10 Titelthema Foto: Adobe Stock/Sergey Novikov Altes, neues Bündnis. Wahlsieger Kretschmann hatte nach seinem dritten Wahltriumph die Qual der Wahl und konnte sich seinen Koalitionspartner aussuchen. Dem Charme einer grünen Ampel mit SPD und FDP als neuer Koalitionsoption widerstand Kretschmann und setzte stattdessen auf das neue, alte Bündnis: Grüne und CDU wollen Baden-Württemberg nun zum „Klimaschutzland“ machen. Zweitens: Schon zu Beginn meiner Amtszeit 2017 habe ich auf die Problematik der drohenden zahnärztlichen Unterversorgung auf dem Land hingewiesen. Die Kammer versucht, junge Zahnärztinnen und Zahnärzte zu motivieren, sich auf dem Land niederzulassen, beispielsweise mit einer kammerspezifischen Niederlassungsberatung. Durch die neue Approbationsordnung werden auch sogenannte Famulaturpraxen auf dem Land entstehen, die eine gewisse Steuerungswirkung haben und Studierende und Jungapprobierte für das Leben und Arbeiten auf dem Land interessieren können. Das könnte zugleich bei Praxisabund -übergaben helfen und so die zahnärztliche Versorgung an diesen Standorten sichern. Drittens: Mit „Mundgesund trotz Handicap und hohem Alter“ hat die Zahnärzteschaft bereits 2010 ein Konzept vorgelegt, das sich erstmals systematisch der zahnmedizinischen Versorgung von älteren Menschen, Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung widmet – vulnerable Patientengruppen, die im Vergleich zur Gesamtbevölkerung meist eine schlechtere Mundgesundheit haben. Die Landeszahnärztekammer Baden- Württemberg nimmt bundesweit eine Vorreiterrolle ein und ist seit Jahren sehr aktiv in der Entwicklung neuer Aus- und Fortbildungskonzepte zur Mundpflege. Aktuell erörtern wir mit dem Sozialministerium Möglichkeiten der Vernetzung und der Einbindung der Kammer in das Projekt PflegeDigital@BW. Wir hoffen auf einen konstruktiven Meinungsaustausch mit der Landesregierung und nicht zuletzt auf Unterstützung bei der Umsetzung. Viertens: Unterstützung erhoffen wir auch, wenn es um die Telemedizin geht. Beispielsweise könnten Videosprechstunden den Zugang für Menschen ermöglichen, die nicht mehr mobil sind oder auf dem Land fernab von Praxen leben. Mit Blick auf den demografischen Wandel im zahnmedizinischen Bereich bietet die Digitalisierung ergänzende Lösungen. Voraussetzung sind aber schnelle und flächendeckende Internetverbindungen. Und zu guter Letzt hoffen wir dann natürlich, dass die neue Regierung endlich auch den Wunsch der Heilberufe-Kammern erhört, als Approbationsbehörden tätig werden zu dürfen. Genauso wichtig wäre, dass sich die Landesregierung auf Bundesebene für die Erhöhung des GOZ-Punktwertes einsetzt sowie für die Verteidigung der Subsidiarität und die Stärkung der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen. Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung als tragende Säulen unseres starken Gesundheitswesens. Diese Konstante muss bei der Politik immer wieder neu vorgetragen werden. Wie waren die Erfahrungen in den letzten Jahren und wie schätzen Sie die neue Landesregierung diesbezüglich ein? Dr. Torsten Tomppert: Seit über einem Jahr hat die freiberuflich tätige Zahnärzteschaft unter Mitwirkung ihrer Selbstverwaltungen eindrucksvoll belegt, dass sie die ambulante und stationäre zahnärztliche Versorgung der Bevölkerung nachhaltig gesichert hat. Dennoch wird eine freiberufliche Berufsausübung auch in Baden- Württemberg weiterhin erschwert. Ich würde mir für die neue Legislatur wünschen, dass die Landesregierung freiberuflichen Zahnärztinnen und Zahnärzten und den anderen Freien Berufen für ihre erbrachten Leistungen endlich den Respekt entgegenbringt, der ihnen auch zusteht. Dr. Ute Maier: Wir hatten in den letzten Jahren unabhängig von der politischen Besetzung des Sozialministeriums immer ei- ZBW 5-6/2021 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 11 nen guten Draht ins Ministerium. Auch Sozialminister Manne Lucha war ein verlässlicher Ansprechpartner für uns und zugleich ein Politiker, der den Wert der Prinzipien von Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung für das Gesundheitswesen erkannt hat. Insbesondere habe ich seinen Einsatz geschätzt, als es um die Verteidigung der Regionalität gegen die Begehrlichkeiten seitens der Bundespolitik ging. Ob es in diesem Amt eine Veränderung geben wird, wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Unabhängig davon habe ich aber die Hoffnung, dass auch die neue Landesregierung der Selbstverwaltung den Rücken stärkt. Denn gerade hierzulande haben wir mit einer starken Vertragspartnerschaft beste Erfahrungen gemacht. Am Ende profitieren die Patient*innen davon, wenn sich die Politik nicht zu sehr einmischt und neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen ist. Während der Coronakrise haben die Zahnärzt*innen einiges geleistet – auch fernab des Rettungsschirmes der Landesregierung. Welche Erwartungen haben Sie an das Sozialministerium der neuen Legislatur hinsichtlich einer Anerkennung dieses Einsatzes? Dr. Ute Maier: Ich habe die klare Erwartung, dass Zahnärzt*innen nicht nur in Sonntagsreden als systemrelevant anerkannt werden, sondern auch rechtsverbindlich mit der Folge, dass sie beispielsweise Zugang zur Notbetreuung haben – und zwar uneingeschränkt. Man kann nicht die Sicherstellung der Versorgung einfordern, wenn gleichzeitig Schulen und Kitas geschlossen werden und die Notbetreuung nur für „wichtigere“ Gruppen gilt. Dr. Torsten Tomppert: Welchen Rettungsschirm meinen Sie? Ich stimme Ihnen aber natürlich zu, dass die Zahnärztinnen und Zahnärzte auch in der Pandemie immer vollumfänglich für ihre Patientinnen und Patienten da waren – wenn dies von der Landespolitik zugelassen wurde, Stichwort § 6a Coronaverordnung. Meine Erwartung wäre, dass die Landesregierung dazulernt und im nächsten Pandemiefall vor der Umsetzung berufseinschränkender Maßnahmen die Expertise der zahnärztlichen Körperschaften anfordert und anstehende Probleme gemeinsam bespricht und abstimmt. Richten wir unser Augenmerk auch nochmals auf ein anderes strittiges Thema, nämlich die Wahlfreiheit der Versicherten und die Rolle der Privaten Krankenversicherung für das Funktionieren des dualen Gesundheitssystems. Wo sehen Sie hier die zentralen Anknüpfungspunkte der zahnmedizinischen Standespolitik? Dr. Torsten Tomppert: Selbstverständlich sind wir als Kammer gegen die Bürgerversicherung – und damit auch gegen das Hamburger Modell, um das es auf Landesebene geht und das allgemein als Türöffner für eine Bürgerversicherung gesehen wird. Als Kammer stehen wir für die Beibehaltung des dualen Krankenversicherungssystems – und vertreten gemeinsam mit der BZÄK das Konzept der reformierten Dualität. Dr. Ute Maier: Unser Gesundheitssystem ist – immer noch - eines der besten weltweit – und zwar nicht nur, was das Niveau, sondern auch was die Breite der Versorgung betrifft. Meines Erachtens trägt dazu auch das Nebeneinander und der Wettbewerb der beiden Versicherungssysteme bei. Jeder Mensch, egal ob gesetzlich oder privat versichert, profitiert von diesen starken Strukturen. Ich bin deshalb gelinde gesagt etwas genervt, wenn immer wieder aufs Neue die alten Debatten ausgetragen werden, und nicht endlich mal die wirklichen Probleme im Gesundheitswesen – etwa die erdrückende Bürokratielast – ernsthaft angegangen werden. Sobald es die Pandemie zulässt, biete ich jedem*r verantwortlichen Politiker*in an, gemeinsam eine vertragszahnärztliche Praxis zu besuchen und hautnah zu erfahren, wo der Schuh drückt. Und zum Abschluss: Stellen Sie sich vor, Sie sind Sozialminister*in für einen Tag. Welche Maßnahmen würden Sie sofort umsetzen wollen? Dr. Ute Maier: Ich würde • eine Bundesratsinitiative starten, dass die Zahnärzt*innen als Freier Beruf und mit dem Grundsatz der Therapiefreiheit in Zukunft ohne Begrenzung der Ausgabenvolumina behandeln können; • einen kurzen Draht zu den maßgeblichen Akteuren der Selbstverwaltung herstellen, damit Schnapsideen wie die Schließung der Praxen zu Ostern vergangenen Jahres rechtzeitig gestoppt werden können, bevor die Patient*innen das Nachsehen haben bzw. schon gar nicht umgesetzt werden; • eine Liste unnötiger bürokratischer Auflagen und unnötiger Reglementierungen erstellen, die man sofort abschaffen könnte; • meine Kollegin aus dem Wissenschaftsressort überzeugen, die Anzahl der Studienplätze im Fach Zahnmedizin auszubauen. Dr. Torsten Tomppert: Ich würde mir die Fakten anschauen und feststellen, dass während der Coronakrise praktisch kein Infektionsgeschehen in Zahnarztpraxen zu verzeichnen war. Vor diesem Hintergrund würde ich die bestehende Prüfbürokratie im Land hinterfragen, die uns schwer belastet. Meiner Meinung nach ist sie Ausfluss einer unerträglichen staatlichen Misstrauenskultur, die verhindert, dass wir Zahnärztinnen und Zahnärzte unseren Job im Interesse unserer Patientinnen und Patienten machen können. Das Gespräch führte Cornelia Schwarz www.zahnaerzteblatt.de ZBW 5-6/2021
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