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Verantwortung – in der Politik wie im Gesundheitswesen

Ausgabe 12/2019

30 Wissenschaft Foto:

30 Wissenschaft Foto: NASA/Goddard/Chris Gunn Keimflora von Reinräumen und Intensivstationen Mythos Sterilität Keimfreiheit ist eine Illusion, zumindest gilt das, wenn man sich in einem Raum bewegt. Dass man hier selbst mit den besten Desinfektionsmitteln schnell an seine Grenzen stößt, musste zu ihrem Erschrecken Anfang der Jahrtausendwende zuerst die amerikanische Raumfahrtbehörde erleben. Deren Wissenschaftler waren schon immer sehr gründlich gewesen, wenn es darum ging, in den Reinräumen im Kennedy Space Center in Florida nach potenziellen Krankheitserregern zu suchen. Schließlich hat sich die NASA zum Ziel gesetzt, keinesfalls irdische Mikroben zu fremden Welten mitzunehmen. In den 1990er-Jahren kamen erstmals Techniken auf den Markt, die eine gründlichere Fahndung ermöglichten. Mit Hilfe von 16S-rRNA-Genschnipseln ließen sich im Montageraum der Marsmissions-Fähre auch Erreger erkennen, die in der Petrischale bislang nicht wachsen wollten. Die neue Technik offenbarte: Der angeblich keimfreie Reinraum und damit auch das Schiff wimmelten von Bakterien. Ohne die Begleitung von Mikroben, gestand man sich damals in Florida ein, wird man wohl nie Richtung Sterne fliegen. Unbefriedigende Ergebnisse. Inzwischen musste die Wissenschaft an anderen sensiblen Orten ähnliche Debakel erleben. In Krankenhäusern oder Intensivstationen zum Beispiel lassen sich mit den bisherigen Hygien etechniken ebenfalls nur unbefriedigende Ergebnisse erreichen, auch das offenbarten die neuen Techniken. Ein Grund dafür ist, glaubt Jack Gilbert von der Scripps Institution of Oceanography der Universität California, dass es wahrscheinlich Keime gibt, die selbst die stärksten Desinfektionsmittel überleben. Noch wichtiger scheint aber ein anderes Phänomen zu sein: Im sogenannten Hospital Microbiome Project hat er verfolgt, wie Keime eine nagelneue Klinik beziehen. „Schon nach zehn Minuten“, hat der studierte Ökologe dabei gesehen, „ist das Krankenhauszimmer übersät mit den Bakterien des Patienten.“ Pro Stunde gibt jeder Mensch rund vier Millionen Mikroben in die Umwelt ab, die finden sich schnell auf sämtlichen Flächen in seiner Nähe. Und auch in älteren Räumen gilt: Innerhalb von Stunden verdrängen sie die vorhandenen Artgenossen; das Mikrobiom des Raums wird zunehmend „Rein-Zelt“. Das James-Webb-Weltraumteleskop der NASA wird am Goddard Space Flight Center in Maryland getestet. Bei der Haube, die wie ein Science-Fiction-Teleporter aussieht, handelt es sich um ein „Rein-Zelt”, welches das Teleskop beim Transport zum Schütteltest schützt. ZBW 12/2019 www.zahnaerzteblatt.de

Wissenschaft 31 identisch mit dem des darin Liegenden. Auch das hat Jack Gilbert bewiesen. „Wir müssen unseren Sterilitätsbegriff grundsätzlich überdenken“, sagt Gabriele Berg vom Institut für Umweltbiotechnologie der Technischen Universität Graz. „In dem Moment, in dem Menschen einen Raum betreten, gibt es keine Keimfreiheit mehr.“ Allerdings sind nicht alle Bakterien im gleichen Maß erfolgreich bei diesem Umsiedlungsprozess. Es sind vor allem die besonders zählebigen und anpassungsfähigen bakteriellen Überlebenskünstler, die sich auf nährstoffarmen und desinfektionsmittelreichen Krankenhausböden, -tischen und -bettkanten wohlfühlen. „Und das sind leider oft gerade die Bakterien, die uns Menschen den größten Schaden zufügen können“, sagt Jack Gilbert. So besitzen laut seiner Studie die Keime im Raum eine größere Vielfalt von Antibiotika-Resistenz-Genen als ihre engen Verwandten auf dem Körper des Patienten. Dreimal täglich werden auf deutschen Intensivstationen patientennahe Flächen mit Peressigsäure, Chlordioxid oder Wasserstoffperoxid gewischt. Der Fußboden alle 24 Stunden. Haben Berg und Gilbert recht, selektiert man damit gerade die Erreger, die man dort am wenigsten sehen möchte. die Räume, Betten und Möbel auf einer Intensivstation mit einer Chlorlösung desinfizieren; auf 93 Prozent der Oberflächen fanden sie und ihre Kollegen nachher trotzdem weiter bakterielle Biofilme. Diese Schleimschichten gelten als einer der entscheidenden Gründe für das Scheitern der bisherigen Hygienestrategien. In ihnen haben sich die Mikroben als kleine, arbeitsteilige Kommunen organisiert, in der sie sich gegenseitig schützen und unterstützen. Ähnlich, glauben Berg und Gilbert, sind aber auch die Bakterien im gesamten Raum oder auf der Oberfläche eines Tischs zu verstehen. Als Mikro biom, als mikrobielle Gemeinschaft, deren Mitglieder untereinander kommunizieren, sich aber gleichzeitig auch gegenseitig kontrollieren. Auf dem beschränkten Platz, den man sich teilen muss, sorgt das Kollektiv stets dafür, dass kein Stamm die Oberhand gewinnt. Teil dieses Sozialsystems sind laut Ansicht der Grazer Biologin stets Keime, die Gene für Antibiotika-Resistenzen in sich tragen. „Sie stellen eine Art gemeinsame Lebensversicherung dar“, sagt die Wissenschaftlerin, weil sie diese Erbgutabschnitte im Bedarfsfall an die Nachbarn weiterreichen. Reinräume. Ähnliches war in diesem Februar auch in einem Bericht von Gabriele Berg in der Fachzeitung Nature Communications zu lesen. Die Biologin hat die Keimflora von Intensivstationen und Reinräumen mit der von ganz normalen Zimmern verglichen. Und festgestellt: Mikroben, die für gefährliche Infektionen prädestiniert sind oder Antibiotikaresistenzen besitzen, fanden sich am häufigsten dort, wo angeblich die strengste Sauberkeit herrschte. In Räumen, in denen auf Sterilität kein Wert gelegt wird, so zeigte Berg in ihrer Studie, sind solche Survivors viel seltener zu finden. „In den letzten 150 Jahren hat der Mensch nur einen Weg gekannt, um sich gegen die Ausbreitung von Bakterien in seinen Wohnungen und Krankenhäusern zu wehren: Indem er alles egal ob harmlos oder nicht , was sich dort an Mikroben regte, vernichtet hat“, sagt Jack Gilbert. Inzwischen gebe es aber zahlreiche Belege dafür, dass dieser Kill-all-Ansatz, wie er ihn nennt, nicht zu den gewünschten Ergebnissen führe. Zweimal ließ Helen Hu vom Department of Biomedical Sciences der australischen Macquarie Universität Nutzlastverkleidung. In der Nutzlastverarbeitungsanlage von Astrotech in der Nähe des Kennedy Space Center der NASA in Florida hebt eine Hebevorrichtung die Nutzlastverkleidung der Atlas-Trägerrakete. Sie schützt das Raumfahrzeug vor den Auswirkungen von aerodynamischem Druck und Erwärmung während des Aufstiegs und wird abgeworfen, sobald sich das Raumfahrzeug außerhalb der Erdatmosphäre befindet. Foto: NASA/Frank Michaux Desinfektionsmittel. Ertränkt der Mensch dieses eingespielte System nun in Desinfektionsmitteln, wird das Gleichgewicht der Kräfte zerstört, so die Theorie. Weil die Attacke vor allem diejenigen Bakterien überleben, die von Natur aus solche Resistenzen besitzen. Denn dieselben DNA-Sequenzen können die Mikroorganismen oft auch nutzen, um sich gegen Desinfektionsmittel zu wehren. Sie enthalten zum Beispiel die Baupläne von Pumpen, mit denen sie alle möglichen schädlichen Substanzen aus den Zellen transportieren. Die Hygienemaßnahme erledigt vor allem weniger gefährliche Erreger, mit denen sie um Nahrung und Platz konkurrieren. Und verschafft denen damit freie Bahn, um sich richtig auszubreiten. Nicht nur Gabriele Berg vertritt deshalb die Meinung: Die bisherigen Hygienestrategien müssen dringend überarbeitet werden. „Was wir bislang gemacht haben, ist antibiotikaresistente Bakteriengemeinschaften zu züchten.“ Die Idee: Statt mit Desinfektionsmitteln nach der Devise „nur ein totes Bakterium ist ein gutes Bakterium“ zu verfahren, könnte man die Mikrobenkommune www.zahnaerzteblatt.de ZBW 12/2019

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