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Umfangreichster Koalitionsvertrag aller Zeiten

Ausgabe 4/2018

16 Titelthema Kommentare

16 Titelthema Kommentare zum Koalitionsvertrag und zur neuen Regierung Sieht so eine Portion Freude aus? Am 14. März wurde mit der 23. Kanzlerwahl das Interregnum beendet; Deutschland hat wieder eine Regierung, die laut Koalitionsvertrag mit Aufbruch, Dynamik und Zusammenhalt punkten will. Doch diese sogenannte GroKo hat mit genau neun Stimmen über der absoluten Mehrheit keinen besonders schwungvollen Start hingelegt. Skeptisch macht auch die Sollbruchstelle: Nach zwei Jahren kommt laut gemeinsamer Vereinbarung die Zusammenarbeit auf den Prüfstand. Sind das gute Voraussetzungen für eine gedeihliche Regierungsarbeit? kommentierte am Tag der Kanzlerwahl: „So wichtig es war, dass Deutschland in Europa und der Welt mit dieser kleinen großen Koalition wieder handlungsfähig wird, so wichtig wird es jetzt sein, dass Union und SPD programmatisch und personell ihre Ladenhüter aus dem Schaufenster räumen und neue Angebote unterbreiten, die ins 21. Jahrhundert passen“. Ein Blick in die Leitmedien der Republik und in Zeitungen aus Baden-Württemberg macht deutlich, dass die politischen Beobachter und Kommentatoren die neue Regierung mit Skepsis begleiten und von einer „Zwangsehe“ sprechen. Dies auch angesichts des von Angela Merkel vorgebrachten Wunsches nach einer „Portion Freude am Gestalten“, der ruhig als Seitenhieb auf die SPD verstanden werden darf, die sich schwergetan hat mit dieser vierten große Koalition. „Aufbruch sieht anders aus“, schreibt Jörg Seisselberg vom ARD-Hauptstadtstudio Berlin den Großkoalitionären ins Stammbuch, die bei der Unterzeichnung des Koalitionsvertrages in seinen Augen so wirkten, „als hätten sie keine Lust mehr. Das ist schade – denn so schlecht ist der Vertrag nicht.“ Der ARD-Mann attestiert den drei Regierungsparteien einen „guten Plan“ zu haben, der, wenn er denn konsequent umgesetzt wird, dafür sorgen könnte, dass „es den Menschen in Deutschland in vier Jahren besser gehen wird“. Seiner Ansicht nach ist die GroKo „auf dem sozialen Auge nicht blind, senkt endlich mal einige Steuern und Abgaben (und das glücklicherweise nicht mit der Gießkanne), dreht an ein paar Stellschrauben im Bereich Migration und Sicherheit, setzt ohne Wenn und Aber auf Europa und widmet das längste Kapitel des Koalitionsvertrags dem Thema Digitalisierung“. Strenger geht Stefan Kuzmany von Spiegel-Online mit der neu gebildeten Regierung um. Am 14. März schreibt er unter der Überschrift „Heimatmuseum GroKo – Die Zukunft bleibt aufgeschoben“: „Die heute startende neue Große Koalition ist kein Zukunftsprojekt. Sie weist nostalgisch zurück in eine Zeit, in der die Welt scheinbar noch in Ordnung war. Sie ist im Grunde schon an ihrem ersten Tag Vergangenheit“. Er weist darauf hin, dass sich die Weltpolitik gewaltig verändern wird in den noch verbleibenden dreieinhalb Jahren Regierungszeit. Aber die Großkoalitionäre träumen seiner Ansicht nach vom Status quo ante: „Die Grenzen wieder dicht, die Flüchtlinge wieder daheim, Europa wieder eine Union, die Arbeitslosen wieder in Arbeit und das deutsche Auto weltweit führend, so war es, und so soll es wieder werden“. Ähnlich sieht das der Parlamentskorrespondent der Stuttgarter Zeitung Thomas Maron. Er Majid Sattar, politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen (FAZ) durchleuchtet die Krise in der SPD und schreibt am 10. März unter der Überschrift „Neue Führung, alte Probleme“: „Deshalb marschieren die Sozialdemokraten nun nach quälend langen Debatten, in denen zwei ihrer Führungsleute aus unterschiedlichen Gründen von Bord gehen mussten, mit hängenden Schultern in die staatspolitische Verantwortung. Viele Sozialdemokraten, einfache Mitglieder wie Funktionäre, erwarten von der dritten großen Koalition vor allem eine Fortsetzung ihrer eigenen Verzwergung. Als wäre es eine Gesetzmäßigkeit. Die Wahlergebnisse scheinen dafür zu sprechen. Und diverse Parteiführungen haben es lange genug der Basis und sich selbst eingeredet.“ Auch sein Kollege macht sich Sorgen um den Zustand der ältesten Partei Deutschlands: Angesichts der Ministerliste fragte Jasper von Altenbockum ob die SPD wohl „als Schlachtross“ oder in Form eines „Potemkinschen Dorfs“ in die Regierung geht. Er attestiert der 155 Jahre alten Partei, dass ihr der Mittelbau fehlt, „auf den sie sich verlassen kann, zumal in Zeiten der (wie oft schon angekündigten?) ,Erneuerung‘. Oben regieren die Kabinettsmitglieder, die Fraktionsführung und die Ministerpräsidenten, unten ZBW 4/2018 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 17 warten Kommunalpolitiker darauf, dass die Partei zur Besinnung kommt – vor allem in Fragen der Migration, der Integration und der Wirtschaft.“ Malte Lehming vom Berliner Tagesspiegel findet nichts dabei, wenn es an der Spitze des Staates ein bisschen weniger aufgeregt zugeht. Schon am 7. Februar war in seinem Blatt zu lesen: „Weiter so! Warum auch nicht? In einem Land mit rund sechs Prozent Arbeitslosigkeit, sprudelnden Steuereinnahmen, florierender Exportwirtschaft und steigenden Löhnen hält sich die Sehnsucht nach revolutionärer Politik in Grenzen. Bis auf die Dänen, das glücklichste Volk der Welt, werden die Deutschen von allen anderen beneidet. Wer dennoch das Bedürfnis nach eruptiver Politik verspürt, möge sich zurückerinnern an Finanzkrise, Atomausstieg, Flüchtlingswelle, Brexit, Trump-Wahl. Bedürfnis gedeckt, oder?“ Das neue Kabinett genauer unter die Lupe nimmt Torsten Krauel von der Welt. Er steht noch unter dem Eindruck der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, der betonte, dass sich diese Regierung „neu und anders bewähren“ muss: „Es ist ein bemerkenswertes Kabinett. Fünf der 15 Ressortchefs gehören nicht dem Bundestag an, darunter auch der älteste je ernannte Bundesinnenminister. Horst Seehofer ist 68 Jahre alt, Otto Schily war vor bald 20 Jahren bei der Ernennung 66. Ferner gibt es einen Gesundheitsminister, Jens Spahn, der seine Premiere als Bundesminister mit 37 erlebt – im gleichen Alter wie die einstigen Nachwuchsstars der Union, Gerhard Stoltenberg und Karl-Theodor zu Guttenberg.“ Häufig Gegenstand der Kommentare ist der junge Gesundheitsminister Jens Spahn, der schon vor seiner Vereidigung aneckte und dem man wegen seiner Äußerungen zu Hartz IV schon mal die Kabinettstauglichkeit absprach. Von Spiegel-Kommentator Florian Gathmann wird er als „Geschenk für die SPD“ bezeichnet. Mit provokanten Äußerungen will „Medien-Profi“ Spahn nach Ansicht des Spiegel-Journalisten „provozieren, Debatten führen, auch wenn er sich dabei Schrammen holt“. Dass die SPD solche Debatten nutzt, um die „Unterscheidbarkeit der Koalitionäre herauszustellen“, macht Spahn zu einem„ Gottesgeschenk“ für die Sozialdemokraten. Dass der Gesundheitsminister auch nach Amtsantritt noch häufig Gelegenheit haben wird, außerhalb seines Ressorts zu provokanten Debatten beizutragen, bezweifelt der Kommentator: „Wer sich in den Untiefen der deutschen Gesundheitspolitik ein bisschen auskennt, ist da weniger optimistisch – da hat der künftige Minister genügend zu tun. Aber bislang war auf Jens Spahn noch immer Verlass, wenn es um ein knackiges Zitat ging“. Werner Kolhoff vom Mannheimer Morgen meint, dass mit dem deutlich verjüngten Kabinett (Durchschnittsalter 51 Jahre) ein neuer „Stil in Sicht“ kommt. Er hofft darauf, dass der gesunkene Altersdurchschnitt „für etwas kritischere Debatten über eine Rentenpolitik, die zu Lasten der jüngeren Generation geht“, sorgen wird. Auch für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und für eine „realistischere Integrationspolitik“ erwartet er von den Jungen „weniger Zampano, mehr Teamarbeit.“ Die Altgedienten in der Regierung müssen umlernen: „Auch Angela Merkel selbst, neben Peter Altmaier und Ursula von der Leyen die einzige langjährige Konstante in diesem Kabinett, hat bezüglich ihrer Kommunikationskultur Nachholbedarf. Sie hat ihren Kurs in der Flüchtlingsfrage nicht erklärt, jedenfalls nicht denen, die sich damit schwertun. Sie ist Konfliktthemen ausgewichen und hat die Wahlkämpfe regelrecht entpolitisiert.“ Ferdos Forudastan, die neue Chefin des Ressorts Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung konstatierte am 14. März, dass die Koalitionspartner gute Gründe haben, „fair und fruchtbar“ miteinander zu streiten: „Die Bündnispartner müssen zwar rasch damit beginnen, möglichst gut zusammenzuarbeiten. Aber eine gute Zusammenarbeit schließt den Streit nicht nur nicht aus – sie schließt ihn ein. Gewiss, die große Koalition plant nicht, das Übel sozialer Schieflagen an der Wurzel zu packen. Aber sie stellt sich einer Reihe von Aufgaben, die, sorgsam abgearbeitet, den Alltag etlicher Menschen etwas erleichtern würden: Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gehören dazu, Rentner, Familien, Schüler oder Wohnungssuchende.“ Gewohnt pointiert ist der Kommentar von Heribert Prantl im gleichen Medium, der meint, dass es nicht genügt „Erneuerung zu behaupten. Das Land muss sie spüren.“ Gleichzeitig weist er darauf hin, dass es sich bei der aktuellen Regierung wohl um Merkels Schwanengesang handelt: „Die Regierung, die nun angetreten ist, ist eine Übergangsregierung; sie ist der Übergang zur Nach- Merkel-Zeit; sie stellt die Weichen zu neuen politischen Konstellationen. Mit nunmehr drei großen Koalitionen seit 2005 soll und muss es genug sein.“ D. Kallenberg » info@zahnaerzteblatt.de www.zahnaerzteblatt.de ZBW 4/2018

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