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Nutzenbewertung von Parodontitistherapien

Ausgabe 10/2018

20 Titelthema Ein Fall

20 Titelthema Ein Fall aus der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie Kiel Therapie einer schweren generalisierten Parodontitis mit progressivem Verlauf Parodontitis hat immer noch eine hohe Prävalenz in Deutschland – laut der DMS V ist jeder zweite jüngere Erwachsene (35 bis 44 Jahre) parodontal erkrankt. Gerade ein progressiver Verlauf bei jungen Patienten stellt den Behandler oftmals vor eine Herausforderung, teils bedingt durch eine diffuse Ätiologie (fehlende Korrelation von Plaquemenge und Schweregrad der Destruktion), aber auch der Wunsch der betroffenen Patienten nach langfristigem Erhalt ihrer natürlichen Zähne. Selbst wenn der Zahnerhalt im Rahmen der aktiven Parodontitistherapie (APT) gelingt, so muss dieser zwingend mit individualisierten Maßnahmen der unterstützenden Parodontitistherapie (UPT) gesichert werden (Eickholz, 2007). Sowohl individuelle Ansprüche an Ästhetik und Funktion als auch Risikofaktoren wie Rauchen oder Diabetes des Patienten können die Umsetzung erschweren. Wie im folgenden Fallbericht aufgezeigt, kann es sein, dass rechnerisch entsprechende Bemühungen um einen Zahn erhalt bei Parodontitis mehr als 50 Jahre aufrechterhalten werden müssen. Dies kann hohe Anforderungen an die Interaktion von Patienten und zahnärztlichem Team stellen (Graetz et al., 2013). Solch fortgeschrittene Fälle einer Parodontitis bergen zudem die Frage, ob mit konservativer Planung und Therapiemaßnahmen überhaupt noch ein für alle akzeptabler Erfolg erreicht werden kann? Fall. Am 12.05.17 stellte sich der 31-jährige Patient auf eigenen Wunsch im Funktionsbereich Parodontologie in der Klinik für Zahnerhaltung und Parodontologie des UKSH (Campus Kiel) vor. Die mitgebrachte Panoramaschichtaufnahme vom 10.04.2017 zeigte einen weit fortgeschrittenen Knochenabbau mit Furkationsbeteiligungen (FG) bei noch geschlossenen Zahnreihen (Abb. 1a und 1b Zahnfilmstatus vom 31.05.2018). Im Vergleich zu einer ebenfalls mitgebrachten Panoramaschichtaufnahme vom 28.09.2010 war innerhalb der letzten sieben Jahre eine deutliche Progredienz der Destruktionen erkennbar (Abb. 1c). Der Patient gab keine Allgemeinerkrankungen an und hatte zeitlebens nie geraucht. Die einzige familienanamnestische Auffälligkeit bestand in Zahnfleischproblemen der Mutter. Im Vorfeld waren alio loco 2006 und 2016 Parodontalbehandlungen mittels photodynamischer Therapie (PDT) beziehungsweise unter adjuvanter Anwendung eines Lasers erfolgt. Der Patient nahm zweimal pro Jahr eine Professionelle Zahnreinigung (PZR) wahr und reinigte seine Zahnzwischenräume regelmäßig mit Interdentalraumbürsten (Curaprox rosa, ø 0,8mm). Der vorbehandelnde Zahnarzt hatte zum Zeitpunkt der Erstvorstellung in unserer Abteilung multiple Extraktionen, unter anderem von 16, 26, 21 und 35, und nachfolgendem prothetischen Ersatz geplant. Der Patient bemerkte neben Zahnlockerungen und Blutungen beim Zähneputzen vor allem eine deut- liche Elongation des Zahnes 21 (Abb. 2) und erhoffte sich durch die parodontologische Behandlung einen langfristigen Zahnerhalt. Auf Nachfragen empfand er Abb. 1a Abb. 1b Abb. 1c Panoramaschichtaufnahme vom 10.04.2017 (alio loco) (1a) und (1b) Zahnfilmstatus vom 31.05.2018: ungleichförmiger generalisierter Knochenabbau bis ca. 70 Prozent der Wurzellänge im OK/UK mit multiplen vertikalen Knocheneinbrüchen an den Zähnen 16, 15, 12, 21, 26, 37, 36, 35, 45, 46 sowie radiologisch sichtbarer FG an den Molaren 16 und 26, letzterer mit einer Knochenverdichtung mesial. (1c) Panoramaschichtaufnahmen vom 28.09.2010 (alio loco): ungleichförmiger generalisierter Knochenabbau bis ca. 30 % der Wurzellänge mit vertikalen Knocheneinbrüchen an 16, 12, 23, 26, und 35. ZBW 10/2018 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 21 die Ästhetik der Zähne als weniger wichtig gegenüber einer ausreichenden Kaustabilität mittels der eigenen Zähne. Befund. Der extraorale Befund war unauffällig. Intraoral zeigte sich ein konservierend weitgehend suffizient versorgtes Gebiss, einzig der Zahn 25 wies eine erneuerungsbedürftige Kompositfüllung auf. Alle Zähne einschließlich 18, 28, 38 und 48 waren vorhanden und reagierten positiv auf den CO 2 -Kältetest. Der Patient hatte eine sehr gute häusliche Mundhygiene, es zeigte sich kaum Plaque und kein Zahnstein. Die marginale Gingiva war wenig geschwollen und lokal leicht livide und gerötet (Abb. 2). Entsprechend des parodontalen Befundes bei Neuaufnahme (Abb. 3) waren die Sondierungstiefen (ST) generalisiert erhöht, mit Ausnahme der Unterkieferfrontzähne. Es trat generalisiertes Bluten bei Sondieren (BOP) auf. Lokalisiert entleerte sich beim Sondieren putrides Exsudat. Der Zahn 21 wies einen pathologischen Beweglichkeitsgrad II auf, die Zähne 32 bis 42 einen Grad I (Abb. 3). Diagnose. Aufgrund der Befunde ergibt sich die Diagnose nach der aktuellen Klassifizierung nach Papapanou et al. (2018): generalisierte Parodontitis Stadium III und Grad C; begründet durch ST ≥ 5 mm, einen lokalisiert röntgenologischen Knochenverlust bis ins apikale Wurzeldrittel und einer Furkationsbeteiligung Grad II (Hamp et al., 1975). Grad C definiert einen rapiden Verlauf der Parodontitis, was sich im vorliegenden Fall mithilfe des Knochenabbauindex (Knochenabbau/Alter) von 0,2 (Abb. 1a versus 1c) und der Differenz von Plaque menge zu Destruktionsgrad begründen lässt. Unter Einbeziehung der vorliegenden Prognose- und Risikofaktoren auf Patienten- und Zahnebene wurde der Erhalt aller Zähne zum Zeitpunkt der APT vorgeschlagen. Damit sollte ein prothetischer Ersatz auf fraglichen Pfeilern zu diesem frühen Zeitpunkt der Erhaltungstherapie vermieden werden. Prognostische Einschätzungen, gerade im Rahmen der APT, sollten aber immer als Momentaufnahmen mit entsprechender Limitation (Schwendicke et al., 2018b) verstanden werden und deshalb muss fortwährend neu beurteilt werden (Reevaluation). Dabei muss insbesondere der Zahn 21 aufgrund des fortgeschrittenen Knochenabbaus und des erhöhten Beweglichkeitsgrades langfristig als fraglich eingestuft werden, was aber für die Molaren mit FG II (16, 17 und 26) ebenso gilt. Das hier zugrundeliegende, auf Zahnerhalt fokussierende Konzept kann neben der antiinfektiösen Therapie aller erkrankten Zähne bei entsprechender Indikation auch ein offenes Vorgehen nach Reevaluation der geschlossenen Maßnahmen (in der Regel drei Monate) umfassen. Nach erfolgreicher APT (Reevaluation drei bis sechs Monate) werden die Patienten dann in eine lebenslange UPT mit regelmäßiger Neubeurteilung der Prognosefaktoren und ggf. Einleitung weiterführender Behandlungen überführt (Schwendicke and Graetz, 2017). Aktive Parodontitistherapie. Im Folgenden wird die APT kurz zusammengefasst. Die antiinfektiöse Abb. 2a Abb. 2b Abb. 2d Abb. 2c Abb. 2e Fotostatus vom 12.05.2017: Lokalisierte Rötung und Schwellung der marginalen Gingiva. An Zahn 21 von bukkal 1 bis 2 mm unterhalb des Margo gingivae ein Fistelmaul (Abb. 2a-e). Therapiephase umfasste 5 Termine (Mai-Juni 2018). Neben der Erhebung des Plaque-Control-Record (PCR) und des BOP, der Instruktion/Motivation zur häuslichen Mundhygiene einschließlich der Anwendung von Interdentalraumbürstchen (TePe, Hamburg) erfolgte ein quadrantenweises subgingivales Debridement mit abschließender Politur. Aufgrund der chronifizierten Fistel ausgehend von 21, welche auch nach subgingivalem Debridement weiter bestand, wurde zeitnah (Juli 2017) ein parodontalchirurgischer Eingriff mittels einer Parodontalstatus vom 12.05.17 (erstellt mithilfe der Software PA-Konzepte GbR): Generalisiertes BOP und erhöhte ST von bis zu 11 mm. An den Zähnen 16d, 15d, 21m/d, 25m, 37m und 35m entleerte sich lokalisiert nach Sondierung putrides Exsudat. Die FG der Molaren 17, 16, 26 und 27 betrug Grad I- II (Abb. 3). www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2018

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