18 Titelthema Foto: imago/ZUMA Press Kolumne Wir tippen im Dunkeln Der Normalzustand sozialer Medien ist heute nicht mehr öffentlich. Es findet ein großer digitaler Rückzug ins Private statt. „Dark Social“ – das, was von außen unsichtbar stattfindet, gewinnt an Bedeutung. Ein Feuerwerk der Technologie, weltweite Euphorie, funkelnde PR-Visionen hat Elon Musk, der Steve Jobs der Millennials, in den letzten Tagen gezündet. Ein neuer Technik optimismus scheint heraufzuziehen. Aber so interessant die neue Freude am Gerät erscheint, so sehr wird dadurch auch eine Leerstelle betont: Elon Musks Schaffen ist zwar radikal digital geprägt, könnte aber selbst nicht weiter vom Internet entfernt sein. Raketen, Marsflüge, Hochgeschwindigkeitszüge, Elektroautos, erneuerbare Energien – weniger Netz geht kaum, wenn man von der Zukunft spricht. Gleichzeitig steht die Vorreiterfigur der sozialen Medien, Mark Zuckerberg, massiv in der Kritik. Ich halte das für ein Symptom der Krise der digitalen sozialen Öffentlichkeit. Über die Vernetzung zwischen Menschen lässt sich derzeit wenig Positives sagen. Es wäre auch nicht glaubwürdig, weil sich in der öffentlichen Wahrnehmung gerade etwas grundlegend ändert. Meine These: Es findet ein großer digitaler Rückzug ins Private statt. Das Private ist immerhin nicht politisch – auf die Weise, wie „Politik“ in öffentlichen sozialen Medien so absurd anstrengend sein kann. Öffentlichkeit hat sich für die meisten Menschen offenbar nicht als wertvoll erwiesen. Junge Menschen sind heute zwar äußerst aktiv im sozialen Netz, allerdings sehr viel intensiver dort, wo soziale Medien nicht öffentlich oder halböffentlich sind: in privaten digitalen Räumen, allen voran WhatsApp, ab Werk nicht öffentlichen Messengern und Gruppenchats. Die frühere Erfolgsgeschichte von Snapchat war sogar angetrieben von einer ausschließenden und damit öffentlichkeitsreduzierenden Haltung. Die App war schon so gestaltet, dass sich digital Spätsozialisierte kaum damit zurechtfanden. Krise der Sozialen Medien. Seit 2012 existiert der Begriff Dark Social, gemeint war damit der Teil der sozialen Medien, der von außen nicht zugänglich unter der Oberfläche stattfindet: Messenger, Chats, ZBW 5/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 19 auch private E-Mail-Verteiler. Bisher hat man das als Sonderfall behandelt. Aber ich glaube, es hat sich umgekehrt. Der Normalzustand von Social Media ist heute nicht mehr öffentlich. Es gibt lediglich einen Teil, den man „Public Social“ nennen könnte. Public Social ist gewissermaßen die Spitze des sozialmedialen Eisbergs, auf den ersten Blick sichtbar, aber in der Gesamtbetrachtung klein. Soeben haben ehemalige Mitarbeiter von Facebook und Google, darunter der Erfinder des Like-Buttons, eine Kampagne gestartet, die sie „The Truth about Tech“ nennen, „Die Wahrheit über Digitalkonzerne“. Ihre Kommunikation wirkt an vielen Stellen überzogen bis angstheischend, weil ihre Verkündungsgewissheit die gleiche Qualität hat wie ihre frühere Absolutheit, Technik werde die Welt in ein goldenes Zeitalter führen. Die Kampagne ist damit typisch für das Differenzierungsproblem der gesamten Debatte über soziale Medien, sie ist vergleichbar nervig wie der zum verbissenen Zigarettenmahner gewordene Ex- Raucher. Trotzdem ist „The Truth about Tech“ ein Symptom: (Öffentliche) soziale Medien sind eindeutig in einer weltweiten Krise. Schon die Mitverantwortung bei der Wahl der faschistoiden Ego-Tröte Trump würde dafür ausreichen, aber es wird schlimmer. Facebook wirkt auf den Philippinen und in Kambodscha als Unterdrückungsinstrument. Die Regierungen „benutzen Facebook als Waffe“, schreibt „Bloomberg“, indem aufhetzende Propaganda verbreitet wird. Die genozidalen Gewaltexzesse gegen die Rohingya in Burma sind offenbar zum Teil zurückzuführen auf Falschnachrichten, verbreitet in öffentlichen sozialen Medien. Ein Facebook-Völkermord könnte entstanden sein, das exakte Gegenteil aller ursprünglichen Intentionen, mit sozialen Netzwerken die Welt zu verbessern. Filterblase als soziales Schutzmilieu. Leider ist es nicht so, dass die private Sphäre sozialer Medien diesbezüglich unschuldig daherkommt. Denn das Phänomen der gezielt verfälschten Nachrichten sickert auch in die nichtöffentlichen sozialen Medien, die Verschiebung ins Private betrifft fast alle Digitalphänomene. Aus Indien, Kenia oder Katalonien sind dazu offizielle Statements bekannt, dass hassanheizende Inhalte via WhatsApp oder Facebook Messenger zu einer Epidemie geworden seien, die Gewalt nach sich ziehe. Das zeigt, dass die Probleme mit sozialen Medien insgesamt wesentlich größer sind als nur der öffentlich sichtbare Teil. Es gibt keine digitale Plattform, auf der sich Debatten und Diskussionen so wunderbar und produktiv führen lassen wie auf Facebook – wenn man über So, wie öffentliche soziale Medien im Moment funktionieren – oder besser: nicht funktionieren –, erscheint die Flucht ins Private zu vielen Menschen als vorläufig beste Lösung. Facebook ist auf kommerziell höchst erfolgreiche Weise vorerst gescheitert. eine gut gepflegte soziale Umgebung verfügt. Aber „gut gepflegt“ bedeutet zunehmend nicht öffentlich. Der Begriff Filterblase bezeichnete ursprünglich ein bedenkliches Phänomen, nämlich, dass soziale Medien Echokammern der Selbstbestätigung begünstigen. Inzwischen wird Filterblase eher als soziales Schutzmilieu verstanden, als selbst zusammengestellter Kommunikationsraum, der bestimmte Formen des Austauschs überhaupt erst ermöglicht. Schon lange taumelt Facebook mit geschlossenen Gruppen und der oft beklagten Undurchsuchbarkeit zwischen privat, halbprivat und öffentlich hin und her. Aber sogar hier lässt sich eine Verschiebung weg von Public Social erkennen: Die letzten Änderungen an Facebooks Newsfeed sollen wieder mehr Freunde anzeigen und weniger große Medien, deren Seiten als Teil der Öffentlichkeit betrachtet werden müssen. Auch der Erfolg von Podcasts ließe sich so erklären: Podcasts verlangen vom Publikum die Investition von Zeit, Ruhe und Konzentration. Sie sind anders als Text kaum zu überfliegen und viel schwieriger zitatweise zu verbreiten. Dadurch wirken sie, als würden sie abseits der großen Öffentlichkeit stattfinden. „X schrieb auf Twitter/ Facebook“ ist in redaktionellen Medien allgegenwärtig, „X sagte in einem Podcast“ existiert in Deutschland praktisch nicht. Bedürfnisse der Werbetreibenden. Vielleicht differenzieren sich soziale Medien gerade aus, rütteln sich evolutiv zurecht, und der Teil „Public Social“, den man bisher für den wichtigsten hielt, wird in den Köpfen der Menschen zweitrangig. Wenn das so ist, dann fiele ein weiterer Traum der Frühzeit des Netzes in sich zusammen, der brechtsche Radiotraum: Damals, als man dachte, eine Öffentlichkeit, an der alle partizipieren, sei etwas Gutes, Produktives, gar Demokratisierendes. Ich bin überzeugt, dass öffentliche soziale Medien positiv wirken können. Dazu lassen sich schon heute zu viele glänzende Ansätze erkennen. Doch die gegenwärtige Ausprägung erscheint mir als Sackgasse, als riesige Maschinerie, die perfekt abgestimmt ist auf die Bedürfnisse der Werbetreibenden – aber ansonsten blind für die meisten gesellschaftlichen Belange. So, wie öffentliche soziale Medien im Moment funktionieren – oder besser: nicht funktionieren –, erscheint die Flucht ins Private zu vielen Menschen als vorläufig beste Lösung. Facebook ist auf kommerziell höchst erfolgreiche Weise vorerst gescheitert. Und zwar am Clash zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Sascha Lobo Nachdruck mit freundlicher Genehmigung © SPIEGEL ONLINE 2018 www.zahnaerzteblatt.de ZBW 5/2018
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