16_TITELTHEMA ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de Interview mit Dr. Linnea Borglin AUF DEM WEG ZU EINER NACHHALTIGEN ZAHNMEDIZIN negative Umweltbilanz. Zahnmedizinische Behandlungen. Eine auf umweltfreundliche Praktiken ausgerichtete Denkweise ist entscheidend für die Reduzierung der Umweltauswirkungen der Zahnarztpraxis. Foto: shutterstock.com/DeanBertonceli ZBW: In Ihrer Masterarbeit fokussieren Sie sich auf Verbrauchsmaterialien in der Zahnmedizin. Sie nehmen aber auch die Emissionen in den Blick, die z. B. in Lieferketten entstehen. Was sind die größten Posten im Praxisalltag, die sich negativ auf die Umwelt auswirken? Dr. Borglin: In meiner Masterarbeit haben wir die Lebenszyklusanalyse 1 angewendet, um die Hotspots oder andere Bereiche mit hohen Auswirkungen auf die Umwelt zu identifizieren. Diese hat uns ermöglicht, Arbeitsabläufe oder Produkte mit einer unverhältnismäßig negativen Auswirkung zu identifizieren und auch die größten Hotspots in Bezug auf die Umweltbelastung der Zahnmedizin festzustellen. Zu diesen gehören Seifen mit deren Bestandteilen, Einweglätzchen, Mittel zur Oberflächendesinfektion, Edelstahlinstrumente, Arbeitskleidung, Frischwasserverbrauch und Abwasser. Durch die Identifizierung der Hotspots ist es allen in der Zahnmedizin Tätigen möglich, nachhaltigere Entscheidungen zu treffen. Duane et al. haben bereits beschrieben, dass Fahren von Patienten und Mitarbeitern zu mehr als 60 Prozent der Umweltauswirkung, also CO2-äquivalenten Emissionen, führen. Daher wurde dies aus der Arbeit ausgeschlossen. 1 Die Lebenszyklusanalyse oder LCA ist ein Werkzeug zur Berechnung der Umweltbelastung eines Produkts oder Prozesses während des gesamten Lebensweges. Zur LCA gehören sämtliche Umweltauswirkungen zum Beispiel während der Produktion, der Nutzungsphase und der Entsorgung des Produktes.
ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de 17_TITELTHEMA » Eine klimaneutrale Zahnarztpraxis ist definitiv eine Möglichkeit für die Zukunft. Wir müssen einfach anfangen.« ZÄ Linnea Borglin ZÄ Linnea Borglin Foto: Zahnarztpraxis Sari Die größte Herausforderung war die Datenerhebung. Bei einer Lebenszyklusanalyse sind viele Aspekte zu berücksichtigen. Dies war ein neues Konzept für uns und ist derzeit in der Zahnmedizin nicht üblich. In unserer Studie haben wir die Auswirkungen von einer Kontrolluntersuchung, einer PA-Behandlung und einer endodontischen Behandlung quantifiziert und dadurch identifiziert, welche Prozesse oder Produkte am meisten zur Umweltbelastung beitragen. Die einzelne Kontrolluntersuchung ist nicht unbedingt eine ressourcenintensive Behandlung. Wenn man jedoch bedenkt, wie viele Untersuchungen jährlich durchgeführt werden, stellt dies die Ergebnisse in eine andere Perspektive. Welche Behandlungseinheiten sind dabei für die Umwelt besonders belastend und warum? Seifen und die Nutzung verschiedener Waschmittel sind wegen der enthaltenen Tenside eine der umweltschädlichsten Beiträge der Zahnmedizin, aber ein Beitrag, der nicht verhindert werden kann. Beim Einkauf kann man versuchen, Reinigungsmittel mit Biotensiden anstelle von synthetischen Tensiden zu kaufen, da diese in der Regel umweltfreundlicher sind. Hilfreich ist auch, die Thermodesinfektoren und etwaige Waschmaschinen erst zu starten, wenn die maximale Ladekapazität erreicht ist, um die Reinigungszyklen möglichst gering zu halten. Einmallätzchen, die aus Hygienepapier bestehen, tragen signifikant zu der Umweltbelastung einer Untersuchung bei. Einige Autoren (Mikusinska, Overcash) haben anhand der Vergleichsuntersuchung von einmal und wiederverwendbarer OP-Kleidung gezeigt, dass wiederverwendbare Produkte umweltfreundli- - - cher sind. Daher sollte der Anwender entscheiden, ob man wiederverwendbare Lätzchen benutzt oder sich die Frage nach Alternativen unter Berücksichtigung der Trade-offs auf die Umwelt stellen. Die Produktion und Nutzung von Kasaks aus Baumwolle haben auch eine bedeutende Umweltauswirkung. Stoffe aus Bambus oder recycelten Kunststoffen sind möglicherweise umweltfreundlicher, aber auch hier müssen die Tradeoffs auf die Umwelt berücksichtigt werden. Wie kann man bei diesen Behandlungen nachhaltiger zahnmedizinisch arbeiten? Gelingt das in Ihrem Praxisalltag? Einer der wichtigsten Wege, um auf eine nachhaltigere Zahnarztpraxis hinzuarbeiten, ist die Prävention. Ich versuche auf jeden Fall, meine Patienten darüber aufzuklären, wie diese ihr Krankheitsrisiko und damit ihren Behandlungsbedarf reduzieren können. Wenn es um endodontische und parodontale Behandlungen geht, bedeutet es für die Planung der Behandlungen, die Therapie möglichst in einem einzigen Besuch abzuschließen. Daraus resultieren weniger Reisen für den Patienten, weniger Instrumente und damit eine geringere Umweltbelastung. Dies versuche ich bei der Planung meiner Behandlungen umzusetzen und genau abzuwägen, welche Instrumente und Einwegprodukte, wie z. B. Watterollen, ich benötige. Was waren bei Ihrer Untersuchung die größten Herausforderungen? Welche konkreten Maßnahmen empfehlen Sie einer Praxis, die ihren CO2- Fußabdruck verringern will? Eine auf umweltfreundliche Praktiken ausgerichtete Denkweise ist entscheidend für die Reduzierung der gesamten Umweltauswirkungen Ihrer Zahnarztpraxis. Dies gilt nicht nur für Sie, sondern für Ihr gesamtes Team und Ihre Patienten. Informieren Sie sich, Ihre Kollegen und Patienten über nachhaltige Praktiken und Möglichkeiten zur Reduzierung des CO2-Ausstoßes. Beginnen Sie mit kleinen Änderungen. Ermutigen Sie Ihre Mitarbeiter und Patienten, Ihre Praxis mit öffentlichen Verkehrsmitteln, mit dem Fahrrad oder sogar zu Fuß zu erreichen. Erwägen Sie, Glühbirnen gegen energiesparende LEDs auszutauschen und auf Bio-Reinigungsmittel umzusteigen. Kaufen Sie lokal produzierte Instrumente und Produkte und treffen Sie aktive Materialentscheidungen unter Berücksichtigung der Auswirkungen Ihrer Einkäufe und Arbeitsabläufe. Eine CO2-neutrale oder gar positive Zahnarztpraxis bzw. eine zahnärztliche Behandlung – wird es das in Zukunft geben? Eine klimaneutrale Zahnarztpraxis ist definitiv eine Möglichkeit für die Zukunft. Die CO2-Neutralität wird nicht über Nacht kommen, aber wir können sie erreichen, wenn Einzelpersonen und Organisationen sich der globalen Bewegung anschließen, um unsere Welt zu verändern. Wir müssen einfach anfangen. Das bedeutet Maßnahmen zu ergreifen, wo immer wir können – alles im Interesse der Gesundheit unseres Planeten, unserer eigenen und zukünftiger Generationen. Die Fragen stellte Alexander Messmer
Laden...
Laden...
Informationszentrum Zahn- und Mundgesundheit Baden-Württemberg (IZZ)
Haus: Heßbrühlstraße 7, 70565 Stuttgart
Post: Postfach 10 24 33, 70200 Stuttgart
Telefon: 0711 222 966 0
Fax: 0711 222 966 20
presse@izzbw.de
Eine Einrichtung der Kassenzahnärztlichen
Vereinigung Baden-Württemberg
& der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg
© by IZZ Baden-Württemberg - Impressum - Datenschutz