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Nachhaltigkeit in der Zahnmedizin

Ausgabe 7/2022

22_BERUFSPOLITIK

22_BERUFSPOLITIK ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de Interview mit Prof. Dr. Andreas Rainer Jordan, IDZ Köln TRENDS IN DER MUNDGESUNDHEIT BIS 2030 Zu den Trends in der Mundgesundheit sprachen wir mit Prof. Dr. A. Rainer Jordan, dem wissenschaftlichen Direktor des IDZ Köln. Das Institut der Deutschen Zahnärzte führt seit 1989 regelmäßig die Deutschen Mundgesundheitsstudien durch. Auf dieser Grundlage wurde die weitere Entwicklung der Mundgesundheit in Deutschland hochgerechnet und mit der Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zusammengeführt. So sind die Prognosen bis zum Jahr 2030 entstanden. Mit der 6. Deutschen Mundgesundheitsstudie ab Herbst dieses Jahres werden die Prognosen verfeinert und weiter in die Zukunft entwickelt. ZBW: Welche Trends im Behandlungsbedarf in Bezug auf Alter und Sozialstatus der Patienten sind erkennbar? Prof. Dr. A. Rainer Jordan: Bei Kindern können wir auf besonders langfristige Trends der Kariesentwicklung zurückblicken. Die 12-Jährigen hatten 2014 nur noch ein Zehntel der Karieserfahrung gleichaltriger Kinder im Jahr 1997: Durchschnittlich weist nur noch jedes zweite Kind in Deutschland einen Zahn mit einer Karieserfahrung auf. 81 Prozent der Kinder sind sogar kariesfrei. Das bedeutet jedoch auch, dass sich die gesamte Karieslast auf knapp 20 Prozent der Kinder in Deutschland verteilt. Gleichzeitig sehen wir, dass Kinder aus niedrigen sozialen Verhältnissen in der Vergangenheit überdurchschnittlich von der Prävention profitiert haben: Der Anteil kariesfreier Kinder hat hier seit 1997 um den Faktor 9 (von 8,6 Prozent kariesfrei auf 74,8 Prozent) zugenommen, bei Kindern aus mittlerem Sozialstatus noch um den Faktor 6 (von 14,2 Prozent auf 82,1 Prozent). Erste Anzeichen für einen Kariesrückgang sehen wir mittlerweile auch bei den Erwachsenen, bei denen sowohl seit der Jahrtausendwende doppelt so viele Zähne erhalten wurden, als auch die Anzahl der Füllungen rückläufig ist. Wie wirkt sich diese Entwicklung auf die Lebensdauer des Zahnes bzw. auf dessen sogenannte „Todesspirale“ aus? Als Todesspirale wird in der Wissenschaft das Phänomen bezeichnet, dass eine einmal eingeleitete invasive Behandlung an einem Zahn (zumindest mit den Technologien aus der Vergangenheit) häufig dazu führte, dass Folgerestaurationen immer größer wurden und nach vielen Zwischenschritten (z. B. Wurzelbehandlung, Wurzelspitzenresektion) am Ende die Extraktion stand. Man erinnere sich an die Black´sche Losung: Extension for prevention. Inwiefern diese klassische Todesspirale heutzutage noch zutrifft, ist in der Wissenschaft nicht eindeutig geklärt. Logisch erscheint jedoch, dass sich bei einer späteren ersten Restauration sich umfangreiche und stärker risikobehaftete Zahnbehandlungen hinauszögern lassen. Im Idealfall steht dann im Seniorenalter nicht die Extraktion im Vordergrund, sondern vielleicht erst die Wurzelkanalbehandlung. Mit den heutigen Gesundheitstechnologien ist zudem damit zu rechnen, dass Versorgungen länger halten und insofern sich auch die Abstände der Folgetherapien vergrößern. Alles in allem führt dies zu vermehrtem Zahnerhalt – und den sehen wir ja bereits in allen Altersgruppen. Wie entwickelt sich vor dem Hintergrund des demographischen Wandels die „Volkskrankheit Parodontitis“ in Bezug auf die jeweiligen Altersgruppen? Wir haben in der 5. Deutschen Mundgesundheitsstudie von 2014 beinahe eine Halbierung der schweren Parodontalerkrankungen in allen Altersgruppen festgestellt und der Anteil parodontal gesunder Menschen ist gestiegen. Dieser epidemiologische Trend hat sich so zum ersten Mal dargestellt. Unsere Prognosen gehen in die Richtung, dass über alle Altersgruppen hinweg die Parodontitisfälle weiter rückläufig sein werden, sodass wir insgesamt in der Bevölkerung in Deutschland etwa 10 Millionen weniger parodontal erkrankte Menschen haben werden als zur Jahrtausendwende. Dieser generelle Trend des Rückgangs der oralen Krankheitslasten ist auch bei der Karies zu sehen. Allerdings fällt unsere Prognose bei der Parodontitis etwas differenzierter aus: Jüngere Menschen bis etwa 50 Jahre werden 2030 weniger Parodontitiszähne aufweisen als vor 30 Jahren (z. B. 40-Jährige mit knapp acht parodontal erkrankten Zähnen im Jahr 1997 auf etwa drei Parodontitiszähne). Stattdessen erwarten wir, dass sich die Anzahl parodontal erkrankter Zähne, beispielsweise bei den 70-Jährigen, von damals vier, nahezu auf etwa 12 Zähne verdreifacht. Das bedeutet, dass zwar insgesamt weniger Personen parodontal behandlungsbedürftig werden; dafür steigt die Anzahl der Parodontitiszähne pro Behandlungsfall teilweise erheblich. Werden zukünftige Senioren trotz des prognostizierten abnehmenden „Zahnverlustes“ mehr parodontal behandelt werden müssen? Das Alter ist einer der größten Prädiktoren für eine Parodontitis. Durch mehr Zahnerhalt stehen daher bei Senioren auch mehr Zähne im Risiko für eine parodontale Erkrankung. Während im Jahr 1997 die 65- bis 74-jährigen Senioren durchschnittlich noch 4,5 Parodontitiszähne aufwiesen, waren es 2014 bereits 7,5 Zähne. Für das Jahr 2030 erwarten wir, dass durchschnittlich jeder Senior etwa 12 parodontal erkrankte Zähne aufweist. Dies ist allein in dieser Altersgruppe ein Behandlungsvolumen von etwa 140 Millionen Zähnen. Hinzu mögen allgemeinmedizinische Zustände kommen, die die parodontologische Prognose nicht gerade begünstigen, wenn man beispielsweise an Medikamente denkt, die Einfluss auf die Speichelmenge haben und damit bei freiliegenden

ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de 23_BERUFSPOLITIK Wurzeln infolge der Parodontitis zusätzlich das Risiko für Wurzelkaries erhöhen. Insgesamt erwarten wir (seit der Jahrtausendwende) bei den Senioren eine Verdreifachung des parodontalen Behandlungsbedarfs. Was bedeutet das generell für die zahnärztliche Berufsausübung? Wir sehen als generellen Trend der Mundgesundheit eine Verschiebung der Krankheitslasten in das höhere Alter. Dies ist vermutlich auch ein Ergebnis der nunmehr langjährigen präventiven Ansätze in der Zahnmedizin, die in den späten 1980er Jahren mit der Einführung der Individual- und Gruppenprophylaxe bei Kindern und Jugendlichen eingesetzt haben und mittlerweile auch regelmäßig als professionelle Zahnreinigung von allen Altersgruppen in Anspruch genommen werden. Zukünftige Behandlungsschwerpunkte in der Zahnmedizin werden daher weiterhin in der präventiven Betreuung aller Altersgruppen liegen. Die Fragen stellte Rocco Nemitz. LZK-Klausur am 4. Juni 2022 IP NIVELLIERT SOZIALE UNTERSCHIEDE Als Gastreferent informierte Prof. Dr. A. Rainer Jordan, wissenschaftlicher Leiter des IDZ Köln, den LZK-Vorstand über die prognostizierten zahnmedizinischen Entwicklungen insbesondere bei Karies- und Parodontalerkrankungen bis 2030. Vorstandsklausur 2022. LZK-Vorstand und Geschäftsführer*innen in sommerlicher Atmosphäre: Christine Martin, Dr. Wilfried Forschner, Dr. Dr. Heinrich Schneider, Katrin Sump, Dr. Norbert Struß, Gastreferent Prof. A. Rainer Jordan, Dr. Robert Heiden, Dr. Torsten Tomppert, Dr. Bert Bauder, Thorsten Beck, Dr. Peter Riedel, David Richter, Dr. Frank Winkeler, Dr. Hendrik Putze, Axel Maag (nicht auf dem Foto: Dr. Eberhard Montigel) (v. l.). Interessant ist die gesellschaftlich wertvolle Erkenntnis, dass insbesondere die Fissurenversiegelung im Rahmen der Individualprophylaxe ein hervorragendes Instrument zur Nivellierung sozialer Unterschiede bei der Kariesprävalenz darstellt, da Kinder mit niedrigem Sozialstatuts besonders von diesen Präventivmaßnahmen profitieren. Zur Festigung dieser Erfolge wäre es aus epidemiologischer und sozialmedizinischer Sicht sinnvoll, so Jordan, die von der LZK initiierte Forderung aufzugreifen, das verpflichtende Zähneputzen in Kitas im Kinderschutzgesetz des Landes rechtlich zu verankern. SPÄTERE BEHANDLUNGSLAST Laut wissenschaftlicher Prognose des IDZ wird der Bedarf an zahnärztlichen Behandlungen zukünftig nicht einbrechen. Ganz im Gegenteil. Die Behandlungslasten werden sich durch längeren Zahnerhalt ins höhere Lebensalter verschieben. Bis 2030 werden im Vergleich zu 1997 zum Beispiel drei- bis viermal so viele parodontal erkrankte Zähne bei den Senioren zu behandeln sein. Prophylaxe und Alterszahnheilkunde werden somit stark an Bedeutung gewinnen. Vor diesem Hintergrund ist die LZK Baden-Württemberg gut aufgestellt und besitzt mit ihren LZK-Referenten für Alterszahnheilkunde und Inklusive Zahnmedizin die nötige Fachexpertise. Entsprechende Konzepte zur Verbesserung der Mundgesundheit für diese Altersgruppen wurden bereits umfänglich erarbeitet und finden bundesweit Beachtung. Foto: R. Nemitz HANDLUNGSBEDARF BEI GOZ Allerdings gibt es noch massiven Handlungsbedarf, was zum Beispiel die fehlende Honorierung der Leistungen im Bereich Alterszahnheilkunde und Inklusive Zahnmedizin im Rahmen der Zahnärztlichen Gebührenordnung betrifft. Neben der Neubeschreibung der GOZ mit neuen Analogpositionen für die Alterszahnheilkunde sind Gespräche mit der PKV notwendig, um den zusätzlichen Herausforderungen gerecht zu werden. In der weiteren Diskussion wurden auf Basis des demografischen und innerprofessionellen Wandels die derzeit schwierigen Bedingungen für die Niederlassung in freiberuflicher selbstständiger Tätigkeit diskutiert. Auch hier ist die Kammer mit ihrem Angebot einer Niederlassungsberatung bestens aufgestellt. Einhelliger Tenor in Bezug auf die zunehmende Anzahl von Praxisabgaben war, das Dienstleistungsangebot für die älteren Kammermitglieder weiter auszubauen. Passende Konzepte sind bereits in Bearbeitung. ZUSÄTZLICHES ANGEBOT PRÜFEN Zum Themenbereich Studierende wurde unisono konstatiert, dass die Studierenden der Zahnmedizin auf Grund einer Umfrage und auf eigenen Wunsch weitere Unterstützungsbedarfe angemeldet haben. Begrüßt wurde der Vorschlag, in Absprache mit den Universitäten die Möglichkeit zu prüfen, inwieweit die Kammer denjenigen Studierenden, die freiwillige Kammermitglieder sind oder werden wollen, diesbezüglich weiterhelfen kann. Rocco Nemitz

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