34 Fortbildung Zahnärzte als wichtige Zeugen – Teil 1 Kindeswohlgefährdung erkennen Will man im Kinderschutz tätig sein, ist es essenziell, eine Kindeswohlgefährdung zu erkennen. Dafür ist es wichtig, Verletzungen oder andere Hinweise auf Spuren von Gewalt und Vernachlässigung zu detektieren sowie zu hinterfragen, ob Anamnese und Art des Befundes zusammenpassen. Dabei ist darauf zu achten, ob entsprechende Verletzungen durch einen Unfall plausibel erklärt werden können oder doch eine Misshandlung als Ursache in Betracht kommt. Im Verdachtsfall sollte eine zeitnahe und sorgfältige Dokumentation der Befunde erfolgen und überlegt werden, wie weiter verfahren werden soll. Dieser Beitrag beleuchtet daher neben der orientierenden Darstellung verschiedener Formen der Kindeswohlgefährdung bzw. Vernachlässigung, mit Fokus auf Verletzungen in Abgrenzung zu stoß- und sturztypischen Befunden, zudem Handlungsempfehlungen im Verdachtsfall. Gesetzliche Grundlage. Kinder sind auf mehreren Ebenen besonders schutzbedürftig. Für das Kindeswohl spielen dabei neben zahlreichen anderen Faktoren der familiäre Lebensraum, angemessener Umgang und Reak- tion auf kindliche Bedürfnisse und vor allem das Recht auf körperliche Unversehrtheit (BGB, § 1631, Abs. 2) eine bedeutende Rolle. Eine Kindeswohlgefährdung kann unter anderem in Form von Vernachlässigung und körperlicher Gewalt gegen das Kind vorliegen. Aufgrund besonders tragischer Fälle schwerster Kindeswohlgefährdung, die die dringende Notwendigkeit einer Verbesserung des Kinderschutzes offenlegten, ist das neue Bundeskinderschutzgesetz seit dem 1. Januar 2012 in Kraft getreten (http://www.bagkjs.de/media/raw/BGBl_ BKischG_28_12_2011.pdf). Ziel des Gesetzes ist ein deutlich verbesserter Kinderschutz. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts, Wirtschaft und Statistik, von Abb. 1a Abb. 1b Abb. 1c Unterblutungen. Vielfach musterartig geformte, frische Unterblutungen an beiden Gesichts-/Kopfseiten einschließlich der Ohrmuscheln bei einem Kleinkind als Zeichen von körperlicher Gewalt durch mehrfache einzeitige Einwirkungen eines entsprechend geformten Gegenstands (Schläge bzw. Fußtritte), zusätzlich eine vergleichsweise älter erscheinende Unterblutung am rechten Schläfenhaaransatz (Abb. 1a und b). Ohrmuschelunterblutung durch Schlageinwirkung gegen das Ohr. Ein solcher Verletzungsbefund ist durch einen gewöhnlichen kindlichen (Spiel) Unfall nicht zu erklären (Abb. 1c). Fotos: Dr. S. Etzold Abb. 1d Abb. 1e Misshandlungsbedingte geformte Verletzungen. Unterblutungen, anteilig mit geringer Schürfung am rechten Arm eines Kindes durch Schläge mit einem Handykabel. Die Verletzungen erscheinen frisch und gleich alt. Sie belegen somit eine mehrfache einzeitige stumpfe Gewalteinwirkung (Abb. 1d und e). ZBW 12/2019 www.zahnaerzteblatt.de
Fortbildung 35 Abb. 2a Abb. 2b Würgemale am Hals. Hier in Form von frischen Unterblutungen bei zwei unterschiedlichen Kindern, sind potenziell auch in der Zahnarztpraxis erkennbar. Die Beschaffenheit von Halshautverletzungen (z. B. temporäre Hautrötungen, Unterblutungen, Schürfungen) nach komprimierender Gewalt gegen den Hals (Würgen; Drosseln mit einem um den Hals gelegten Gegenstand) hängt von Art und Intensität der Gewalteinwirkung ab, auch die Dauer der Erkennbarkeit entsprechender Befunde resultiert daraus. Hinweisgebende Verletzungen, etwa Würgemale, können mitunter sehr diskret sein. Bekleidung oder um den Hals getragener Schmuck kann einen zusätzlichen Einfluss auf das resultierende Verletzungsbild haben. Darüber hinaus ist im Falle einer Halskompression (und auch Brustkorbkompression) zwingend das Vorhandensein von Petechien (Abb. 3a und b) zu überprüfen und zu dokumentieren (auch Negativbefunde!). Petechien im Kontext mit einer Halskompression treten (intensitätsabhängig) in der Gesichtshaut, der Lid- und Lidbindehaut, Lippenschleimhaut und Hinterohrregion auf. Cave: Petechien stellen sehr flüchtige Befunde dar, die bereits nach wenigen Tagen nicht mehr nachweisbar sein müssen (Abb. 2a und b). Fotos: Dr. S. Etzold März 2012 sind in den Jahren 2007 bis 2010 jährlich ca. 25.000 Fälle mit Kindeswohlgefährdung als Hauptgrund für begonnene Hilfen zur Erziehung für junge Menschen unter 18 Jahren erfasst worden. Definition. Das Kindeswohl umschreibt das gesamte Wohlergehen eines Kindes bzw. Jugendlichen inklusive seiner gesunden Entwicklung und beinhaltet u. a. die Versorgung, Fürsorge, Geborgenheit, Schutz, Wertschätzung und Akzeptanz sowie Förderung des Kindes. Es werden verschiedene Formen der Kindeswohlgefährdung unterschieden. Dabei ist vor allem bezüglich auftretender Verletzungen zu beachten, dass mitunter fließende Übergänge zwischen „kurz nicht aufgepasst“, „Nerven verlieren“ und „vorsätzlich erbrachter Verletzungen“ vorliegen. Körperliche Gewalt. Sichtbare Verletzungen infolge körperlicher Gewalt stellen äußerlich erkennbare Anzeichen auf eine Kindeswohlgefährdung dar. Bei massiveren Einwirkungen kann es auch zu knöchernen bzw. inneren Verletzungen kommen. Die korrekte Einordnung und Wertung von Verletzungsbefunden ist daher von großer Bedeutung – vor allem im Hinblick auf mögliche Handlungskonsequenzen. Schläge (mit Hand/Faust oder Gegenständen) und Tritte (Abb. 1a bis e), kraftvolles Festhalten, Gewalt gegen den Hals (Strangulation, Abb. 2a und b, 3a/b), Schütteln (Schütteltrauma), Bissverletzungen (Abb. 4a und b), thermische Einwirkungen wie Verbrühungen durch heiße Flüssigkeiten (Abb. 5a und b) oder Verbrennungen (Abb. 6a und b), z. B. auch durch Zigaretten, aber auch Vergiftungen erzeugen richtungsweisende Verletzungsbefunde bzw. Symptome. Zahnmedizinisch relevant können hier entsprechende Verletzungen auch im Zahn-, Mund- und Kieferbereich sein, da bei Frontzahntrauma (s. Abschnitt Anzeichen körperlicher Gewalt im zahnmedizinischen Bereich: Frontzahntrauma) die Zahnarztpraxis eine wichtige Anlaufstelle darstellt. Seelische Misshandlung. Diese kann u. a. in Ablehnung und Demütigung des Kindes Ausdruck finden. Diese ist deutlich schwerer als physische Gewalteinwirkungen zu erkennen, meist nur über einen zeitlichen Verlauf und im Zusammenhang mit auftretenden Verhaltensänderungen/- auffälligkeiten des Kindes. Dies ist ggf. also bei einem Kind, das sich in einem regelmäßigen Recall zur zahnärztlichen Kontrolle und Prophylaxe befindet, im Verlaufe der Zeit über ungewohnte Verhaltensänderungen/- auffälligkeiten des Kindes möglich. Körperliche und seelische Vernachlässigung umfasst fehlende oder mangelhafte Pflege und/oder Ernährung, Mangel an adäquater Bekleidung, aber auch Mangel an Liebe, Akzeptanz und Förderung. In diesem Kontext ist insbesondere die Frühkindliche Karies (bzw. Nuckelflaschenkaries) zu nennen, die durch fehlende oder mangelhafte Zahnpflege inklusive schädlicher Ernährungsgewohnheiten bedingt ist und als zahnmedizinisch höchstrelevanter „Pflegeschaden“ eingeschätzt werden muss. Kinderschutzhotline Bei der bundesweiten medizinischen Kinderschutzhotline Tel. 0800 19 210 00 kann sich seit Juli 2017 medizinisches Fachpersonal rund um die Uhr telefonisch (anonym) fachkundigen Rat im Falle von Verdacht auf Kindeswohlgefährdung holen. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 12/2019
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