentale Erosionen, werden neuerdings insbesondere in industrialisierten Ländern vermehrt wahrgenommen. Die Ursachen dieser vermehrten Wahrnehmung sind mannigfaltig [1]. Einerseits kann ein geänderter Lebensstil tatsächlich zu häufigerem Auftreten von Erosionen führen. Dies ist jedoch schwer durch Studien zu untermauern, da diese in verschiedenen Ländern durchgeführt werden und sehr schwer zu vergleichen sind [2]. Eine Tatsache ist jedoch, dass sich insbesondere in westlichen Ländern der Lebensstil in den letzten Jahrzehnten geändert hat. So sind eine gesündere Ernährung mit frischem Obst und Salaten, gepaart mit einer forcierten Mundhygiene häufiger vorzufinden, was aus allgemeinmedizinischer Sicht auch sehr zu begrüßen ist. Jedoch sollte hierbei auch an die Risikofaktoren zur Entstehung erosiver Zahnhartsubstanzdefekte gedacht werden, welche aus einer dentalen Erosion, der anfänglichen Demineralisation entstehen können, sobald eine mechanische Komponente hinzu kommt. Neben dem möglicherweise tatsächlich häufigerem Vorkommen von säurebedingten Zahnhartsubstanzdefekten ist jedoch auch zu bedenken, dass Zahnärzt­ Innen durch vermehrte Forschung auf diesem Gebiet und durch einschlägige Fortbildungen eine geschärfte Wahrnehmung besitzen [3] und auf der anderen Seite kariesbedingte Zahnhartsubstanzverluste seit der Einführung fluoridhaltiger Zahnpasten massiv zurückgegangen sind. Diagnose. Die korrekte und frühzeitige Diagnostik dentaler Erosionen ist nach wie vor ein großes Problem. Definitionsgemäß spricht man bei einer Demineralisation von Zahnhartsubstanz von dentaler Erosion [1], welche jedoch klinisch kaum diagnostizierbar ist. Erst ab einem unwiederbringlichen Verlust von Zahnhartsubstanz, definiert als dentaler Zahnhartsubstanzverlust, [1] ist ein typisches klinisches Bild sichtbar. Erste Anzeichen, die an einen erosiven Zahnhartsubstanzverlust denken lassen sollten, sind glatte, matt glänzende Schmelzoberflächen zumeist gemeinsam auftretend mit okklusalen und/oder inzisalen Eindellungen der Zahnoberflächen (Abb. 1). Ein absolut sicheres Zeichen für erosiven Zahnhartsubstanzverlust ist an den bukkalen, labialen und auch palatinalen Flächen in Form einer intakten am Gingivarand verlaufenden Schmelzleiste kombiniert mit einer Eindellung zu finden (Abb. 2). Warum es zum Verbleib der Schmelzleiste kommt, kann zwei Gründe haben. Einerseits schützt die neutralisierende Sulkusflüssigkeit vor erosiv wirkenden Substanzen, andererseits behindert dort häufig vorkommende Plaque als Diffusionsbarriere das Vordringen der erosiven Substanz zur Zahnhartsubstanz. Bei Fortbestehen der erosiven Geschehnisse kommt es zur weiteren Eindellung und auch zur Abrundung der Okklusionsflächen im Seitenzahnbereich, wodurch bestehende Füllungen die Zahnhartsubstanz überragen und es schlussendlich zum Verlust der okklusalen Morphologie und infolgedessen der vertikalen Gesichtshöhe kommt (Abb. 3) [4]. Indizes. Für die klinische Diagnostik erosiver Zahnhartsubstanzdefekte sind verschiedene Indizes in Verwendung, wobei der Basic Erosive Wear Examination (BEWE) Index durch seine einfache und schnelle Schmelzoberflächen. Glatte, matt glänzende Schmelzoberflächen sowie inzisale Eindellungen der Zähne 11, 21 als Anzeichen eines erosiven Geschehnisses (Abb.1). Schmelzleisten. Intakte am Gingivarand verlaufende Schmelzleisten kombiniert mit Eindellungen an den bukkalen Flächen im 2. und 3. Quadrant als sicheres Zeichen eines erosiven Geschehnisses (Abb. 2). Fotos: Prof. Dr. Lussi ZBW 2/2016 www.zahnaerzteblatt.de

Fortbildung 105 Durchführung sowie durch seine Reproduzierbarkeit sowohl für epidemiologische Untersuchungen, aber auch für den klinischen Alltag geeignet ist [5]. Zudem ist der Index sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen gleichermaßen anwendbar. Bei der klinischen Befundaufnahme wird jedem Zahn, entsprechend dem Schweregrad des erosiven Erscheinungsbildes, eine Zahl zwischen 0 und 3 zugewiesen. Die jeweils höchsten Werte der einzelnen Sextanten werden zum BEWE-Gesamtwert addiert und ergeben den Schweregrad des erosiven Geschehnisses sowie auch eine Therapieempfehlung (Tabelle 1). Bei Kindern sind die Cutt-off Werte zur Definition des Schweregrads aufgrund des bereits im früheren Alter stattfindenden erosiven Zahnhartsubstanzdefektes niedriger [6]. Die klinische Diagnostik dentaler Erosionen ist im Gegensatz zur Diagnostik dentaler Zahnhartsubstanzverluste aufgrund der Tatsache, dass es sich um eine Demineralisation ohne Zahnhartsubstanzverlust handelt, bislang nicht möglich. Die Entwicklung optischer Geräte zur Früherkennung ist bereits vorangeschritten [7], jedoch deren breiter Einsatz im klinischen Alltag noch nicht absehbar. Insofern ist die rechtzeitige Erkennung von RisikopatientInnen bereits im Routinebetrieb einer zahnärztlichen Kontrolluntersuchung essentiell. Eine entsprechende allgemeinmedizinische Anamnese ist hierfür genauso wichtig wie die zahnmedizinische Anamnese und das Wissen um die oralen Hygienegewohnheiten, eine Dokumentation der Ernährungs- und Trinkgewohnheiten der PatientInnen sowie des Berufes und möglicher erosionsfördernder Gewohnheiten. Allgemeinmedizinisch sollte insbesondere auf ein gastroösophageales Refluxgeschehen mit Symptomen wie saurem oder bitterem Geschmack, saurem eventuell lautem Aufstoßen, einem aufgedunsenen Gefühl, Magenschmerzen, Sodbrennen, Schluckauf, chronischem Husten, Heiserkeit, Schluckstörungen, sowie chronischer respiratorischer und pulmonaler Probleme geachtet werden [8]. Ebenfalls aufgrund ihrer Gefahr für die allgemeinmedizinische Gesundheit der PatientInnen, aber auch aufgrund des Risikos für die Entstehung dentaler Erosionen und erosiver Zahnhartsubstanzverluste sollten Essstörungen mit vermehrtem Erbrechen wie Bulimie und Anorexie, aber auch Alkoholmissbrauch und der missbräuchliche Einsatz von Medikamenten rechtzeitig erkannt und interdisziplinär therapiert werden. Jedoch auch korrekt eingenommene Medikamente können wie zum Beispiel Acetylsalicylate, Eisentabletten und Vitamin-Tabletten entweder direkt erosiv wirken oder wie im Fall von Antiemetika, Antihistaminika und Anti-Parkinsonmedikamenten den Säure neutralisierenden Speichelfluss vermindern bzw. zum Reflux von Magensäure führen und infolgedessen ein erosives Potenzial aufweisen [9]. Mundhygienepraktiken. Zahnmedizinisch sollte auf erosionsfördernde Mundhygienepraktiken geachtet werden. Zu diesen zählen eine falsche Zahnputztechnik und bzw. oder die Verwendung von hoch ab- Okklusionsflächen. Eindellungen und Abrundungen der Okklusionsflächen im Seitenzahnbereich mit teilweisem Verlust der okklusalen Morphologie und in Folge Verlust der vertikalen Gesichtshöhe als Zeichen eines fortgeschrittenen erosiven Geschehnisses (Abb. 3). rasiven Zahnpasten. Die (Warte-)Zeit, die zwischen dem Konsum erosionsfördernder Lebensmittel oder Getränke und dem anschließenden Zähneputzen liegen sollte, ist insbesondere in den letzten Jahren immer wieder Thema unterschiedlichster Fachartikel und Publikationen gewesen. Entsprechend neuester Erkenntnisse ist jedoch von einer beabsichtigten Wartezeit zwischen dem Konsum von Nahrungsmitteln jeglicher Art und der anschließenden Mundhygiene abzuraten. Diese Kenntnis ergab sich durch Studien mithilfe von menschlichem Speichel, welcher selbst nach vier Stunden nicht zu einer klinisch relevanten Remineralisation der erosionsbedingten Demineralisation geführt hat [10]. Somit ist diese Wartezeit nicht nur klinisch nicht sinnvoll, sondern kann sogar in einer bakterienbedingten Demineralisation mit einer möglichen Kariesentwicklung enden. Die Erklärung der nicht stattfindenden Remineralisation durch humanen Speichel liegt in der Zusammensetzung des Speichels. Dieser enthält im Gegensatz zu künstlichem Speichel neben den zur Remineralisation nötigen Mineralien auch Proteine, welche ein Ausfällen dieser Mineralien verhindern. Ernährung. Die Ernährungs- und Trinkgewohnheiten der PatientInnen sollten mittels eines Ernährungstagebuches genau dokumentiert und abschließend besprochen werden. Die Dokumentation der zu sich genommenen Speisen und Getränke sollte sich möglichst über mindestens vier Tage erstrecken, wobei sowohl Arbeitstage als auch arbeitsfreie Tage angeführt werden sollten, da sich der Konsum von Speisen und Getränken zwischen diesen Tagen oftmals unterscheidet [11]. Sobald der Konsum erosionsfördernder Getränke und Speisen durchschnittlich häufiger als viermal pro Tag stattfindet, ist ein erhöhtes Risiko für das Auftreten erosiver Geschehnisse gegeben. Neben dem pH- Wert der konsumierten Nahrungsmittel oder Getränke sind insbesondere die Konzentration von Kalzium und Phosphat in den entsprechenden Produkten wichtig. Es www.zahnaerzteblatt.de ZBW 2/2016

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