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Ausgabe 3/2017

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38 Wissenschaft Foto: SPL/Agentur Focus Medizinische Ökologie Mit schlechten Absichten und gutem Karma Trainingspartner für unsere Körperabwehr oder hilfreiche Ordnungshüter? Der Mensch schleppt ein ganzes Arsenal an Viren mit sich herum und profitiert offenbar sogar davon. Ein Zehntel unseres Genoms setzt sich aus viralem Erbmaterial zusammen. Der Mensch ist wegen der vielen Mikroorganismen in seinem Körper ein Ökosystem, kein Einzelwesen. Und weil dieses Ökosystem sorgfältig studiert werden will, gibt es dafür eine neue Disziplin – die medizinische Ökologie. Sie beschäftigt sich hauptsächlich mit den Auswirkungen der Mikroorganismen auf die Gesundheit. Während sich die Wissenschaftler bereits ein gutes Bild von den Vorteilen der Bakterien gemacht haben, wissen sie nur sehr wenig über den Nutzen der ansässigen Viren, die in ihrer Gesamtheit als Virobiota bezeichnet werden. Mikroorganismen. Viren bilden die größte und vielfältigste Gruppe unter den Mikroorganismen. Ein Gramm Kot enthält bis zu einer Milliarde Viren, aber nur hundert Millionen Bakterien. Die Ambivalenz der Viren und einige ihrer Eigenschaften erschweren die Inventur. Viren sind nämlich weder konstant krankheitsauslösend noch immer und überall harmlos, was die Unterscheidung zwischen Freund und Feind sehr viel komplizierter macht als bei Bakterien oder Pilzen. Außerdem hängt der Ausgang einer Virusinfektion vom Gesundheitszustand und dem Immunstatus des Betroffenen ab. Trotzdem belegt die Tatsache, dass acht Prozent des menschlichen Erbguts viralen Ursprungs sind, dass es eine lange und fruchtbare Koevolution zwischen Menschen und Viren gegeben haben muss und noch immer gibt. Menschlicher Körper. Warum lässt sich dieser Nutzen sehr viel schwerer beziffern als der Nutzen der Herpes-Virus. Hartnäckig, aber mit Mehrwert? Das (hier gezeichnete) Herpes-Virus ankert im Erbgut. ZBW 3/2017 www.zahnaerzteblatt.de

Wissenschaft 39 Bakterien und Pilze? Eric Delwart von der Universität Kalifornien in San Francisco beantwortet diese Frage in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „The Scientist". Viren bringen eine Reihe von Besonderheiten mit, die sie zu problematischen Mitstreitern machen. Dazu gehört, dass Viren lebende Zellen infizieren müssen, weil sie mit den wenigen Genen im Gepäck keinen kompletten Lebenszyklus bestreiten können und die Gene auch nicht selbst in Proteine übersetzen können. Die virale Gemeinschaft im menschlichen Körper besteht daher aus vier Gruppen: Viren, die menschliche Zellen befallen, Viren, die sich über die Bakterien und Pilze im Körper hermachen, Pflanzenviren, die mit der Nahrung in den Darm gelangen, und die virale DNA, die im Laufe der Evolution im Erbgut des Menschen zurückgeblieben ist. Deshalb ist die virale Gesellschaft im Körper per se sehr viel komplexer und vielschichtiger als die Welt der Bakterien und Pilze. Die Infektion menschlicher Zellen ruft auch immer das angeborene Immunsystem auf den Plan und löst eine unterschwellige Entzündung aus. Virale Gene. Viren sind zudem schwieriger zu entdecken als die anderen Mikroorganismen. Sie lassen sich, wenn überhaupt, nur mit Mühe kultivieren, und es gibt auch keinen speziellen Angelhaken für die schnelle Detektion. Bakterien lassen sich dagegen rasch anhand ihrer spezifischen ribosomalen RNA erkennen. Allerdings sind in den vergangenen Jahren leistungsstarke Techniken entwickelt worden, mit denen sich virale Gensequenzen aus der Fülle der Mikroben-DNA herauslesen lassen. Mit diesen Techniken werden jetzt laufend virale Gene und damit neue Viren im menschlichen Körper entdeckt. Einige gehören bekannten Virusfamilien an, andere sind gänzlich neu. Scott Handley von der Washington University School of Medicine in Saint Louis spekulierte unlängst in der Zeitschrift „Genome Medicine", dass noch rund 320.000 Säugetier-Viren darauf warten, entdeckt zu werden. Anelloviren. Wie schwer es ist, den möglichen Nutzen eines Virus zu erfassen, machte Delwart am Beispiel der Anelloviren fest. Die Infektion mit Anelloviren ist die häufigste bisher bekannte Infektion. Jeder sei mit diesen Viren infiziert, schreibt Delwart, ausnahmslos jeder. Bisher gebe es keinen Hinweis darauf, dass diese Viren schädlich seien, allerdings zeige die Tatsache, dass deren Konzentration bei einer Immunschwäche steige, dass sie unter der Kontrolle des Immunsystems stünden. Ein Anstieg der Virusmenge könnte daher zu Gesundheitsproblemen führen, allerdings spräche ihre Allgegenwart auch dafür, dass es eine gelungene Koevolution gegeben haben müsse. Persistenz. Viren unterscheiden sich von den Bakterien auch dadurch, dass sie eine Phase der Persistenz oder Latenz durchlaufen können. Bei der Persistenz schwelt die Infektion auf niedrigem Niveau. Bei der Latenz integrieren sich die Viren ins Genom der Wirtszelle und vermehren sich gar nicht mehr. Allerdings können sie jederzeit wieder reaktiviert werden. Deshalb tauchen Viren manchmal ab, um dann wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Es ist derzeit nicht klar, ob der Nutzen der Viren auf akuten oder chronischen Infektionen beruht. Dazu müssen erst einmal Langzeitstudien gemacht werden, bei denen dieselben Personen immer wieder untersucht werden. Mutationsrate. Viren gehören auch zu den biologischen Einheiten, die sich am schnellsten verändern. Kein anderer Organismus kann es mit der Mutationsrate der Viren aufnehmen. Aus einem vergleichsweise harmlosen Vertreter kann so schnell ein Killervirus werden. Diese Angst schwingt zum Beispiel bei jeder Grippewelle mit. Erst vor wenigen Tagen haben Wissenschaftler um Jeremy Luban von der University of Massachusetts Medical School in Worcester berichtet, dass das Ebola-Virus vermutlich durch eine neue Mutation gefährlicher geworden ist. Die neu entdeckte Mutation sorgt dafür, dass das Ebola-Virus besser an menschliche Zellen andockt. Dies erklärt womöglich, warum die Zahl der Todesopfer bei der Ebola-Epidemie vor zwei Jahren in Afrika so hoch gewesen ist wie nie zuvor. Eine sehr ambivalente Gruppe sind auch die sieben bekannten Tumorviren. Obwohl sehr viele Menschen mit diesen Tumorviren infiziert sind, entwickeln nur sehr wenige Krebs. Nutzen. Worin könnte nun der konkrete Nutzen der im Körper ansässigen Viren bestehen? Delwart nennt mehrere Möglichkeiten. Einiges spricht dafür, dass die chronischen Virusinfektionen ein Trainingslager für das Immunsystem sind. Vermutlich bereiten die vielen harmlosen Viren die Abwehr auf gravierende Virusinfektionen vor. Sie bewahren das Immunsystem wahrscheinlich auch davor, sich aus einem Mangel an Herausforderungen gegen körpereigene Zellen zu richten. Neugeborene, die Viren über ihre Mutter erhalten, werden durch diese Viren vermutlich geimpft und sind dann besser auf andere Virusinfektionen vorbereitet. Die Viren der Bakterien, die sogenannten Bakteriophagen, kontrollieren anscheinend die Balance unter den Bakterien, mit Konsequenzen für Gesundheit und Krankheit. Schutz gegen pathogene Viren. Einige Viren vermitteln auch einen Schutz gegenüber pathogenen Viren. Ein Beispiel ist das Pegivirus C. Dieses Virus mildert die Konsequenzen einer HIV-Infektion. HIV- Patienten mit einer Pegivirus-C-Infektion leben länger als HIV-Patienten ohne diese Ko-Infektion. Da Viren auch eine Vorliebe für Zellen haben, die sich schnell teilen, helfen sie dem Immunsystem vielleicht dabei, Krebszellen zu beseitigen. Dafür spricht, dass es nach Virusinfektionen gelegentlich zu spontanen Remissionen bei Krebs gekommen ist. Von Nutzen ist vermutlich auch, dass Viren und Bakteriophagen neues genetisches Material besteuern und den Gen- Pool erweitern und verändern. Immerhin ist fast ein Zehntel des menschlichen Erbguts viralen Ursprungs. Hildegard Kaulen Nachdruck mit freundlichen Genehmigung der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.11.2016 © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 3/2017

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