30_BERUFSPOLITIK ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de Simone Fischer und Dr. Ute Maier im ZBW-Interview „MENSCHEN MIT BEHINDERUNGEN ALS INDIVIDUEN BETRACHTEN“ Simone Fischer ist seit Oktober 2021 Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg. Sie war zuvor als Beauftragte der Landeshauptstadt Stuttgart für die Belange dieser Zielgruppe tätig. Mit der KZV-Vorsitzenden Dr. Ute Maier spricht sie im ZBW-Interview über Ziele, Chancen und Herausforderungen der zahnmedizinischen Betreuung von Menschen mit Behinderungen und was sich durch die neue PAR-Behandlung geändert hat. Simone Fischer, Beauftragte der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg ZBW: Frau Fischer, Sie sind seit Herbst 2021 im Amt als Landesbehindertenbeauftragte. Was können Sie in dieser Funktion unternehmen, um zu einer besseren zahnmedizinischen Versorgung für mehr Menschen mit Behinderungen beizutragen? Welche Ziele haben Sie sich gesetzt? Foto: A. Dressel Simone Fischer: Menschen mit Behinderungen haben uneingeschränkte Rechte auf ihre gesundheitliche Versorgung, wie Menschen ohne Behinderungen. Dies ist nicht nur eine gute Idee, sondern ein Menschenrecht, das in Artikel 3 unseres Grundgesetzes verankert ist und in Artikel 25 der UN-Behindertenrechtskonvention spezifiziert wird. Deutschland hat diese Konvention im Jahr 2009 unterschrieben und damit das Recht von behinderten Menschen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit anerkannt. Damit sind wir verpflichtet, ihnen eine unentgeltliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard zur Verfügung zu stellen wie für Menschen ohne Behinderungen. Das kann auch bedeuten, dass wir Gesundheitsleistungen anbieten, die von ihnen speziell wegen ihrer Behinderung benötigt werden. Und dass sich bestehende Systeme, Strukturen, Verordnungen, Richtlinien und Gesetze verändern und weiterentwickeln müssen. Menschen mit Behinderungen haben im Sinne der Inklusion ein Recht auf umfassende Teilhabe in allen Bereichen ihres Lebens. Darauf kann ich hinweisen und Verbesserungen einfordern. Was sind die Herausforderungen bei der zahnmedizinischen Behandlung von Menschen mit Behinderungen aus Sicht der Zahnärzteschaft? Dr. Ute Maier: Tatsächlich ist die Mundgesundheit bei dieser Zielgruppe schlechter als im Durchschnitt der Bevölkerung. Eine regelmäßige zahnärztliche Betreuung scheitert oft schon an dem ganz praktischen Problem, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, in eine Zahnarztpraxis zu kommen. Hier muss man das Thema Barrierefreiheit in den Blick nehmen und flexiblere Möglichkeiten für eine aufsuchende Betreuung schaffen. Auch die Behandlung selber ist erschwert, weil bei vielen Patienten*innen mit Behinderungen die Kooperationsfähigkeit sehr eingeschränkt ist. Bei manchen ist nur eine Behandlung in Narkose möglich. Dass der Mehraufwand bei der Behandlung in den Honoraren nicht abgebildet wird, sei am Rande bemerkt. Wie nehmen Sie dieses Thema wahr? Wie sehr ist die Mundgesundheit im Bewusstsein der Betroffenen selbst sowie bei Betreuungspersonen und Verbänden der Behindertenhilfe angekommen? Simone Fischer: Wichtig ist, dass wir Menschen mit Behinderungen als Individuen betrachten und von Pauschalisierung Abstand nehmen. Wir müssen sicher die Gesamtsituation in den Blick nehmen, das bezieht sich auf die persönlichen Ressourcen sowie die des Umfeldes. Manchmal benötigen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung mehr Impulse von außen, andere benötigen Assistenz oder die Übernahme bei der Ausführung der Mundpflege. Das Sensibilisieren und Aufklären nimmt sicher einen hohen Stellenwert ein. Insgesamt stelle ich fest, dass das Thema Zahngesundheit bei den von Ihnen angesprochenen Zielgruppen mittlerweile mehr im Fokus ist. Klar ist, dass Mundgesundheit zu stärkerer Lebensqualität aller beiträgt. Entsprechende Hygiene-Maßnahmen werden konsequenter verfolgt. Ganz konkret: Werden alle Betroffenen mit zahnmedizinischen Versorgungsangeboten erreicht oder sehen Sie da noch Defizite? Simone Fischer: Für Menschen mit Behinderungen gestaltet sich die Suche nach einer passenden Zahnärztin bzw. einem passenden Zahnarzt oft schwierig. Viele Arztpraxen sind nicht barrierefrei und nicht alle Zahnärzte*innen sind firm und sicher im direkten Umgang mit
ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de 31_BERUFSPOLITIK Menschen mit Behinderungen, dann bestehen Hemmungen, diese als Patient*innen aufzunehmen. Hier muss man auf jeden Fall nachbessern. Der formale Anspruch auf die Behandlung ist das eine, die tatsächliche Versorgung im Einzelfall ist jedoch etwas anderes. Was hat die KZV BW in den letzten Jahren unternommen, damit mehr Menschen mit Behinderungen von einer regelmäßigen Versorgung profitieren? Dr. Ute Maier: Die Verbesserung der Betreuung von Menschen mit Behinderungen hat für uns seit Jahren einen hohen Stellenwert. Selektivvertraglich sind Versorgungsangebote möglich, die deutlich über den GKV-Leistungskatalog hinausgehen. Gemeinsam mit der AOK haben wir im Bereich der damaligen KZV Tübingen schon vor über 20 Jahren eine Sonderregelung getroffen, die nicht erst bei akutem Behandlungsbedarf, sondern schon bei der Prophylaxe angesetzt hat. Landesweit gibt es seit 2007 eine zusätzliche, immer wieder angepasste Vereinbarung zur besseren Versorgung von Patienten*innen mit schweren körperlichen bzw. geistigen Einschränkungen und multiplen Vorerkrankungen. Auch mit anderen gesetzlichen Krankenkassen sind wir dazu in einem fachlichen Austausch. Wo gibt es Nachholbedarf? Simone Fischer: Die Aufklärung sowie Prävention der Betroffenen und des Umfeldes ist das eine. Wie gesagt, die Ärzteschaft muss sich auf die Patienten*innen einstellen, ihre Türen öffnen und bereit sein, zu den Menschen hinzugehen. Ich begrüße die mittlerweile zusätzlich geschaffenen Möglichkeiten für Menschen, die Eingliederungshilfe nutzen, und Menschen mit Pflegegrad, beispielsweise die Zuschläge für Besuchsgebühr bei Immobilität. Dr. Ute Maier: Die Versorgung muss so vielfältig sein wie die Lebensumstände der Betroffenen. Das bedeutet: Barrierefreie Praxen, aufsuchende Betreuung im privaten Umfeld wie in Wohneinrichtungen, perspektivisch auch Hol- und Bringdienste – mit diesem Instrumentarium müssen individuell zugeschnittene Versorgungsangebote möglich sein. Aber man muss bereits bei der Mundpflege ansetzen und – wo diese nicht selbstständig oder nur eingeschränkt möglich ist – auch das Pflegepersonal besser und zielgerichteter qualifizieren. Und die Pflegekräfte brauchen Zeit, um sich gezielt der Mundpflege anzunehmen. 2021 sind neue GKV-Leistungen zur Parodontitisbehandlung in Kraft getreten. Dazu gehört eine eigene niedrigschwellige Behandlungsstrecke für Versicherte nach § 22a SGB V. Können Sie in wenigen Worten die wichtigsten Aspekte beschreiben? Dr. Ute Maier: Durch die Anpassung der Behandlungsrichtlinie in Bezug auf die Parodontitis-Behandlung von pflegebedürftigen Menschen und Menschen mit Behinderungen gibt es für diese niedrigschwelligen Zugang zu einer individuell zugeschnittenen Versorgung, der auf bürokratische Hürden verzichtet. Das Antrags- und Genehmigungsverfahren mit den Krankenkassen entfällt, es besteht lediglich eine Anzeigepflicht. Auch die Behandlungsstrecke ist so gestaltet, dass die Belastung für die Betroffenen deutlich gemindert wird. Nach der Behandlung gibt es eine gezielte strukturierte Nachsorge über zwei Jahre. Haben Sie in Bezug auf diese niedrigschwellige Behandlungsstrecke schon erste Erfahrungswerte? Wie werden die letztes Jahr in Kraft getretenen Neuerungen in Bezug auf die Parodontitisbehandlung in Anspruch genommen? Simone Fischer: Wie eingangs schon erwähnt, bedarf es oft individuellerer Lösungen, die im klassischen System noch schwierig umzusetzen sind. Das Kassensystem passt einfach immer und immer wieder nicht zu diesen Menschen. Es braucht einen individuelleren Ansatz, orientiert am Bedarf des jeweiligen Menschen. Durch die Neuerungen öffnet sich das System schon etwas und es verändert sich hoffentlich noch mehr in Richtung Teilhabe und Personenzentrierung. Ich ermuntere alle Seiten, diese Chancen wahrzunehmen und den Paradigmenwechsel mitzugestalten. Eine Parodontitis-Behandlung erstreckt sich oft über mehrere Jahre. Wann lässt sich bilanzieren, welche Verbesserungen es bei dieser Zielgruppe tatsächlich gibt? Dr. Ute Maier, Vorsitzende des Vorstands der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg Dr. Ute Maier: Das wird sich von Einzelfall zu Einzelfall stark unterscheiden, je nachdem, in welchem Stadium eine Parodontitis diagnostiziert und die systematische Behandlung begonnen wird. Wichtig ist, dass wir einen Einstieg geschafft haben und es die rechtliche Grundlage gibt. Der Erfolg dieser neuen Leistungen wird auch daran gemessen werden, wie gut wir bei den regelmäßigen zahnmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen für die vulnerablen Gruppen vorankommen. Deswegen bin ich sehr dankbar für den Einsatz von Simone Fischer und die Möglichkeit, dass wir uns hier in einen regelmäßigen Austausch begeben. Was sind Ihre Wünsche und Forderungen an die Politik, um die Versorgung für Menschen mit Behinderungen weiter zu verbessern? Simone Fischer: Wir brauchen bessere Zugänge für Menschen mit Behinderungen in ein barrierefreies und inklusives Gesundheitssystem. Des Weiteren helfen Kooperationen der Zahnärzteschaft mit Schulen sowie den Einrichtungen der Eingliederungshilfe. Dazu müssen Studierende der Zahnmedizin genauso sensibilisiert, aufgeklärt und vorbereitet sein ebenso wie Mitarbeitende in den jeweiligen Einrichtungen. Dr. Ute Maier: Wir haben in den letzten Jahren große Fortschritte bei der Behandlung von Pflegebedürftigen erzielen können. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir jedes Jahr mehr Kooperationen zwischen niedergelassenen Zahnärzte*innen und stationären Pflegeeinrichtungen haben. Eine entsprechende Verpflichtung für Wohneinrichtungen von Menschen mit Behinderungen wäre sehr hilfreich. Das Gespräch führte Dr. Holger Simon-Denoix Foto: M. Stollberg
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