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Ausgabe 5/2018

26 Fortbildung Als

26 Fortbildung Als Risikogruppe oft nicht wahrgenommen Psychisch kranke Kinder und Jugendliche mit schlechter Mundgesundheit Psychische Auffälligkeiten und Störungen betreffen in Deutschland etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen (1, 2). Sie gehen mit erheblichen Beeinträchtigungen des familiären, schulischen und erweiterten sozialen Umfelds sowie der somatischen Gesundheit und der Lebensqualität einher (3, 4). Trotz dieser hohen Prävalenz psychischer Störungen konzentrieren sich Literaturquellen zur Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen auf die Krankheitsbilder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und Autismus und sind darüber hinaus beschränkt und widersprüchlich. Einige Studien berichten von einem höheren Kariesbefall (5-10) und einer schlechteren Mundhygiene (8, 10-12), andere beobachteten keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu Kindern und Jugendlichen ohne ADHS oder Autismus (13-15). Obwohl es keinen direkten Mechanismus zu geben scheint, wie psychische Störungen eine schlechtere Mundgesundheit verursachen, können typische Verhaltensmuster wie Einschränkungen in der Kommunikationsfähigkeit, Nachlässigkeit, Neigung zu Selbstverletzungen, zahnschädigende Ernährungsgewohnheiten, Nebenwirkungen von psychotropen Medikamenten, Widerstand gegenüber der zahnärztlichen Behandlung, abnorme Schmerzempfindlichkeit oder Schwierigkeiten in sozialen Kontakten indirekt die Mundgesundheit negativ beeinflussen (16) (Abb. 1). Im Gegensatz zur begrenzten Datenlage über die Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen liegen zahlreiche Studien vor, die einen schlechteren Mundgesundheitsstatus und erhöhten zahnärztlichen Behandlungsbedarf bei Erwachsenen mit psychischen Störungen im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung belegen (17-20). Die Mundgesundheit hat in dieser Patientengruppe keine hohe Priorität, obwohl sie die Nahrungsaufnahme, das Sprechen und Aussehen, die soziale Einbindung, das Selbstwertgefühl und die Lebensqualität beeinflusst (21-24). Abb. 1 Orale Situation einer 16-jährigen Patientin mit phobischer Störung sowie Belastungsstörung weist einen ausgeprägten Karies- und Plaquebefall, eine hohe Kariesaktivität sowie Gingivitis auf (Abb. 1). Foto: Frau Prof. R. Heinrich-Weltzien Erhöhtes Risiko. Aufgrund des erhöhten Risikos für orale Erkrankungen von erwachsenen Patienten mit psychischen Störungen ist es wichtig, die Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten zu erfassen und zu verbessern, da im Kindes- und Jugendalter auftretende psychische Störungen bis ins Erwachsenenalter chronifizieren können (25, 26). Weiterhin können anhand der mundgesundheitsbezogenen Lebensqualität (MLQ) Auswirkungen oraler Probleme auf die oralen Funktionen sowie das soziale und emotionale Wohlbefinden (27) quantifiziert und damit die klinischen Mundgesundheitsparameter ergänzt werden. Bislang lagen zur MLQ von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen im Schrifttum keine Daten vor. Da psychische Störungen aus der Kindheit oft bis ins Erwachsenenalter persistieren (25), könnte eine frühzeitige präventiv orientierte Mundgesundheitspflege im Kindes- und Jugendalter dazu beitragen, die Krankheitslast im Erwachsenenalter zu reduzieren. Die Entfernung des Biofilms (dentaler Plaque) ist die kausale Maßnahme per se zur Vorbeugung der oralen Erkrankungen Karies und Gingivitis (28, 29). Für die Empfehlung zwei Mal täglich mit einer fluoridhaltigen Zahnpasta die Zähne zu reinigen, gibt es eine starke Evidenz (30). Die regelmäßige Durchführung einer sorgfältigen Mundhygiene ist, insbesondere bei stationären kindlichen Patienten, nicht immer sichergestellt (31), da die oralen Probleme und die Mundhygiene von den allgemeinen gesundheitlichen Problemen verdrängt werden (32, 33). Dennoch sollte der stationäre Aufenthalt als Chance genutzt werden, Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen zu erreichen und neben einer Mundgesundheitserziehung auch ein individualisiertes Putztraining anzubieten, um mit den Elementen Wissen, Wollen und Können die Zahnreinigung durch Entfernung des dentalen Biofilms zu verbessern. Klinische Studie. In einer kontrollierten klinischen Studie verfolgten die Autoren das Ziel, erstmalig den Mundgesundheitsstatus und die MLQ von 6- bis 17-jährigen stationären psychiatrischen Patienten zu erfassen (34). Insgesamt nahmen 162 Kinder und Jugendliche ZBW 5/2018 www.zahnaerzteblatt.de

Fortbildung 27 Kariesprävalenz im Milch- und bleibenden Gebiss 100% 80% 60% 40% 20% 0% Abb. 2 85,7 61,2 69,4 22,4 60,5 27,7 56,8 dmft>0 dt>0 DMFT>0 DT>0 KJP 56,8 Kariesprävalenz im Milch- und bleibenden Gebiss bei Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) im Vergleich zur psychisch unauffälligen Kontrollgruppe (KG) in % (Karieserfahrung: dmft/DMFT, unbehandelte Karies: dt/DT) (Abb. 2). teil, davon 81 stationäre Patienten der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Jena im Alter zwischen 6 und 17 Jahren. Das Auftreten von Karies und Gingivitiden in dieser Studienpopulation wurde mit 81 gesunden Gleichaltrigen verglichen, wobei jedem psychiatrischen Patienten ein gesunder Patient der Poliklinik für Präventive Zahnheilkunde und Kinderzahnheilkunde gleichen Geschlechts und Alters zugeordnet wurde. Die MLQ spiegelt die subjektiven funktionellen, sozialen und emotionalen Einflüsse der Mundgesundheit auf das allgemeine Wohlbefinden wider. Sie wird mit speziellen validierten Fragebögen erhoben und quantifiziert. In der vorliegenden Studie wurde die MLQ der psychiatrischen Patienten mit dem CPQ-G11-14-Fragebogen gemessen und mit bundesdeutschen Referenzwerten (35) verglichen. Die Fragen bezogen sich auf die letzten drei Monate und lauteten beispielsweise „Wie oft wolltest/konntest du wegen Mundproblemen dem Schulunterricht nicht aufmerksam folgen?“, „Wie oft hast du vermieden zu lächeln, wenn andere Kinder dabei waren?“ oder „Wie oft hattest du Schwierigkeiten beim Kauen fester Nahrung?“. Mit diesen Fragen werden die verschiedenen Aspekte der Beeinträchtigungen (Subdomains: orale Symptomatik, funktionelle Einschränkungen, emotionales und soziales Wohlbefinden) erfasst. Kariesprävalenz. In Übereinstimmung mit dem Schrifttum (5, 7, 9, 10) waren sowohl die Kariesprävalenz als auch der Kariesbefall bei psychisch kranken KG Patienten in beiden Dentitionen signifikant höher als bei gesunden Gleichaltrigen (Abb. 1). Von den psychisch kranken Patienten waren insbesondere diejenigen mit den Diagnosen „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“ oder „Akute belastende Lebensereignisse“ am stärksten von Karies betroffen. Sie wiesen auch den höchsten Anteil unbehandelter kariöser Läsionen in beiden Dentitionen auf (Abb. 2). Gingivitiden traten bei 56,8 der psychiatrischen Patienten auf. Sie waren mit einem signifikant höheren Kariesbefall im permanenten Gebiss assoziiert. Obwohl es keinen direkten Mechanismus zu geben scheint, wie akuter oder chronischer Stress eine Karies oder Gingivitis hervorruft, beeinflussen Stressoren indirekt die Mundgesundheit. In Stress-Situationen fokussieren Kinder und Jugendliche sowie deren familiäres Umfeld auf den Umgang mit den Stress auslösenden Problemen, wodurch mitunter triviale Dinge wie die tägliche Mundhygiene vernachlässigt werden. Einige Studien legen nahe, dass sogenannte widrige Kindheitserfahrungen (adverse childhood experiences) wie Kindesmisshandlung, Vernachlässigung, Scheidung der Eltern, häusliche Gewalt, psychische Erkrankung der Bezugsperson, Gefängnisaufenthalt der Bezugsperson, Exposition zu Drogen- oder Alkoholmissbrauch sowie ein niedriges Familieneinkommen als toxische Stressoren negative Auswirkungen auf die Mundgesundheit haben (36, 37). Stationäre Patienten. Die MLQ von stationären kindlichen und jugendlichen Patienten mit psychischen Erkrankungen war im Vergleich zu ihren gesunden Altersgefährten nicht beeinträchtigt (Abb. 3). Signifikante Unterschiede wurden jedoch bei der Analyse der Subdomains „Orale Symptomatik“, „Funktionelle Einschränkungen“, „Emotionales Wohlbefinden“ und „Soziales Wohlbefinden“ offensichtlich. Bei Patienten mit psychischen Erkrankungen wurden einerseits stärkere Beeinträchtigungen der oralen Symptomatik und funktionellen Einschränkungen und andererseits deutlich geringere Beeinträchtigungen des emotionalen und sozialen Wohlbefindens beobachtet (Abb. 4). Die stärkere Beeinträchtigung der Subdomains „Orale Symptomatik“ und „Funktionelle Einschränkungen“ erklärt sich durch die höhere Prävalenz unbehandelter kariöser Läsionen und von Gingivitiden bei Patienten mit psychischen Erkrankungen im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen. Zur geringeren Beeinträchtigung des emotionalen und sozialen Wohlbefindens können typische Verhaltensweisen psychisch kranker Patienten wie die Verdrängung der oralen Probleme, die Priorität anderer Probleme oder die im Rahmen ihrer psychiatrischen Therapie erlernten Bewältigungsstrategien im Umgang mit emotionalen Problemen und widrigen sozialen Umständen beigetragen haben. Daher begründet sich das bessere subjektive Empfinden von emotionalen und sozialen Komponenten der MLQ bei Patienten mit psychischen Erkrankungen keineswegs mit einer besseren Mundgesundheit. Im Gegenteil, auch Patienten mit diagnostizierter Karies oder Gingivitis glichen die Beeinträchtigungen durch orale Probleme mit emotionalem und sozialem Wohlbefinden aus (Abb. 3). Auch bei gesunden Kindern und Ju- www.zahnaerzteblatt.de ZBW 5/2018

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