36 Fortbildung Fotos: Dr. J. Schmoeckel Abb. 4a Abb. 4a Molaren-Inzisiven-Hypomineralisation. Schwere Form der MIH mit Substanzverlust und Hypersensibilität (MIH- TNI 4a). Nur bei leichter Berührung und Luftzug ist der Zahn trotz teilweise noch vorhandener Abdeckung mit Glasionomerzement (a) schmerzhaft. Da der Zahn sehr empfindlich ist und sich noch im Durchbruch befindet, wurde zunächst Silberdiaminfluorid (SDF) appliziert (b). Dadurch konnte die Empfindlichkeit deutlich reduziert werden, was für eine später geplante invasiven Therapiemaßnahme (z. B. Lokalanästhesie und Stahlkrone) hilfreich ist. on und -therapie revolutionär: Die Entfernung kariös veränderter Zahnhartsubstanz dient primär dazu, den Zahn für die spätere Versorgung durch beispielsweise eine Füllung vorzubereiten, damit diese langfristig hält und stellt primär keine ursächliche Kariestherapie dar (Schwendicke et al., 2016; Innes et al., 2016). Im Rahmen verschiedener Studien mit hohem Evidenzgrad wurde gezeigt, dass durch eine schrittweise selektive bzw. sogar gar keine Kariesentfernung (vgl. Hall-Technik) von kariös infiziertem Zahnhartgewebe im Vergleich zur sogenannten konventionellen kompletten Kariesexkavation signifikant mehr Zähne vital erhalten werden konnten (Ricketts et al., 2013). So hat sich bislang der Terminus „selective removal of carious tissue“, also die selektive Entfernung von kariösem Gewebe, auch als zeitgemäßer Therapieansatz insbesondere bei profunder Karies durchgesetzt (Innes et al., 2016; Schwendicke et al., 2016). Unter selektiver Kariesentfernung ist zu verstehen, dass danach die Kavitätenränder im gesunden Zahnschmelz liegen, kariöses Dentin pulpenfern vollständig entfernt (u. a. Schmelz-Dentingrenze) und nur pulpennah erweichtes/ledriges Dentin belassen wird. Die heute genutzten Komposite/Adhäsive halten deutlich besser an gesunder Zahnhartsubstanz und ein dichter Verschluss der Kavität ist bei der selektiven Kariesexkavation essentiell. Im GKV-Bereich bewegte man sich bis vor kurzem aber auch hier lange auf schwierigem Terrain. Laut BEMA war bis vor Kurzem eine Füllung nur nach vollständiger Kariesexkavation abrechenbar. Die wissenschaftliche Evidenz spricht v. a. bei tiefen kariösen Läsionen aber deutlich für die selektive Kariesentfernung (Elhennawy et al., 2018). Die selektive Kariesentfernung ist im Übrigen nicht nur für Milchzähne, sondern auch bei permanenten Zähnen geeignet, und die wissenschaftliche Evidenz deutlich (Ricketts et al., 2013; Santamaría et al., 2020). Dies ist zudem klinisch relevant, da mittels selektier Kariesentfernung (Abb. 5) mehr Zähne vital erhalten werden können (z. B. Reduktion der Pulpaexposition: von 40 Prozent auf 17,5 Prozent (Leksell et al., 1996) bzw. von 29 Prozent auf 17,5 Prozent (Bjørndal et al., 2010)) und auch im Vergleich zur vollständigen Kariesentfernung postoperativ signifikant weniger Symptome auftreten (Ricketts et al., 2013). Hall-Technik. Die sogenannte Hall-Technik ist eine innovative, minimalinvasive Methode zur Behandlung kariöser Milchmolaren, mit folgenden Hauptmerkmalen: • Indikation: kariöser Milchmolar ohne Symptomatik/ Hinweis auf irreversible Pulpitis; deutliche Dentinbrücke zwischen kariöser Läsion und Pulpa im Röntgenbild • Kein Bedarf weder an Lokalanästhesie, Kariesexkavation noch Zahnpräparation • Platzierung einer konfektionierten Stahlkrone (Abb. 6) mit dünnfließendem Glasionomerzement ohne jegliche Kariesentfernung Fotos: Dr. Alkilzy Abb. 5a Abb. 5c Abb. 5b Abb. 5d Approximalkaries. Tiefe Approximalkaries an den Milchmolaren 84 und 85 (a). Nach selektiver Kariesexkavation: Wichtig für das Gelingen in der Adhäsivtechnik ist dabei, dass eine komplette Kariesexkavation peripher erfolgt, jedoch pulpennah kariöse Zahnhartsubstanz belassen wird, um die Pulpa nicht akzidentell zu eröffnen oder zu stark zu reizen (b). Während der Applikation des Prime & Bond, hier unter relativer Trockenlegung (c). Nach Fertigstellung der Kompomerfüllungen (d). ZBW 10/2021 www.zahnaerzteblatt.de
Fortbildung 37 Info Info Abb. 6 Stahlkronen. Ein Set mit präkonfektionierten Stahlkronen und entsprechende Instrumente (Zangen und Kronenschere) sollten für die Versorgung kariöser Milchmolaren mittels Hall-Technik in der Praxis vorliegen. Die Erfolgsraten von über 90 Prozent liegen äquivalent zu konventionellen Stahlkronen (Elamin et al., 2019; Innes et al., 2015) und deutlich über den Erfolgsraten der Füllungstherapie mit ca. 50 bis 80 Prozent (Santamaría et al., 2018; Innes et al., 2007). Der herausragende Erfolg der Hall-Technik basiert auf der vollständigen Bedeckung des Zahnes, die einen dichten Verschluss der kariösen Läsion und zugleich eine prophylaktische Versiegelung der restlichen Zahnhartsubstanz darstellt. Im Gegensatz zur Füllungstherapie funktioniert die Hall-Technik dadurch auch bei Kindern mit hohem Kariesrisiko bzw. hoher Kariesaktivität, da Foto: ZA Mourad das Risiko von „Sekundärkaries“ dadurch ausgeschaltet wird. Auch bei mäßig kooperativen Kindern oder Kindern mit Angst vor Bohrern und Spritzen ist diese Technik i. d. R. gut durchführbar (Abb. 7a-h). Eine Übersicht zu wesentlichen Aspekten der Hall- Technik und der Kariesinaktivierung, die wichtige Alternativen zur Standardfüllung im Milchgebiss darstellen, sind in Tab. 2 aufgeführt. Durch die Kariesinaktivierung und auch die Hall- Technik können folglich Narkosen vermieden werden, da damit Karies auch auf dem Zahnarztstuhl bzw. zu Hause gemanagt werden kann, ohne z. B. Füllungen durchzuführen. Nichtsdestoweniger ist eine Therapie von pulpitischen Zähnen damit nicht möglich. Die Kombination akute Pulpitis/Abszess und unkooperatives Kind stellen in der Kinderzahnheilkunde daher eine der Hauptindikationen für eine Narkose dar. Prävention von Anfang an. Zu guter Letzt: Noch wünschenswerter ist natürlich eine flächendeckende frühzeitige Kariesprävention ab dem ersten Milchzahn. Zudem sind eine adäquate rechtzeitige Kariesdiagnostik (Initialkaries) und (möglichst non-invasive) Behandlung von Karies im Milchgebiss von zentraler Bedeutung, um Narkosen bei Kindern zu reduzieren! In den letzten Jahren hat sich diesbezüglich glücklicherweise bereits einiges getan: 1) Im gelben U-Heft sind regelmäßige Verweise der Kleinkinder vom Kinderarzt zum Zahnarzt für adäquate Abb. 7a Abb. 7b Abb. 7c Abb. 7d Abb. 7e Abb. 7f Abb. 7g Abb. 7h Hall-Technik. Fallserie zur Hall-Technik: Klinischer Befund (a) und röntgenologischer Befund (b) Zahn 84: distal kavitierte kariöse Läsion mit Verlust der Randleiste ohne Anhalt auf irreversible Pulpitis. (c) Ermittlung der richtigen Größe der Stahlkrone, bzw. Anprobe. Die mit Glasionomerzement befüllte Stahlkrone (d) wird einfach – vorzugsweise von lingual kommend – über den Zahn gestülpt und in richtiger Position festgedrückt, sodass die Kronenränder idealerweise leicht subgingival liegen (e). Das Kind beißt anschließend fest zusammen (f) und Zementüberschüsse werden möglichst vor dem Aushärten entfernt und die finale Passung (g) und die Okklusion geprüft (h). Im Gegensatz zu diesem Fall tritt oftmals temporär eine leichte Erhöhung der Okklusion auf. www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2021
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