14 Titelthema heitlich relevant einzuschätzen ist. Inwiefern erlaubte dieser Schwellenwert, die Ergebnisse weiterer Studien einzubeziehen? Der Endpunkt, der in den meisten Studien untersucht wurde, war der Attachmentlevel. Dieser wurde für die Nutzenbewertung als eine Art stellvertretender Endpunkt für den eigentlich interessierenden Endpunkt Zahnverlust betrachtet, denn ein zunehmender Attachmentverlust spiegelt die fortschreitende Zerstörung des Zahnhalteapparates wider, und diese Zerstörung ist es ja, die letztendlich in Zahnverlust münden kann. Ein parodontitisbedingter Zahnverlust stellt sich erst oft nach vielen Jahren ein, aber die meisten Studien beobachten gar nicht so lange nach. Für den Vorbericht hatten wir für Attachmentlevel sogenannte Responderanalysen vorgesehen. Hierbei ist ein Schwellenwert anzugeben, der festlegt, ab wann eine Therapie „angeschlagen“ hat. Dieser Schwellenwert oder Cut-off betrug 0 mm. Das bedeutet, eine Therapie hat einen Effekt, wenn der Attachmentgewinn nach Therapie 0 mm oder mehr beträgt. Jeglicher Attachmentverlust nach Therapie würde also als Therapieversagen eingeschätzt werden. In den Studien, die wir einschließen konnten, wurden in der Regel jedoch sogenannte Mittelwertdifferenzanalysen für Attachmentlevel durchgeführt und keine Responderanalysen. Daher hatten wir zwar aus den meisten Studien Ergebnisse zum Attachmentlevel, aber nur bei wenigen konnten wir die Ergebnisse auch für die Nutzenbewertung heranziehen. War eine Bewertung auf Basis der Mittelwertdifferenzanalysen ohne Weiteres möglich? Nein, dies war nicht ohne Weiteres möglich. Um einen Nutzen ableiten zu können, braucht man eine Relevanzbewertung der Ergebnisse, da bei großem Stichprobenumfang schon kleinste Ergebnisunterschiede zwischen den Behandlungsgruppen statistisch signifikant sein können. Für die Relevanzbewertung hätte mit der sogenannten Irrelevanzschwelle ein Schwellenwert vorliegen müssen, jenseits dessen sich der geschätzte Ergebniswert mit den Streuwerten befinden muss. Nur dann ist ein Ergebnis nicht nur statistisch signifikant, sondern auch klinisch relevant. Eine solche allgemein bekannte, etablierte Irrelevanzschwelle für Attachmentlevel lag aber nicht vor. Bei der Erörterung zum Vorbericht konnten wir uns dann mit den Stellungnehmenden auf einen solchen Schwellenwert einigen. Das ermöglichte uns, für Attachmentlevel nun doch die Ergebnisse aus den Studien heranzuziehen. Im Gegensatz zum Vorbericht konnten auf diese Weise die Ergebnisse zum Attachmentlevel aller eingeschlossenen bzw. ausgewerteten Studien herangezogen werden. Weshalb konnten in den Abschlussbericht zusätzliche randomisierte kontrollierte Studien (RCT) einbezogen werden und Daten aus bereits eingeschlossenen Studien verwertet werden? Bei den zusätzlich verwerteten Daten aus bereits eingeschlossenen Studien handelt es sich um die eben genannten Ergebnisse zu Attachmentlevel. Denn mithilfe der oben beschriebenen Irrelevanzschwelle wurde ja eine Relevanzbewertung möglich. Für den Einschluss weiterer RCTs gab es zwei Gründe: Zum einen konnten wir durch die Nachrecherchen weitere, neue relevante Studien identifizieren. Zum anderen konnten aber mithilfe eines Korrekturfaktors, dem sogenannten Intraklassenkorrelationskoeffizienten (ICC), Daten von solchen Studien ausgewertet werden, die wir beim Vorbericht noch hatten ausschließen müssen. Es gab nämlich folgendes Problem: In vielen Studien flossen für den Endpunkt Attachmentlevel pro Patient viele Messungen in die Auswertungen der Studien ein, bis zu 6 Messwerte pro Zahn. Diese Daten sind voneinander abhängig, weil sie von demselben Patienten stammen. Bei den statistischen Analysen wurden diese Werte in den Studien fälschlicherweise aber so behandelt, als ob jede Messung jeweils von einem anderen Patienten oder einer anderen Patientin stammte. Dieses Vorgehen führt dann zu fälschlich kleinen Streuwerten oder Varianzen um den geschätzten Ergebniswert und damit oft zu falsch signifikanten, positiven Effekten. Für den Vorbericht hatten daher solche Studien ausgeschlossen werden müssen. Es gibt aber eine statistische Methode, diesem Fehler entgegenzuwirken, nämlich eine Korrektur der zu kleinen Streuwerte durch die Anwendung des ICC. Dieser Faktor zur Varianzkorrektur lag aber zum Vorbericht nicht vor. In der Erörterung zum Vorbericht boten uns Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Greifswald nun an, auf Basis der SHIP-Studie und SHIP-Trend-Studie die ICCs für Attachmentlevel zu errechnen. Erst auf Basis dieser ICCs konnten wir die Ergebnisse von Studien für den Abschlussbericht heranziehen, die wir für den Vorbericht hatten ausschließen müssen. Für sechs Therapieansätze gibt es einen Hinweis oder Anhaltspunkte für einen (höheren) Nutzen, meist in Hinblick auf den sogenannten Attachmentlevel. Beim Vorbericht waren es nur zwei Behandlungsarten. Das Bewertungsergebnis fällt also deutlich besser aus. Was sind die Gründe? Möglich war das aus den oben genannten Gründen: Erstens dank neuer relevanter Studien, die in den Nachrecherchen identifiziert worden waren. Zweitens aufgrund des Einschlusses von Studien unter Anwendung des ICC, die für den Vorbericht hatten ausgeschlossen werden müssen wegen fehlender Berücksichti- ZBW 10/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 15 gung der Abhängigkeit von Daten. Und drittens konnten wir erstmalig die Relevanz der Ergebnisse für den Attachmentlevel aus Studien bewerten, die wir schon in den Vorbericht eingeschlossen hatten, für die uns aber bis zur Erörterung die notwendige Irrelevanzschwelle fehlte. Randomized Controlled Trials (RCT) sind eine noch junge wissenschaftliche Disziplin. Warum wurden für das Gutachten ausschließlich diese Art von Studien berücksichtigt? Eine randomisierte kontrollierte Studie – RCT – ist der einzige Studientyp, bei dem ein Effekt kausal auf eine Intervention zurückgeführt werden kann. Denn durch die Randomisierung sind alle Behandlungsgruppen in ihren Charakteristika gleich – bis eben auf die jeweilige Intervention. Es handelt sich also um strukturgleiche Gruppen, die sich nur durch die unterschiedlichen Therapien unterscheiden. Wenn es also Unterschiede im Ergebnis zweier Behandlungsgruppen gibt, so sind diese ursächlich auf die unterschiedliche Therapie zurückzuführen. Vergleichende Kohortenstudien beispielsweise können wegen der fehlenden Randomisierung oft irreführende Ergebnisse haben, beispielsweise wenn eine Behandlungsmethode bevorzugt den schwerer Erkrankten angeboten wird. Wenn wir also RCTs zu einer Fragestellung finden oder die Durchführung von RCTs gut möglich ist, erübrigt es sich, auf Studien zurückzugreifen, die eine weitaus geringere Ergebnissicherheit besitzen. So „jung“ sind RCTs als Studiendesign in der Parodontologie übrigens nicht: Die älteste RCT, die wir für den Bericht eingeschlossen haben, wurde 1975 publiziert – also vor mehr als 40 Jahren. Insgesamt haben wir über 60 RCTs für den Bericht heranziehen können. Warum sind neben den klinisch relevanten Endpunkten wie z. B. Attachment- oder Zahnverlust nicht auch patientenrelevante Parameter wie die Lebensqualität in die Bewertung eingeflossen? Hier liegt ein Irrtum vor: Es sind tatsächlich alle patientenrelevanten Parameter in die Bewertung mit eingeflossen, für die verwertbare Daten vorlagen. Und die gesundheitsbezogene Lebensqualität gehörte dazu. Tatsächlich haben wir auch zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität Daten ausgewertet und für die Bewertung herangezogen, beispielsweise bei der Untersuchung der individualisierten Mundhygieneschulung. Nur leider haben die meisten Studien keine solchen Parameter untersucht oder berichtet, deswegen lagen nur Daten von einigen wenigen Studien zu Lebensqualität oder weiteren patientenrelevanten Parametern vor. Allgemein muss man hier zwischen klinisch relevanten und patientenrelevanten Endpunkten unterscheiden: Als patientenrelevant wird bei den Nutzenbewertungen verstanden, wie sich eine Patientin oder ein Patient fühlt, ob er in seiner Funktion oder in seinen Aktivitäten eingeschränkt ist, oder ob er überlebt. Klinisch relevante Endpunkte, die vom Patienten nicht erfahren werden, wie zum Beispiel Laborparameter oder Messwerte, die er oder sie selbst nicht wahrnimmt, werden bei der Nutzenbewertung nicht berücksichtigt. Bei dieser Gelegenheit möchte ich an die Zahnärzteschaft appellieren, doch bitte in der Forschung stets im Auge zu behalten, was Patientinnen und Patienten selbst von der Behandlung spüren, zum Beispiel in puncto mundgesundheitsbezogene Lebensqualität. Für welche anderen Bereiche sollten noch Studienergebnisse erhoben werden? Vor allen Dingen betrifft dies die strukturierte Nachsorge, hier hatten wir zur Zeit der Berichterstellung keine Studie identifiziert. Die IQuaD-Studie aus Schottland, deren Ergebnisse vor kurzem veröffentlicht wurden, hatte überwiegend parodontal Gesunde, Gingivitis-Patientengruppen oder Patienten mit nur leichter Parodontitis eingeschlossen. Hier wäre eine RCT mit Patientinnen und Patienten mit höheren Parodontitisschweregraden sinnvoll. Aber generell wäre es für viele Verfahren hilfreich, weitere Studien durchzuführen. Denn aus den bisherigen Studien konnten wir meist nur Anhaltspunkte, also recht schwache Nutzennachweise, ableiten. Welchen Einfluss hat das Stellungnahmeverfahren auf die abschließenden Ergebnisse gehabt? Wie war die Resonanz? Die Resonanz war groß – auch in der Presse. Alle Stellungnahmen wurden sorgfältig geprüft und bei jedem Argument haben ich und meine Kollegen überlegt, ob wir dem inhaltlich zustimmen können oder nicht. Einigen Argumenten sind wir gefolgt. Beispielsweise haben wir für die chirurgischen Verfahren die Ergebnisse der Gruppe mit den tiefen Zahnfleischtaschen für die Nutzenbewertung herangezogen, da chirurgische Maßnahmen in der Regel nur bei tieferen Taschen vorgenommen werden. Anderen Vorschlägen sind wir nicht gefolgt, weil das aus methodischen Gründen nicht möglich war, etwa dem Wunsch, Kohortenstudien auch miteinzubeziehen – dem steht ihre geringere Ergebnissicherheit entgegen. Bei der mündlichen Erörterung im IQWiG konnten viele offene Punkte diskutiert und geklärt werden, zum Beispiel die Irrelevanzschwelle und der ICC-Korrekturfaktor. In der Summe kann man also sagen, dass hier beide Seiten – Zahnärzteschaft und IQWiG – viel voneinander gelernt haben. Die Fragen stellte Gabriele Billischek www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2018
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