24 Politik Deutsche Fragen – Deutsche Antworten Volksparteien in der Abwärtsspirale? Der Tiefpunkt ihres Ansehens scheint zwar überwunden zu sein. Sowohl Union als auch SPD arbeiten aber sozusagen auf Bewährung. Die Neigung, unter dem Eindruck der aktuellen Entwicklung und Situation zu extrapolieren, ist in der Regel groß. Das gilt auch für die Prognosen zur Zukunft der Volksparteien, insbesondere der SPD. Seit der Bundestagswahl gilt vielen als ausgemacht, dass die Zeiten endgültig vorbei sind, in der eine der Volksparteien mit einem kleinen Partner eine Mehrheitsregierung bilden konnte. Der SPD wird sogar teilweise eine Zukunft vorhergesagt, in der sie von ihrer Stärke und Struktur her nicht mehr den Anspruch erheben kann, Volkspartei zu sein, sondern sich in die größer werdende Phalanx kleiner Parteien einreihen muss. Die Mehrheit der Bürger glaubt zurzeit, dass die Zeit der großen Volksparteien vorüber ist. 51 Prozent sind überzeugt, dass ihre Schwächung nachhaltig ist, während nur knapp jeder Dritte von einer vorübergehenden Schwächephase und nachfolgenden Erholung ausgeht. Die Anhänger der SPD sind hier wesentlich skeptischer als die der Unionsparteien. Die langfristige Entwicklung der Volksparteien bei Bundestagswahlen scheint diese These auf den ersten Blick zu bestätigen. Zwischen der Mitte der sechziger und Mitte der achtziger Jahre erreichten Union und SPD zusammen bei Bundestagswahlen stolze, ja fast erdrückende 87 bis 91 Prozent. Zwischen 1990 und 2002 bewegte sich der Anteil der Stimmen für die Volksparteien zwischen 76 und 78 Prozent. Dies bildet einen bemerkenswerten Kontrast zu den letzten vier Bundestagswahlen, bei denen der Rückhalt für die Volksparteien zwischen 70 und 53 Prozent schwankte. Diese vier Wahlen zeigen keinen eindeutigen Trend: 2005 mussten Union und SPD zusammen einen Verlust von sieben Prozentpunkten hinnehmen, 2009 dann von weiteren 13 Prozentpunkten; 2013 legten sie dagegen wieder 10 Prozentpunkte zu, verzeichneten dann aber 2017 mit 14 Prozentpunkte ihren stärksten Verlust. Die starken Verluste von 2009 trafen primär die SPD, 2017 gab es vor allem Einbußen der CDU/CSU; beides ist ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte. Grundhaltung. Die starken Schwankungen werden oft als Ergebnis volatilerer Einstellungen und Prioritäten in der Bevölkerung interpretiert. Die Grundhaltung der Bevölkerung ist jedoch bemerkenswert stabil. Politische Prioritäten und Erwartungen an eine Regierung ändern sich im Allgemeinen nur parallel zu einschneidenden Ereignissen und Veränderungen der aktuellen Lage. In solchen Situationen können auch die Parteipräferenzen stark in Bewegung geraten, dann nämlich, wenn die Volksparteien aus der Sicht vieler Bürger nicht angemessen reagieren oder eine spezifische Koalitionskonstellation ihrem Eindruck nach nicht zu den Herausforderungen passt. Letzteres war 2009 der Fall. Zwischen 2005 und 2009 stand für die Bevölkerung die wirtschaftliche Erholung und Belebung des Arbeitsmarktes im Mittelpunkt; eine Fortsetzung der großen Koalition hielten viele für weniger ideal als ein schwarz-gelbes Bündnis. Die Wahl von 2013 war dagegen zum einen von dem jahrelangen Aufschwung geprägt, zum anderen von dem unglücklichen Agieren der FDP, die sich in der Koalition völlig diskreditiert hatte. Beide Volksparteien legten zu, besonders die Union, die mit 41,5 Prozent ein Ergebnis erzielte wie zuletzt in der Mitte der neunziger Jahre. Bis Mitte 2015 änderte sich an den Parteipräferenzen nur wenig. Noch im Sommer 2015 hatten die Volksparteien die Unterstützung von zwei Dritteln der Wahlberechtigten. Nichts deutete auf eine starke Dezimierung hin. Flüchtlingszustrom. Unter dem Eindruck des Flüchtlingszustroms änderte sich die Agenda der Bevölkerung. Die Kontrolle und Steuerung von Migration sowie innere Sicherheit wurden zu zentralen Anliegen und damit zu einem wesentlichen Kriterium für die Bewertung der Regierungsleistung. Beide Volksparteien hielten nach diesen Kriterien der Prüfung nur unzureichend stand. Das gilt insbesondere für die Unionsparteien, die an sich am ehesten als Garanten von innerer Sicherheit und einer Einwanderungspolitik mit Augenmaß galten. Gerade hier büßten CDU und CSU jedoch erheblich an Vertrauen ein. Dies führte zu Stimmverlusten, wie sie die Unionsparteien noch nicht erlebt hatten; gravierender als dieser Verlust ist jedoch die veränderte Konkurrenzsituation. Während der SPD erst durch die Grünen, dann durch die Linke Konkurrenz erwuchs, sieht sich die CDU/CSU zum ersten Mal einer ernstzunehmenden Konkurrenz von rechts ausgesetzt. Es liegt nahe, von einer andauernden Schwächung der Volksparteien auszugehen. Einiges deutet jedoch darauf hin, dass beide unter ihren Möglichkeiten bleiben. 42 Prozent der Wahlberechtigten können sich zurzeit vorstellen, bei der nächsten Bundestagswahl die Union zu unterstützen, 32 die SPD. Diese Potenziale werden zwar nie ausgeschöpft. Es ist jedoch bemerkenswert, dass sie heute nur marginal unter denen im Wahljahr 2013 liegen, in dem beide Volksparteien ein signifikant besseres Ergebnis erzielten. Bemerkenswertes Umdenken. Die Vision, dass die Volksparteien dauerhaft geschwächt sein könnten, ist auch für die Mehrheit der Bürger keineswegs verheißungsvoll. Hier hat es jüngst ein bemerkenswertes ZBW 5/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Politik 25 Umdenken gegeben. Unmittelbar nach den Wahlen von 2009 und auch 2017, aus denen beide Volksparteien geschwächt hervorgingen, sah die Mehrheit die Entwicklung relativ entspannt. So waren noch Anfang Oktober 2017 nur 27 Prozent der Bürger überzeugt, dass eine Schwächung der Volksparteien dem Land insgesamt schadet. Jetzt glauben dies 50 Prozent. Die langwierigen und am Ende gescheiterten Jamaika-Verhandlungen und die folgende mühsame Einigung auf die Fortsetzung der großen Koalition haben vielen den Wert starker Volksparteien vor Augen geführt. So ist die überwältigende Mehrheit überzeugt, dass eine Schwächung der Volksparteien generell die Regierungsbildung erschwert, extreme Parteien stärkt und Zweier-Koalitionen unwahrscheinlicher macht. 76 Prozent glauben, dass die Regierungsbildung dann schwerer wird, 62 Prozent, dass extreme Parteien gestärkt werden. Die Mehrheit ist darüber hinaus überzeugt, dass die Stabilität von Regierungen leidet, wenn die Volksparteien schwächer werden, und dass es immer schwieriger wird, sich auf größere Reformvorhaben zu verständigen. Es ist auch nicht so, dass sich die Profile der Volksparteien in den Augen der Bürger bis zur Unkenntlichkeit angleichen, wie oft vermutet wird. Viel mehr stehen beide Parteien nach dem Eindruck der Bürger für eine ganz unterschiedliche politische Agenda: die Union für eine Stärkung der Wirtschaft, europäische Integration, die Stabilisierung der Währung, solide Staatsfinanzen und neuerdings zunehmend wieder innere Sicherheit, die SPD für Mindestlöhne, soziale Gerechtigkeit, die Verteidigung des Sozialstaates, Toleranz gegenüber anderen Kulturen, Gleichberechtigung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Wertekanon. Auch unabhängig davon hat die Bevölkerung klare Vorstellungen vom sozialdemokratischen Wertekanon. So zählt die überwältigende Mehrheit gleiche Bildungs- und Aufstiegschancen für alle zu den wichtigsten sozialdemokratischen Werten und Anliegen, den Schutz von Arbeitnehmerrechten, die Unterstützung von sozial Schwachen, die Förderung von Familien und die Verringerung sozialer Unterschiede. Und die Mehrheit ist davon überzeugt, dass dieser Kanon noch zeitgemäß ist. Knapp zwei Drittel der Bürger halten sozialdemokratische Ziele und Werte auch heute für wichtig und zeitgemäß, nur 17 Prozent für überholt. Ob die Agenda, die den Volksparteien zugeordnet wird, ihnen bei Wahlen starken Rückhalt sichert, hängt wesentlich davon ab, wie die aktuellen politischen Herausforderungen beschaffen sind und wie weit die Agenda zu diesem Umfeld passt. So positiv die meisten die sozialdemokratische Agenda bewerten, bot sie in weiten Teilen keine zufriedenstellenden Antworten für die Sorgen der Mehrheit über die Entwicklung von Migration, innerer Sicherheit und Terror. So ist der Kampf gegen Kriminalität nach Überzeugung der großen Mehrheit weder Bestandteil des sozialdemokratischen Wertekanons noch der aktuellen politischen Agenda der Partei. In Bezug auf Migration wurde die Position der SPD immer eher mit möglichst offenen Grenzen als einer kontrollierten Steuerung verbunden. Dazu kommen Verteilungsfragen neuer Art, die gerade den Anwalt sozialer Gerechtigkeit besonders fordern. Seit 2015 ist die Mehrheit der Bürger überzeugt, dass für Flüchtlinge mehr getan wird als für bedürftige Deutsche. Auch unter den Anhängern der SPD teilen 47 Prozent diese Einschätzung. Im Konflikt um die Entscheidung der Essener Tafel, vorübergehend einen Aufnahmestopp für Ausländer zu verhängen, solidarisieren sich 61 Prozent der Bürger, 56 Prozent der Anhänger der SPD mit der Tafel. Von diesem parteiübergreifenden Konsens distanzieren sich nur weite Teile der Grünen. Position reflektieren. In diesem Umfeld müssen beide Volksparteien ihre Position reflektieren. Die Unionsparteien haben zwar in Bezug auf ihr Bemühen um innere Sicherheit wieder Terrain gutmachen können. Der Anteil der Bürger, der eine entschiedene Kriminalitätsbekämpfung der Agenda der CDU/CSU zuordnet, ist von 42 auf 57 Prozent angestiegen. Auch die Überzeugung, dass die Union eine Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung anstrebt, wächst, allerdings von niedrigem Niveau aus. Migration, Integration und auch innere Sicherheit werden auf absehbare Zeit für die Bürger eine zentrale Rolle spielen, und beide Volksparteien haben sich darauf nur unzureichend eingestellt. Dazu kommen die parteiinternen Konflikte. Im Februar nahmen 75 Prozent der Bürger die SPD als zerstritten wahr, die CDU/CSU 46 Prozent. Zurzeit bildet sich dieser Eindruck langsam zurück, bei beiden Volksparteien. Gleichzeitig zeichnen sich erste Erholungstendenzen ab. Es ist zu früh, von einer Trendwende zu sprechen. Ob dies gelingt, hängt von den Erfolgen der Regierungsarbeit, einer stärkeren Auseinandersetzung mit den Sorgen und Anliegen der Bürger und auch von Personen ab. Schon die personelle Konstellation macht vorauseilende Prognosen unmöglich, da die nächste Wahl in einer weitgehend neuen Aufstellung bestritten wird. Professor Dr. Renate Köcher, Institut für Demoskopie Allensbach Fotos: Imago/Christian Ohde Nachdruck mit freundlicher Genehmigung Frankfurter Allgemeine Zeitung 21/3/2018 www.zahnaerzteblatt.de ZBW 5/2018
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