18 Titelthema mit dem Gesundheitsamt Rems- Murr. Früh wurden erste Maßnahmen eingeleitet – zum Beispiel für Mitarbeiter*innen, die ihren Faschingsskiurlaub in Risikogebieten verbracht hatten. „Wir waren uns von Anfang an bewusst, dass es in erster Linie Mitarbeiter*innen sein würden, die Infektionen in die Einrichtung tragen“, sagt Petra Dunker. Im Gesundheitszentrum, das sich auf dem Gelände der Diakonie Stetten befindet, konnten Tests schnell durchgeführt werden. Das hat mit dazu beigetragen, mögliche Infektionsketten zu erkennen und zu unterbrechen. „Unsere Ärzt*innen und Praxismitarbeiter*innen haben da einen wichtigen Beitrag geleistet“, betont Petra Dunker. Momentan gibt es keine Infizierten in der Einrichtung. Die erste Infizierte war eine 80-Jährige, die keine Symptome hatte und die Infektion gut überstanden hat. „Aufgrund ihres Alters wäre ein schwerer Verlauf eigentlich zu erwarten gewesen“. Einen Todesfall unter den Bewohner*innen hat die Diakonie Stetten indes zu beklagen: Ein 64-jähriger Mann mit geistiger Behinderung, der einige Vorerkrankungen hatte, ist an COVID-19 gestorben. Isolationsstation. In der Hochphase der Coronapandemie gab es für positiv getestete Bewohner*innen in der Diakonie Stetten eine eigene Quarantäne- Station. Inzwischen geschlossen, gab es in der Diakonie auch eine Isolationsstation. Sie war für Bewohner*innen, die von einem Besuch bei Angehörigen oder von einem Krankenhausaufenthalt zurückgekehrt sind. Selbstverständlich können und konnten die Bewohner*innen jederzeit ihre Angehörigen besuchen – „mit entsprechenden Vorkehrungen“ betont Petra Dunker. Foto: Diakonie Stetten Heimarbeit statt Homeoffice. Der Shutdown habe die Einrichtung vor mehrere Herausforderungen gestellt, berichtet Petra Dunker. Die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen mussten ganz geschlossen werden. Damit sind die Bewohner*innen ganz unterschiedlich umgegangen – für einige bedeutete dies Entspannung und ein deutlich entschleunigter Tag, weil der eng getaktete Tagesplan mit frühem Transport per Fahrdienst zur Arbeit in die Werkstatt oder vorgegebene Essenszeiten weggefallen ist. „Dies machte sich bei einigen in einem deutlichen Rückgang körperlicher Übergriffe gegen sich selbst, aber auch andere bemerkbar“. Anderen wiederum hat der strukturierte Alltag gefehlt, sie waren verunsichert und konnten die neue Situation nicht einordnen. „Heimarbeit statt Homeoffice“, erläutert Petra Dunker die neue Arbeitsweise. Manche der Wiedersehensfreude. Nach langer Zeit kann sich das Paar endlich wieder treffen – mit Masken und mit Abstand. Industrieaufträge, wie zum Beispiel das Zusammenfügen von Fliegenklatschen, müssen nicht zwingend in den Werkstätten erledigt werden, sie können auch zu Hause bearbeitet werden. Und dies wurde gemacht – und zwar in den Wohneinrichtungen. Die Mitarbeiter*innen aus den Werkstätten haben dann in den Wohneinrichtungen gearbeitet. Flexibilität war angesagt: Die Mitarbeiter*innen der Diakonie Stetten erhielten andere Aufgaben und andere Einsatzgebiete. „Sie haben unglaublich viel geleistet“, lobt Petra Dunker – für die Bewohner*innen ist die gewohnte Tagesstruktur komplett zusammengebrochen, sie mussten woanders essen, sie konnten nicht mehr in die Werkstätten, sie erhielten keinen Besuch mehr von ihren Angehörigen. Für all das mussten die Mitarbeiter*innen in der täglichen Betreuung einen guten Umgang finden. Coronaambulanz vermeiden. Dr. Guido Elsäßer hatte in seiner Schwerpunktpraxis nach dem Lockdown die gleichen Herausforderungen wie alle Zahnarztpraxen in Baden-Württemberg zu bewältigen: Einbruch beim Patientenaufkommen, Kurzarbeit für das zahnmedizinische Fachpersonal, fehlende Schutzausrüstung. Als Schwerpunktpraxis sind etwa ein Drittel seiner Patient*innen Menschen mit Behinderung. „Die sind weitestgehend weggebrochen, die restlichen Zweidrittel waren vorsichtig bis ängstlich“, erinnert sich Dr. Elsäßer. Für seine behinderten Patient*- innen beschreibt Dr. Elsäßer rückblickend drei Phasen: In der ersten Phase ging es vor allem um die Patient*innen, die wegen akutem Behandlungsbedarf vor dem Shutdown Termine vereinbart hatten, die dann aber abgesagt wurden. „Wir wussten, nur wenige Meter entfernt lebten Patient*innen mit akutem Behandlungsbedarf, womöglich auch solche, die ihre Schmerzen nicht äußern konnten und wir durften sie nicht behandeln“. Angehörige riefen bei Dr. Elsäßer an und fragten nach. „Sollten wir es einfach so laufen lassen bis die ersten Bewohner*innen der Diakonie Stetten mit Abszessen notfallmäßig in eine Zahnklinik hätten gebracht werden müssen? Welche Risiken bestehen für die behinderten Patient*nnen, die begleitenden Mitarbeiter*innen und für unser Team, wenn wir bei uns behandeln?“ – diese Fragen stellte sich Dr. Elsäßer. Eine Dilemma situation. Gemeinsam entschloss man sich, Notfallbehandlungen in der Praxis durchzuführen. Allerdings durften keine Angehörige (als externe Personen) mitkommen. Die Begleitung übernahmen die Mitarbeiter*innen aus den Wohngruppen. „Ich wollte unbedingt vermeiden, dass meine behinderten Patient*innen in eine Coronaambulanz oder Zahnklinik überwiesen werden müssen. Das ZBW 8-9/2020 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 19 Maskenpflicht. Auch wenn dieser Patient seine Maske gerne trägt – es gibt Ausnahmen: Wem das Tragen einer Maske nicht zugemutet werden kann, muss keine tragen. Foto: Dr. Elsäßer Coronaroutine. Dr. Elsäßer hat in der Praxis zwei Wartebereiche eingerichtet – einen für Gruppen derselben Wohneinheit und Familien, in dem kein Abstand eingehalten werden muss. Foto: Dr. Elsäßer hätte einen wahnsinnigen logistischen Aufwand und ein unkalkulierbares Infektionsrisiko für alle Beteiligten bedeutet. Besonders bei Patient*innen, die bei einer normalen zahnärztlichen Behandlung nicht kooperieren“. Dr. Elsäßer konnte sämtliche geplanten Behandlungen in Narkose in seiner Praxis durchführen, in kompletter persönlicher Schutzausrüstung des gesamten Teams – „unsere Anästhesisten haben uns dabei voll unterstützt“. Nachdem die akuten Schmerzfälle abgearbeitet waren, hat sich eine gewisse Entspannung eingestellt. Allerdings wurden wegen der Verordnung der Landesregierung zeitweise keine professionellen prophylaktischen Maßnahmen mehr durchgeführt. Das ist besonders für Patient*innen, die sich nicht eigenverantwortlich die Zähne putzen können, sehr schlecht. Kein Lockdown für Karies. Die Entspannungsphase hat nicht lange angehalten. Waren vor der Pandemie die Bewohner*innen einer Wohngruppe meist als Gruppe gemeinsam zu den Untersuchungsterminen in die Praxis gekommen, war dies nun nicht mehr möglich. Um einen Überblick über den Zustand der Zahn- und Mundgesundheit zu bekommen, hat Dr. Elsäßer in Absprache mit den Verantwortlichen begonnen, Bewohner*innen in den Wohngruppen zu untersuchen, in voller persönlicher Schutzausrüstung. Und wie befürchtet, hat er zahlreiche Schmerzpatient*innen identifiziert. „Für Karies- und Parodontitiskeime gibt es keinen Lockdown“. Dr. Elsäßer erzählt von einem jungen Mann, der die Wohngruppe aus Angst, sich mit COVID-19 zu infizieren, seit dem Lockdown nicht mehr verlassen hat. Er hat jede ärztliche Untersuchung verweigert. Als jedoch Dr. Elsäßer, den er schon seit vielen Jahren kennt, in die Wohngruppe kam und ihn gefragt hat, ob er ihn untersuchen dürfe, hat er zugestimmt – denn Dr. Elsäßer hat ihm versichert, dass ihm mit seiner Spezialmaske nichts passieren kann. Die Untersuchung fand dann draußen auf der Terrasse statt. „Über das Vertrauen des Bewohners habe ich mich sehr gefreut“. Coronastau abarbeiten. In der dritten Phase geht es nun darum, die durch mangelnde Mundhygiene während des Lockdowns entstandenen starken Zahnfleischentzündungen zu behandeln. Dr. Elsäßer sieht viele Schmutzgingivitiden und erzählt von Zahnfleisch, das schon beim Hinschauen blutet, hat aber durchaus Verständnis für die Mitarbeiter*innen auf den Wohngruppen, die die Zahn- und Mundhygiene vernachlässigt haben. „Der/ die Mitarbeiter*in soll Abstand halten, hat keine Schutzkleidung und soll trotzdem der/dem Bewohner*in die Zähne putzen, das hat sie/er verständlicherweise nicht oder jedenfalls nicht so gründlich gemacht.“ Es gehe jetzt darum, die Zahnpflege wieder ins Gedächtnis zu rufen, denn gerade bei Menschen mit komplexen Behinderungen hat die mangelnde Mundhygiene massive Auswirkungen. Derzeit unterweisen seine zahnmedizinischen Mitarbeiter*innen die Heilerziehungspfleger*innen in den Wohngruppen in der vermehrten Verwendung elektrischer Zahnbürsten, um die coronabedingten Defizite möglichst rasch abzuarbeiten. Neue Coronaroutine. Maskenpflicht und Abstandsregeln gelten natürlich auch in der Praxis von Dr. Elsäßer. Daher dürfen zur gleichen Zeit nur noch drei Bewohner*innen, begleitet von einer Fachkraft, kommen. Zwei Wartebereiche wurden eingerichtet – einen für Gruppen derselben Wohneinheit und Familien, in dem kein Abstand eingehalten werden muss und einen Wartebereich, in dem der Mindestabstand von eineinhalb Metern eingehalten werden kann. Die meisten Patient*innen mit Behinderung tragen auch im Flur und im Wartebereich eine Alltagsmaske, obwohl sie das nicht müssten. „Das klappt überraschend gut“, freut sich Dr. Elsäßer. Systemrelevant? Auf die abschließende Frage, ob er seine Arbeit als systemrelevant bezeichnen würde, wirkt Dr. Elsäßer sehr nachdenklich – er scheint die letzten Monate gedanklich Revue passieren zu lassen bevor er antwortet: „Meine Mitarbeiter*innen und ich haben unseren Beitrag zur Vermeidung eines Zusammenbruchs des Gesundheitssystems darin gesehen, Überweisungen unserer Patient*innen mit geistiger oder komplexer Behinderung in Zahnkliniken zu vermeiden. Das ist uns bis dato gelungen. Ob das systemrelevant ist, mögen andere entscheiden.“ Andrea Mader www.zahnaerzteblatt.de ZBW 8-9/2020
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