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Parodontologie – zurück in die Zukunft

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Ausgabe 7/2017

32 Titelthema Orale

32 Titelthema Orale Gesundheit und systemische Gesundheit Parodontitis und Allgemeinerkrankungen wo stehen wir? Orale Gesundheit ist eng mit systemischer Gesundheit verknüpft. Vor allem Parodontitis als eine weltweit hochprävalente chronisch-entzündliche Erkrankung interagiert mit einer großen Zahl systemischer Erkrankungen. Sie ist nachgewiesenermaßen ein Risikofaktor in der komplexen Ätiopathogenese von Diabetes mellitus und kardiovaskulären Erkrankungen und vor allem bei Patienten mit einem erhöhten Endokarditisrisiko und rezidivierenden Pneumonien. Obwohl die vorliegenden Daten in Teilen unterschiedlich interpretiert werden und weitere Studien mit besserem Design benötigt werden, ist es unbestritten, dass Parodontitis zu einer Entzündungslast für den Körper führt, die beseitigt werden muss. Ihre Behandlung ist daher eine zwingende Notwendigkeit und bedarf keiner weiteren Rechtfertigung durch mögliche Auswirkungen auf die Allgemeingesundheit. Parodontitis und Allgemeinerkrankungen sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Während viele systemische Erkrankungen über entweder direkte pathologische Mechanismen oder indirekte Verknüpfungen wie z. B. Nebenwirkungen ihrer Therapie verknüpft sind, haben Veränderungen der Mundgesundheit ebenso Auswirkungen auf die Allgemeingesundheit. Zahnverlust ist eng mit Mortalität im Allgemeinen und im Besonderen mit kardiovaskulär bedingter Mortalität 1, 14 assoziiert und geht mit einem Verlust an Lebensqualität einher 25 . Parodontitis als chronische Entzündung führt nicht nur zur Destruktion des Zahnhalteapparates. Ihre Auswirkungen sind im ganzen Körper über die Erhöhung von Entzündungsindikatoren und -mediatoren nachweisbar. Die bei Parodontitis vorhandenen pathogenen Biofilme gelangen auf mehreren Wegen in den Körper. Durch Inhalation gelangen sie in die Lunge und führen zu einem erhöhten Risiko an Pneumonien 27 . Mit dem Verschlucken erreichen sie den Magen und tragen den eine Gastritis verursachenden Helicobacter pylori mit sich, der bei vertieften Taschen häufig auch in der Mundhöhle aufzufinden ist 31 . Vor allem aber gelangen sie über die bis zu mehrere Quadratzentimeter große parodontale Wunde in die Blutbahn. In den vergangenen Jahrzehnten wurde konsequenterweise beschrieben, dass Parodontitis mit einer Vielzahl anderer chronischer Erkrankungen wie Diabetes mellitus, kardio- und zerebrovaskulären Erkrankungen und chronischen Nierenerkrankungen assoziiert ist 33 . Darüber hinaus wurde gezeigt, dass früher Zahnverlust bzw. die Zahnzahl ein guter Prädiktor für die kardiovaskuläre Mortalität ist 14, 36 . Obwohl diese Assoziationen eindeutig und weitgehend akzeptiert sind, wird die kausale Rolle der Parodontitis in der Ätiologie und Pathogenese dieser Erkrankungen kontrovers diskutiert und die Evidenz ist immer noch gering. Nach heutigem Kenntnisstand kann Parodontitis mit Sicherheit als Risikoindikator betrachtet werden. Dies bedeutet, dass das Auftreten der jeweiligen Erkrankung bei Vorliegen einer Parodontitis erhöht ist. Es bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass eine erfolgreiche Parodontitistherapie mit einer Verbesserung der Symptome oder der Ausheilung der systemischen Erkrankung einhergeht. Selbst wenn Parodontitis ein Risikofaktor ist, also eine kausale Rolle für die systemische Erkrankung spielt, würde eine solche Verbesserung nach erfolgreicher Parodontitistherapie nicht in jedem Fall, wohl aber hinsichtlich der durchschnittlichen Veränderung einer Gruppe sichtbar werden. Wäre Parodontitis aber eine direkte Ursache für die systemische Erkrankung, würde ihre erfolgreiche Therapie vorhersehbar und in jedem Fall zu einer Heilung oder zumindest einer Verbesserung der Symptome der systemischen Erkrankung führen. In diesem Artikel wird der Wissensstand hinsichtlich des Zusammenhangs einer chronischen Parodontitis und der Allgemeingesundheit dargestellt, wobei die verschiedenen Grade des Zusammenhangs herausgearbeitet werden. Drei Beispiele werden die Komplexität der Thematik sichtbar machen. Für die anderen Erkrankungen wird der aktuelle Kenntnisstand in tabellarischer Form zusammengestellt. Bei all dem sollten zwei Dinge nicht aus dem Auge verloren werden: Zum einen ist Parodontitis eine eigenständige Erkrankung, deren Therapie niemals elektiv, sondern nach Diagnosestellung medizinisch indiziert ist. Dazu bedarf es nicht der Rechtfertigung über mögliche Effekte auf die Allgemeingesundheit. Zum zweiten beziehen sich die Aussagen bezüglich der Auswirkungen auf die Allgemeingesundheit in der Regel auf schwere generalisierte parodontale Erkrankungen. Eine übertriebene Herausstellung potenzieller Auswirkungen einer parodontalen Erkrankung auf die Allgemeingesundheit kann Nocebo-Effekte auslösen und sollte unbedingt vermieden werden. Bakteriämie und Endokarditis. Bakteriämie ist definiert als das Eindringen von Bakterien in die Blutbahn 36 . Im Allgemeinen ist dies ein nahezu physiologisches Ereignis, das häufig unter Alltagsbedingungen eintritt und das durch jegliche mechanische Belastung der Haut oder der Schleimhäute ausgelöst werden kann. Dabei hängt in der Mundhöhle die Stärke und Häufigkeit 1 Dieser Artikel bezieht sich in weiten Teilen auf Dörfer CE Relation Oral Health General Health/Non-communicable Diseases. Int Dent J (in press) ZBW 7/2017 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 33 Erkrankung Assoziation Pathomechanismus Grundsätzlicher Beweis der Möglichkeit Interventionsstudien (Surrogatparameter) Interventionsstudien (Harte Endpunkte) Pathogenetische Bedeutung der Parodontitis Endokarditis Ja Ja n. a. Ja (+) Nein Starker Risikofaktor Diabetes Mellitus Ja Ja Ja Ja (+)* Nein Risikofaktor Kardiovaskuläre Erkrankungen Chronische Nierenerkrankungen Chronisch obstruktive Erkrankungen der Atemwege Ja Ja Ja Ja (+)* Nein Risikofaktor Ja Ja Nein Nicht anwendbar Ja Ja Nein Nicht anwendbar Ja (+) Ja (+-) Starker Risikofaktor Ungeklärt Gastritis Ja Ja Nein n. a. Ja (+) Ungeklärt Rheumatoide Arthritis Ja Ja Nein Nein Nein Ungeklärt Maligne Tumorerkrankungen Ja Ja Nein Nein Nein Ungeklärt Demenz Ja Ja Nein Nein Nein Ungeklärt Schwangerschaftsverlauf Ja Ja Ja Ja (+-) Ja (- - -) Eher gering * große Heterogenität auf Patientenniveau Evidenz. Zusammenstellung der Evidenz bezüglich der Auswirkungen von Parodontitis auf andere systemische Erkrankungen und Zustände (Tab. 1). der Bakteriämie nicht nur von der Stärke des mechanischen Reizes sondern auch vom Entzündungszustand der Gewebe, vor allem im Grenzbereich zwischen Zahnhart- und oralen Weichgeweben ab 5, 10 . Relevant ist dies für diejenigen Personen, die einem erhöhten Endokarditisrisiko ausgesetzt sind. Zwar führt auch bei diesen Patienten nicht jede Bakteriämie zu einer Endokarditis, allerdings steigt die Wahrscheinlichkeit mit der Häufigkeit und dem Ausmaß der Bakteriämie. Das Auftreten von Bakteriämien wird in Studien daher oft als Surrogatparameter benutzt, um bei kardial gesunden Personen mit Parodontitis den protektiven Effekt einer Reduktion der Entzündung im Rahmen einer Parodontitistherapie hinsichtlich der potenziellen Auslösung einer Endokarditis zu untersuchen 10, 22, 23 . Dieser Zusammenhang ist umso relevanter, als die neuen Leitlinien zur zahnärztlichen Behandlung von Patienten mit erhöhtem Endokarditisrisiko eine präventive Gabe von Antibiotika zur Vermeidung von Bakteriämien lediglich bei Patienten mit hohem Endokarditisrisiko empfehlen. Für Patienten mit einem erhöhten, aber als niedrig oder moderat eingestuften Endokarditisrisiko wird keine Antibiotikaprophylaxe empfohlen, da in diesem Falle das Gesundheitsrisiko durch die Antibiotikagabe höher eingeschätzt wird als das Gesundheitsrisiko durch eventuell auftretende Bakteriämien 41 . Hinzu kommt, dass die präventive Fraktion, also der Anteil der durch die Antibiotikagabe verhinderten Bakteriämien, lediglich bei ungefähr 50 Prozent liegt 22, 32 . Demzufolge wird auch bei der präventiven Gabe von Antibiotika nur jede zweite Bakteriämie vermieden. Bakteriämien, die durch Alltagsbelastungen wie Kauen oder Mundhygienemaßnahmen auftreten, sind sowieso durch eine antibiotische Abschirmung nicht zu vermeiden. Die Evidenz zeigt daher konsequenterweise, dass die erfolgreiche Behandlung einer Parodontitis nachhaltig und substanziell die Häufigkeit und das Ausmaß von Bakteriämien reduziert. Der Schaffung und Erhaltung entzündungsfreier parodontaler Verhältnisse kommt demzufolge bei Patienten mit einem erhöhten Endokarditisrisiko eine hohe Bedeutung zu und den Patienten sollten alle präventiven Maßnahmen nahegelegt werden, die dieses Ziel erreichen helfen. Eine ähnliche Schlussfolgerung kann man auch für Patienten mit künstlichen Gelenksendoprothesen ziehen, allerdings ist die wissenschaftliche Evidenz in diesem Zusammenhang gering 21 . Diabetes mellitus. Der Zusammenhang zwischen Diabetes mellitus und Parodontitis ist seit Jahrzehnten bekannt und Parodontitis gilt mittlerweile als orale Kom­ www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2017

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