40 Fortbildung Epithesen zur Rekonstruktion des Gesichts Sicherer Sitz durch Implantate Bei einem Verlust von Gewebe oder Organen im Kopf- und Gesichtsbereich sind die Patient*innen nicht nur durch die funktionellen Ausfälle beeinträchtigt, sondern in besonderem Maße auch durch die Defektlokalisation in einer psychosozial hoch bedeutsamen Region. Das Gesicht ist sowohl Kommunikationsorgan als auch Repräsentationsfläche der eigenen Persönlichkeit. Es ist die Schnittstelle von innerer und äußerer Welt. Über die Mimik erfolgt ein wesentlicher Teil der Kommunikation. Störungen und Beschädigungen in diesem Bereich können die Betroffenen und auch ihr soziales Umfeld erheblich erschüttern, insbesondere wenn sie plötzlich und ohne Möglichkeit der Adaptation auftreten. Eine rasche und ästhetisch gute Rehabilitation ist deshalb dringlich anzustreben. Diese spezielle Anforderung erfüllt die Epithetik mit der Deckung und Camou flage von Gewebsdefekten oder dem Ersatz von Körperteilen durch abnehmbare xenologe Gesichtsteile. Epithetik in Tübingen. Die Betreuung von Patient*innen mit Gesichtsdefekten erfolgt an der Universitätsklinik für MKG-Chirurgie Tübingen seit über drei Jahrzehnten in Form einer interdisziplinären Sprechstunde mit maßgeblicher Beteiligung eines Epithetikers (in den Jahren 2003 bis 2020 n = ca. 140 Patient*innen). Die betroffenen Patient*innen müssen sich fast ausnahmslos regelmäßig wiedervorstellen und schätzen wegen ihrer speziellen Situation erfahrene und konstante Ansprechpartner*innen. Wir streben deshalb bei geplanten Resektionen an, diese wichtige Beziehung bereits vor der Tumoroperation in unserer „Epithetik-Sprechstunde“ aufzubauen. Bereits bei dem ersten Zusammentreffen werden die Patient*innen über die Möglichkeiten der epithetischen Versorgung aufgeklärt. Eine präoperative Fotodokumentation erleichtert dem/der Epithetiker*in seine/ihre Arbeit. Nicht zuletzt kann auf diesem Wege das operative und organisatorische Prozedere zwischen Chirurg und Epithetiker abgestimmt werden 1 . Unsere Erfahrungen, die wir mithilfe dieser etablierten Vorgehensweise sammeln konnten, stellen wir im Folgenden zusammen mit Literaturberichten vor. Defektursachen und -regionen. Ursächlich liegen den Defekten zum größten Teil Tumorerkrankungen, Unfälle oder angeborene Fehlbildungen zugrunde, wobei die überwiegende Mehrheit der Patient*innen (84 Prozent in unserer Klinik) ein onkologisches Grundleiden und damit ein im Durchschnitt vorgerücktes Lebensalter hat. Die im kraniofazialen Bereich lokalisierten Defekte betreffen die drei Regionen Orbita, Nase und Ohr, wobei zu einem großen Teil umschriebene, bei ca. 20 Prozent der Patient*innen aber auch ausgedehnte Defekte vorliegen, die sich bis in Nachbarstrukturen erstrecken oder mehrere Areale berühren können. Bei mehr als der Hälfte unserer Patient*innen ist die Orbita betroffen, ein knappes Viertel trägt den Defekt jeweils in der Nasen- oder Ohrregion. Indikationen Schlechter Allgemeinzustand Hohes Alter Wunsch nach schneller und ästhetisch sehr guter Versorgung Nicht abgeschlossene Tumorbehandlung (mögliche Nachresektionen, Tumornachsorge). Palliativbehandlung Lokale oder allgemeine Kontraindikationen für rekonstruktive Chirurgie (Z. n. Radiatio, Begleiterkrankungen) (Vorübergehende) Therapiemüdigkeit der Patient*innen, Ablehnung invasiver Maßnahmen Interimslösung vor Rekonstruktion Kontraindikationen Schwere psychiatrische Erkrankungen Kognitive Defizite Substanzabhängigkeit Mangelnde Compliance Bei Unterstützungsbedürftigkeit der Patient*innen das Fehlen von Hilfspersonen Reduzierte manuelle Fertigkeiten Deutlich eingeschränkte Sehfähigkeit Epithetische Versorgung. Indikationen und Kontraindikationen (Tab.1). ZBW 8-9/2020 www.zahnaerzteblatt.de
Fortbildung 41 Abb. 1a Abb. 1b Epithesenbefestigung. Ohr, Nasen- und Orbitaepithese aus Silikon: von vorne (Abb. 1a), von hinten (Abb. 1b). Ohr- und Nasenepithese tragen Magneten, die Orbitaepithese wird anatomisch fixiert. Indikationen für Epithesen. Die epithetische Versorgung ist eine von drei Optionen zur Behandlung von Gesichtsdefekten. Die beiden gegeneinander abzuwägenden therapeutischen Alternativen sind der (individualisierte) Verband und die plastisch-chirurgische Rekonstruktion. Komplexe ästhetische Einheiten, die sich nicht oder nur mit großem Aufwand plastisch rekonstruieren ließen, stellen eine Indikation für die epithetische Versorgung dar. Beispielsweise entfallen bei einer Exenteratio orbitae Erwägungen zur chirurgischen Defektdeckung oder Rekonstruktion. Bei Defekten der Nase oder der Ohrmuschel besteht grundsätzlich auch die Option der plastisch-chirurgischen Rekonstruktion; sie ist jedoch mit den Nachteilen des hohen operativen und zeitlichen Aufwands, der erschwerten Tumornachsorge und im Falle der Ohrmuschel auch mit problematischen ästhetischen Ergebnissen verbunden. Als Vorteile der epithetischen Versorgung sind demgegenüber die geringe Invasivität, die Reversibilität, das gute ästhetische Ergebnis nach relativ kurzer Zeit und die unbeeinträchtigte Möglichkeit der Tumornachsorge zu nennen. Tatsächlich kann die epithetische Versorgung auch ohne Nachteil eine Interimslösung auf dem Weg zur plastisch-chirurgischen Rekonstruktion darstellen. Eine nur eingeschränkte Indikation für die Anfertigung einer Epithese besteht im Lippen- und perioralen Bereich wegen der hohen Mobilität der Gewebe und der deswegen nur suboptimalen Randpassung der Epithese (Siehe Tab. 1). Kontraindikationen. Es bestehen nur selten Kontraindikationen für die Anfertigung einer Epithese. Schwere psychiatrische Erkrankungen wie z. B. eine Demenz, sind hier zu nennen. Als relative Kontraindikationen können alle Zustände gelten, die die Hygienefähigkeit beeinträchtigen. Hier ist an Substanzabhängigkeiten, leichtere kognitive Defizite, mangelnde Compliance, eine deutliche Einschränkung der Sehfähigkeit oder der manuellen Fertigkeiten der Patient*innen zu denken. Eine individualisierte, situationsadaptierte und gemeinsame Entscheidungsfindung ist in diesen Fällen das Mittel der Wahl (S. Tab. 1). Epithesenmaterial. Gesichtsdefekte hat man seit alters her mit verschiedensten Materialien abgedeckt; entsprechende Überlieferungen reichen bis in das alte www.zahnaerzteblatt.de ZBW 8-9/2020
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