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Nutzenbewertung von Parodontitistherapien

Ausgabe 10/2018

16 Titelthema

16 Titelthema Systematische Behandlung von Parodontopathien – wie EbM nicht funktionieren sollte Am 30. April 2018 hat das IQWiG seinen mit Spannung erwarteten Abschlussbericht zur „Bewertung der systematischen Behandlung von Parodontopathien“ vorgelegt (https://www.iqwig.de/de/projekteergebnisse/publikationen/iqwig-berichte.1071.html). Nach fachlich gerechtfertigtem massivem Protest an der Erstfassung sah sich das IQWiG gezwungen, substanzielle inhaltliche Änderungen durchzuführen. Revidierte Einschlusskriterien erlaubten die Einbeziehung von deutlich mehr Studienartikeln, wodurch eine größere Zahl von Behandlungsstrategien in die Bewertung einfließen konnte. Dabei wurde zwischen „kein Nutzennachweis“ (nicht zu verwechseln mit „kein Nutzen“), einem „Anhaltspunkt“ und einem „Hinweis“ für einen Nutzen unterschieden. Wichtiger noch: Es wurde nicht nur die Therapie der Gingivitis, sondern auch die Behandlung der Parodontitis beurteilt (Beurteilung des Attachmentlevels). Aspekte wie Zahnverlust, mundgesundheitsbezogene Lebensqualität, Kosten oder Nebenwirkungen von Behandlungen wurden allerdings weiterhin nicht berücksichtigt (da keine Daten vorlagen). Für die geschlossene mechanische Therapie (GMT) ‒ dem Standard der Parodontitisbehandlung ‒ gab es einen Hinweis für einen Nutzen: Der Attachmentlevelgewinn ist nach GMT größer als nach keiner Therapie. Bei der GMT werden unter Zuhilfenahme von Hand-, Ultraschall- oder Schallinstrumenten Konkremente und entzündliches Gewebe entfernt und die Wurzeloberflächen geglättet (Scaling, Root Planing). Die eingeschlossenen Studienartikel hatten die GMT allerdings ausschließlich in der aktiven Therapiephase untersucht. Für die unterstützende Therapie hat eine kürzlich veröffentlichte, große praxisbasierte Studie den Nutzen einer GMT jedoch in Zweifel gezogen 1 . Allerdings litt nur eine Minderheit der eingeschlossenen Patienten an Parodontitis. Den Nutzen von GMT in der unterstützenden parodontalen Therapie wird das IQWiG wahrscheinlich ergänzend aus der beschriebenen Studie heraus bewerten – mit unklarem Ausgang. Im Vergleich mit der GMT haben alleinige parodontalchirurgische Therapien laut IQWiG keinen nachgewiesenen Vorteil. Weder der offenen Parodontalbehandlung mit modifiziertem Widman-Lappen noch der minimal-invasiven parodontalchirurgischen Therapie (MIST) konnte ein Nutzen attestiert werden. Die geringe Zahl an parodontalchirurgischen Eingriffen innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung 2 scheint demnach möglicherweise gerechtfertigt zu sein; chirurgische Maßnahmen sollten zumindest immer in Kombination mit einer GMT durchgeführt werden. Auch regenerative Eingriffe, z. B. unter Verwendung von Schmelz-Matrixderivaten, konnten im Bericht nicht mit einem Nutzen belegt werden. Insgesamt scheint die GMT – auch im Sinne einer praxisrelevanten Basistherapie – gut belegt und den aufwändigeren Verfahren (zumindest auf der Basis der berücksichtigten Daten) nicht zwingend unterlegen zu sein. Das IQWiG untersuchte auch adjuvante Therapien. Demnach konnte eine systemische Antibiotikatherapie in Kombination mit einer GMT gegenüber der alleinigen GMT einen möglichen Nutzen aufweisen, eine ausschließliche Antibiotikatherapie ohne GMT hingegen nicht. Zahnärzte sollten daher indikationsgerecht und nur in Verbindung mit einer mechanischen Therapie Antibiotika verschreiben. Lokale Antibiotikagaben sind laut Bericht nicht nützlich; gleiches gilt für das Einbringen eines Chlorhexidingels oder für antiseptische Spülungen während der mechanischen Therapie. Einzig eine Laserbehandlung sowie die photodynamische Therapie weisen einen möglichen Zusatznutzen auf; eine weitergehende Bewertung (Kosten der Verfahren) war – obwohl dringend geboten – aufgrund der Datenlage nicht möglich. PD Dr. Falk Schwendicke Prof. Dr. Jens Christoph Türp Priv.-Doz. Dr. Falk Schwendicke, MDPH, ist Oberarzt und stellv. Abteilungsleiter an der Abteilung für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin, Charité Centrum 3 für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Charité, Universitätsmedizin Berlin, und Sprecher des Fachbereichs Zahnmedizin im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V. Prof. Dr. Jens Christoph Türp, MSc, M.A., ist stellv. Klinikvorsteher an der Klinik für Oral Health & Medicine, Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel, und Sprecher des Fachbereichs Zahnmedizin im Deutschen Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e. V. 1. Ramsay CR, Clarkson JE, Duncan A, Lamont TJ, Heasman PA, Boyers D, Goulao B, Bonetti D, Bruce R, Gouick J, Heasman L, Lovelock- Hempleman LA, Macpherson LE, McCracken GI, McDonald AM, McLaren-Neil F, Mitchell FE, Norrie JD, van der Pol M, Sim K, Steele JG, Sharp A, Watt G, Worthington HV, Young L: Improving the Quality of Dentistry (IQuaD): a cluster factorial randomized controlled trial comparing the effectiveness and cost-benefit of oral hygiene advice and/or periodontal instrumentation with routine care for the prevention and management of periodontal disease in dentate adults attending dental primary care. Health Technol Assess 2018;22:1-144 2. Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung: Jahrbuch 2017. [kostenfreier Zugriff: URL_ https://www.kzbv.de/jahrbuch-2017.768.de.html] ZBW 10/2018 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 17 Warum einfach, wenn’s auch kompliziert geht … „Das maximale Volumen subterraner Agrarprodukte steht in reziproker Relation zur kognitiven Kapazität des Produzenten“. Falls Sie derartige intellektuelle „Ergüsse“ seitens Ihres Fortbildungsreferenten nicht gewohnt sind … ich kann Sie beruhigen. Der Spruch stammt nicht von mir. Es ist die etwas andere Umschreibung einer altbekannten Weisheit: „Die dümmsten Bauern haben die größten Kartoffeln“. Ich kann absolut nachvollziehen, wenn Ihnen beim Lesen dieses Zahnärzteblattes mehr als nur einmal der Gedanke kommt: Müssen „die da oben“ das alles so verkomplizieren? Was soll das Ganze? Gelten die weltweit dokumentierten Erfahrungen der Experten aus Jahrzehnten nicht mehr? Eigentlich ist doch alles einfach: Gingivitis und Parodontitis sind „biofilm-induzierte Erkrankungen“ – Biofilme bilden sich ein Leben lang – also müssen Biofilme lebenslang entfernt werden! Und für den subgingivalen Biofilm gilt grundsätzlich dasselbe wie für den supragingivalen Biofilm: „Einmal professionell Biofilm entfernen“ ist „keinmal“ – ähnlich wie ein „einmaliges Zähneputzen“! Der Effekt ist zeitlich begrenzt und die dafür verwendeten personellen, zeitlichen und finanziellen Ressourcen letztlich vergeudet! Diese Gelder kann man sinnvoller einsetzen! Und damit sind wir beim eigentlichen Thema: Geld. Ein bundesdeutscher Gesundheitsminister hat vor einigen Jahren folgende Aussage getätigt: Ich bin eigentlich kein Gesundheitsminister, ich bin Gesundheitsfinanzminister! Es geht also letztlich um die sinnvolle Verteilung begrenzter finanzieller Ressourcen im Gesundheitswesen unter einer klaren Prämisse: Nicht alles, was positive Auswirkungen auf die Gesundheit hat, kann oder muss (auf Kosten der Solidargemeinschaft) bezahlt werden. Um diese Aufgabe leisten zu können, hat die Gesundheitspolitik in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten ein Regelwerk geschaffen. Ein zentrales Instrument innerhalb dieses Regelwerkes ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Dieser überprüft gemäß gesetzlichem Auftrag nach §135 Abs 1 SGB V für die ambulante vertragszahnärztliche Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten neue oder bereits zulasten der Krankenkasse erbrachte vertragszahnärztliche Methoden daraufhin, ob der therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit nach gegenwärtigem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse als erfüllt angesehen werden können. Am 17. Oktober 2013 leitete der G-BA (auf der Basis eines Antrages der Patientenvertretung vom 22. Juli 2013) ein entsprechendes Bewertungsverfahren zur Methodik der systematischen Behandlung von Parodontopathien ein und beschloss am 19. März 2015, das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) mit der Bewertung zu beauftragen. Die Überprüfung des Nutzens einer Methode wird auf Basis der durch die Verfahrensordnung (2. Kapitel § 10 Abs. 2 Nr. 1 VerfO) vorgegebenen Kriterien vorgenommen. Die Prüfung erfolgt insbesondere unter den Gesichtspunkten der Wirksamkeit, der Abwägung von Nutzen und Risiken und der erwünschten und unerwünschten Folgen einer Methode. Diagnostische Verfahren werden hinsichtlich ihrer therapeutischen Konsequenz überprüft. Alle Verfahren werden mit Alternativverfahren, die eine gleiche Zielsetzung besitzen, verglichen. Der Auswahl der Kriterien kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zu! Zwei Beispiele: 1. Es werden nur Studien auf höchstem Evidenzniveau (Doppelblind, randomisiert etc.) zugelassen. Dann kann z. B. ein Vergleich zwischen offener und geschlossener PAR-Therapie auf diesem Level nicht erfolgen. Eine Bewertung auf diesem Evidenzlevel ist dann nicht möglich! 2. Es werden nur Studien mit einer Mindestdauer von fünf Jahren zugelassen. Dann ist ein Großteil der publizierten Daten allein aufgrund der „Einschlusskriterien“ nicht für die Bewertung verwendbar, weil viele Studien diesen Beobachtungszeitraum nicht erreichen. Auf der Basis der Studienkriterien nicht beantwortet werden konnte beispielsweise die Frage nach dem Nutzen einer strukturierten Nachsorge (UPT: Unterstützende parodontale Therapie). Die Notwendigkeit dieser Nachsorge ist unbestritten („Biofilme bilden sich lebenslang und müssen somit immer wieder entfernt werden“, s. o.) und wird weltweit von allen Fachgremien als „absolute Voraussetzung für eine nachhaltige PAR-Therapie“ anerkannt. Nur so ist eine Progression der Erkrankung zu verhindern (s. ZBW 7/2017 „Vorläufige Nutzenbewertung des IQWiG“ von Prof. Dr. Peter Eickholz und PD Dr. Bettina Dannewitz). Die Tatsache, dass das IQWIG hier kein Votum vorlegen konnte, zeigt die Begrenztheit der Kriterien des IQWIG (es liegen ja genügend wissenschaftliche Studien aus aller Welt mit entsprechend positiven Ergebnissen vor – das IQWIG bezieht sie jedoch nicht in seine Analyse ein). Fazit: Mit dem vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Instrumentarium (G-BA, IQWIG …) gelingt es in der Regel, medizinisch unsinnige Maßnahmen vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen. Schwieriger ist es mit der Hereinnahme präventiver, diagnostischer und/oder therapeutischer Maßnahmen auch bei grundsätzlich geklärtem Nutzen. Also: Leider doch nicht alles so einfach! Prof. Dr. J. Einwag Prof. Dr. Johannes Einwag ist Leiter des Zahnmedizinischen Fortbildungszenrums Stuttgart (ZFZ) www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2018

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