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Nutzenbewertung von Parodontitistherapien

Ausgabe 10/2018

18 Titelthema Bedeutung

18 Titelthema Bedeutung und Grenzen der RCTs als Sicherung der Evidenz – eine ethische Reflexion Die randomisierte Studie gilt als Goldstandard der EbM, und sie wird als Grundlage für neues Wissen angesehen. Und doch ist es wichtig, darüber nachzudenken, was für ein Wissen die RCT-Studie denn generiert. Da kann ein Blick auf David L. Sackett (1934-2015), den kanadischen Mediziner und Pionier der evidenzbasierten Medizin, sehr instruktiv sein. So hat er in einer Lancet- Publikation EbM wie folgt definiert: „EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit Foto: Fotolia/gaggio1980 der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.“ (Sackett 1997) Allein aus dieser Definition des EbM-Pioniers lässt sich einiges ableiten, was heute nicht hinlänglich bedacht wird. Zunächst wird deutlich, dass EbM für einen ganz bestimmten Zweck gedacht war, und dieser Zweck ist „die Entscheidung in der medizinischen Versorgung individueller Patienten“; das heißt, dass EbM dazu dient, dem einzelnen Arzt dabei zu helfen, im Umgang mit seinem Patienten eine gute wissenschaftlich gestützte Entscheidung zu fällen. Somit lässt sich sagen, dass EbM von ihrem Grundsatz her als klinische Entscheidungshilfe gedacht war. Wenn heute EbM dazu benutzt wird, um mit ihr eine ökonomisch und politisch motivierte Versorgungssteuerung zu erzielen, dann ist das im Grunde nichts anderes als eine Zweckentfremdung der EbM, die unweigerlich Plausibilitätsdefizite evoziert. Wenn aus einer klinischen Entscheidungshilfe ein politisches Steuerinstrument gemacht wird, dann stellt das eine ideologische Überhöhung der EbM dar, weil man sich eine Aussagekraft von ihr für Felder verspricht, für die sie gar nicht gedacht war. Und mit dieser ideologischen Überhöhung der EbM geht eine Überstrapazierung der Bedeutung der RCTs einher. Zum anderen wird allein aus dieser Sackett-Definition deutlich, dass EbM unweigerlich bedeutet, die „bestverfügbare externe Evidenz“ zu verwenden, keineswegs aber so zu tun, als müsse die optimale Evidenz erst abgewartet werden, um gut entscheiden zu können. Das ist für die gegenwärtige Zweckentfremdung der EbM für gesundheitspolitische Entscheidungen von besonderer Bedeutung. So wird ja unter Bezugnahme auf EbM so getan, als müsse man jede Therapieform, die nicht den höchsten Evidenzlevel erreicht hat, automatisch aus dem Katalog streichen; das aber steht in Kontrast zu dem, wofür EbM ursprünglich gedacht war. Die Sinnhaftigkeit der RCTs hängt vielmehr von der Natur des zu bewertenden Eingriffs ab, sodass es undifferenziert ist, wenn man pauschal RCTs zur Sicherung der Evidenz fordert. Dass eine solche Instrumentalisierung der EbM zu gesundheitspolitischen Rationierungsentscheidungen und eine solche undifferenzierte, pauschale Forderung von RCTs überhaupt denkbar wurde, hängt mit der Verwendung des Begriffs der Evidenz zusammen. Wäh- Literatur: • Hufeland, Christoph Wilhelm (1797): Nachrichten von der Medizinisch-Chirurgischen Krankenanstalt zu Jena. Journal der practischen Heilkunde und Wundarzneikunst. Band 3, 528-566 • Sackett, David Lawrence (1997): Evidence-based medicine and treatment choices. In: The Lancet 349 (9051), 570 ZBW 10/2018 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 19 rend nämlich im Englischen „evidence“ im Sinne von Hinweis oder Indiz verwendet wird und somit keine Gewissheit damit insinuiert wird, haftet dem deutschen Begriff der Evidenz die Konnotation der Beweisführung an. Dass aber im ursprünglich englischen Kontext die Evidenz gerade nicht als endgültiges Wissen verstanden wurde, gerät durch eine solche semantische Bedeutungsverschiebung in Vergessenheit. Nur so ist es zu erklären, dass heute so getan wird, als wäre das Fehlen der „evidence“ gleichbedeutend mit dem Fehlen jeglicher Belege für die Wirksamkeit einer Methode. Umso wichtiger erscheint es, sich neu darüber klar zu werden, dass es unterschiedliche Evidenzarten gibt, die je nach Behandlungsart auch unterschiedlich zum Zuge kommen. Wenn heute so getan wird, als müsse man die RCTs als unabdingbare Voraussetzung für den Nachweis der Wirksamkeit aller Behandlungsmethoden verwenden, so wird übersehen, dass die RCTs vor allem für Arzneimittelstudien ihren eigentlichen Sinn erfüllen, und hier die RCTs zur Verpflichtung für pharmakologische Studien zu machen, erscheint ja absolut sinnvoll, denn nur so kann verhindert werden, dass nicht bekannte Einflussfaktoren eine Verzerrung der Ergebnisse bewirken. Beurteilt man andere Behandlungsmethoden, so ist zu bedenken, dass das Fehlen von RCTs nicht als Nachweis der Unwirksamkeit dieser Methoden verwendet werden kann. Das Evidenzmodell der RCTs als einzig gültige und als unabdingbare Notwendigkeit für Wissenschaftlichkeit in der Zahnmedizin zu erklären, erscheint aus drei Gründen unangemessen. Erstens ist bei Eingriffen in der Zahnmedizin eine Verblindung sehr schwer zu realisieren, denn man merkt einfach, ob eine Kompositfüllung gemacht wird oder nur Gel verwendet wird. Dieses Problem ist ja bereits aus der Psychotherapieforschung bekannt, wo eine Verblindung allein wegen der interaktionsbasierten Behandlung schlichtweg nicht möglich ist. Hier also RCT zur unabdingbaren Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit zu machen, bedeutet unweigerlich eine Schlechterstellung spezifischer Behandlungsmethoden, bei denen RCTs aus rein praktischen Gründen nicht möglich sind. Die pauschale Forderung der RCTs geht also unweigerlich mit einem Präjudiz für bestimmte Behandlungsformen einher. Zweitens ist die Implementierung von RCTs in der Zahnmedizin auch deswegen so schwierig, weil ein Placeboarm sich aus ethischen Gründen oft verbietet, denn es wäre oft unverantwortlich, Patienten unbehandelt zu lassen, nur um eine RCT-Studie durchführen zu können. Dass es in den Fünfzigerjahren Kariesstudien gab, in denen Patienten bewusst unbehandelt gelassen wurden, ist ja ein dunkles Kapitel der Zahnmedizingeschichte. Vor allem aber ist die pauschale Forderung der RCTs in der Zahnmedizin deswegen nicht stichhaltig, weil drittens eine RCT-gestützte Kontrolle der Ergebnisse dort schlichtweg sinnlos erscheint, wo die Wirkung einer Methode schon augenfällig ist, weil man sie klinisch sehen kann. Nirgendwo kann man die Folgen des eigenen Eingriffs so unmittelbar beobachten wie in der Zahnmedizin. Dort bedarf es je nach Eingriff keiner RCTs, um das zu belegen, was man mit bloßem Auge so unmissverständlich sieht, dass nämlich eine Besserung des Befundes eingetreten ist. Wenn man diese Besserung nur dann als Beleg nehmen kann, wenn man RCTs gemacht hat, dann ist eine solche Forderung widersinnig, weil man Belege für etwas suchen muss, was durch die eigene Wahrnehmung schon längst belegt ist. So zu tun als sei der sichtbare Beleg erst dann da, wenn man eine Zahl generiert hat, ist im Grunde nichts anderes als eine Auratisierung der Zahl und eine Abwertung aller anderen evidenzsichernden Wahrnehmungsformen. Man kann es auch so sagen, dass man in der Zahnmedizin einfach die Besserung oft klar sehen kann und damit eine Eindeutigkeit erreicht wird, die mit keiner Studie erreicht werden kann. Dass in der Zahnmedizin Plausibilität nicht allein durch RCT-Zahlen, sondern auch durch konkrete Anschauung hergestellt werden kann, ist kein Defizit, sondern der eigentliche Erfolgsweg der Zahnmedizin, denn die Zahnmedizin ist gerade deswegen so erfolgreich, weil sie genau sehen kann, was sie bewirkt. So kann sie sehen, ob die Entzündung durch die Behandlungsmethode zurückgeht und die Entzündung ist auch dann zurückgegangen, wenn keine RCT eine solche Wirkung statistisch nachweisen kann. Deswegen sind nicht nur RCTs, sondern auch retrospektive Studien und auch Fallstudien von hohem Wert für die Wissenschaftlichkeit der Medizin. Die Zahnmedizin wie die Humanmedizin kann nicht anders als sich auf wissenschaftliche Belege zu beziehen, um Wissenschaft zu sein, aber diese Belege sind eben nicht allein Belege, die durch RCTs geliefert werden, sondern es können auch Belege sein, die auf anderen Wegen generiert wurden. So bieten retrospektive Studien und Fallstudien wichtige Erklärungs- und Begründungsformen an, die man nicht einfach abtun kann, nur weil sie nicht per RCTs generiert wurden. Wissenschaftlichkeit in der Medizin ist genau dann gegeben, wenn sie das, was sie tut, rational erklärbar macht. Wenn man heute glaubt, man kann nur über RCTs rationale Erklärbarkeit liefern, so ist das eine Überbewertung einer Methodik unter vielen und somit Ausdruck eines Monismus, den zu verhindern ja gerade Grundlage einer jeden Wissenschaftlichkeit sein sollte. Das hat schon Christoph Wilhelm Hufeland schön auf den Punkt gebracht, als der sagte „Der wichtigste Grundsatz bey der Bildung des Arztes, ja in der ganzen Behandlung der Medizin, scheint mir zu seyn, sich so wenig wie möglich an einem einseitigen Gesichtspunkt oder an eine vorgeschriebene Vorstellungs- und Denkform zu gewöhnen“ (Hufeland 1797, S. 557). Von Hufeland lässt sich lernen, dass es unwissenschaftlich wäre, würde man die RCTs als absoluten Königsweg der Evidenz postulieren, weil es undifferenziert wäre, jegliche andere Form des Wirksamkeitsnachweises als unwissenschaftlich abzutun. Prof. Dr. G. Maio Prof. Dr. med. Giovanni Maio M. A. phil. ist Inhaber des Lehrstuhls für Medizinethik und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2018

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