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Nachhaltigkeit in der Zahnmedizin

Ausgabe 7/2022

10_TITELTHEMA ZBW_7/2022

10_TITELTHEMA ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de Nachhaltige Zahnmedizin MEHR ALS ENERGIE SPAREN UND MÜLL SORTIEREN Foto: AdobeStock/romaset Bei den Beschreibungen zur planetaren Gesundheit wurde herausgearbeitet, dass Klimaschutz gleichzeitig Gesundheitsschutz bedeutet. In Sachen Klimaschutz steht der Gesundheitssektor allerdings am Pranger. Die weltweit tätige Nichtregierungsorganisation „Health Care Without Harm“ will ermittelt haben, dass weltweit 4,2 und in Deutschland 5,2 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen auf die Gesundheitsbranche entfallen. Dies sei mehr als der gesamte Flug- oder Schiffsverkehr. Daher liegt es auf der Hand, dass wir uns mit unseren Praxen auf den Weg in eine nachhaltige Zukunft machen sollten. Trotzdem soll in diesem Beitrag darauf hingewiesen werden, dass wir neben den unmittelbaren Bemühungen, wie z. B. der Vermeidung von Abfall und der Reduktion des Energiebedarfs, in jedem Fall auch den Aspekt der Präventions- und Präzisionsmedizin in den Blick nehmen müssen – denn nichts schont die begrenzten Ressourcen und die Umwelt mehr als eine nicht mehr notwendige Behandlungssitzung. NACHHALTIGE GESUNDHEIT Im Gelöbnis der Musterberufsordnung der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) steht niedergeschrieben, dass die Gesundheit und das Wohlergehen unserer Patienten*innen unser oberstes Anliegen sein soll. Nicht zuletzt auf der Basis dieses Bekenntnisses beruht ein Selbstverständnis unserer Profession, dass wir generell „Gutes“ tun, da wir uns um die Gesundheit unserer Patienten*innen bemühen. Eine nachhaltige Medizin rückt nach Siegmund et al. 3 die Prävention und die Heilung in den Vordergrund. Oberstes Ziel muss es sein, Krankheiten zu vermeiden. Für die Behandlung Erkrankter sollten durch die biomedizinische Forschung regenerative Verfahren und biologische Therapien entwickelt werden, mit deren Hilfe nicht nur Symptome behandelt, sondern eine Bekämpfung der Ursachen von Erkrankungen erfolgen und eine tatsäch- 1. Erdmann A, Rehmann-Sutter C, Bozzaro C. Patients’ and professionals’ views related to ethical issues in precision medicine: a mixed research synthesis. BMC Medical Ethics 2021;22:1-18. 2. Schmidt JG. Nachhaltige Medizin oder nachhaltige Gesundheit? Schweizerische Ärztezeitung 2014;95:259-262. 3. Siegmund B, Löhning M, Ganten D, Marek RM. Einführung in das Thema. In: Radbruch A, Reinhart K (Hrsg) Nachhaltige Medizin. Berlin: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, 2021, 9-14. 4. Walter J. Qualität und Prävention im Gesundheitswesen. Wirtschaftsdienst 2002;82:160-166.

ZBW_7/2022 www.zahnaerzteblatt.de 11_TITELTHEMA » Britta Siegmund et al. (2021) liche Heilung erzielt werden kann. Bei einer immer älter werdenden Bevölkerung und der damit verbundenen, stetig steigenden Anzahl an notwendigen Behandlungen chronisch erkrankter Patienten scheint dieses übergeordnete Ziel in jedem Fall gerechtfertigt. Ein weiterer von Johannes G. Schmidt 2 herausgestellter Aspekt ist, dass es in vielen Bereichen der Medizin keine festen Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit gibt. Ebenso ist zu konstatieren, dass pathologische Befunde nicht selten falsch positiv oder das Resultat der natürlichen Variation sind. So gibt es eine Vielzahl pathologischer Befunde, die für die betroffenen Menschen auch dauerhaft keine Einschränkung der Gesundheit bedeuten. Damit stellt sich die Frage nach der Behandlungsbedürftigkeit von Abweichungen von der Norm oder von per medizinischer Definition pathologischer Befunde. Nach Schmidt fördert unser Gesundheitssystem in seiner aktuellen Gestalt das Risiko, dass Gesunde im beschriebenen Sinne in einem wachsenden Ausmaß durch die Medizin „krank gemacht“ werden, eine Überdiagnostik oder gar eine Übertherapie im Sinne einer Maximalmedizin erfahren. Als ein Baustein auf dem Weg aus diesem Dilemma wird die evidenzbasierte Medizin gesehen, welche die (dringend notwendigen) systematischen Fragen nach Erfolgskriterien im Sinne eines klinisch relevanten Nutzens von medizinischer Diagnostik und Therapie stellt. « ist Garant für Behandlungserfolge, die sich ihrerseits wieder positiv auf die Erlöse auswirken, denn bis heute beurteilen die Patienten*innen die Qualität von Ärzten*innen häufig noch nach dem Erfolg der kurativen und nicht der präventiven Leistung. Vor dem Hintergrund der Debatte über eine nachhaltige Medizin und Gesundheitsförderung und der Klimakrise scheint es geradezu absurd, dass für eine meist „sprechende“ Präventionsmedizin, die einen weiteren Therapiebedarf und damit weitere Kosten und eine Umweltbelastung vermeidet, keine aäquate Vergütung im Gesundheitssystem vorgesehen ist. Ein Bonus für die Vermeidung der Notwendigkeit von Therapie wäre eine mögliche Präventions- bzw. Gesundheitskomponente bei der Vergütung von Zahnärzten*innen und würde zusätzliche Anreize und auch Erfolge im Sinne der Nachhaltigkeit schaffen. Die Gedanken unserer standespolitischen Vertreter gehen noch weiter. Die BZÄK betonte 2021 vor der Bundestagswahl in einer Stellungnahme, dass Zahnärzte*innen einen breiten Zugang zur Bevölkerung haben, da viele Patienten*innen regelmäßig zur Vorsorge vorstellig werden. Hieraus ergibt sich ein bisher kaum genutztes Potenzial, die Zahnärzteschaft in eine systematische präventive Aufklärung z. B. über die Krebs-Risiken bei Tabakkonsum, das Diabetes- und Herz-Kreislauf-Risiko durch Fehlverhalten bei der Ernährung oder eine Kurzintervention für einen Rauch-Stopp im Rahmen der zahnärztlichen Aufklärung einzubinden. MODERNE METHODEN Neben der Notwendigkeit der Entwicklung von Strategien zur individuell angepassten Primär- und Sekundärprävention ist es auch für die Zahnmedizin notwendig, dass moderne Methoden Einzug in die gesetzliche Gesundheitsversorgung erlangen, sobald bewiesen ist, dass sich die Prognose für den Patienten gegenüber den bisher etablierten Techniken signifikant verbessert, die Ressourcen geschont und Behandlungssitzungen eingespart werden können. Als Beispiele seien hier die Single- Visit-Behandlung in der Endodontologie oder die digitale Prothetik genannt. Ebenso ist die Entwicklung der sogenannten Präzisionsmedizin zukünftig ein wichtiger Baustein 1 . Dieser liegt der Gedanke zugrunde, dass die Behandlungsmethoden im Sinne einer effektiven Theapie maximal präzise auf das individuelle Beschwerdebild des Erkrankten zugeschnitten werden. Hierbei werden zukünftig genetische, biomedizinische, soziale, kulturelle und durch die Umwelt bedingte Faktoren vermehrt eine Rolle spielen. RESÜMEE Für eine nachhaltige Entwicklung von Gesundheit bedarf es neben der stetigen Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsstrategien ebenfalls einer intakten, „gesunden“ Umwelt und einer systematischen Gesundheitsförderung. Eine nachhaltige Zahnmedizin sollte auf die Vermeidung von Krankheit fokussieren. Es bedarf wissenschaftlicher Bemühungen zur Entwicklung einer individuell angepassten Präventions- und Präzisionsmedizin. Ohne eine adäquate Förderung und Vergütung ist die Umsetzung solcher Maßnahmen in wünschenswerter Geschwindigkeit nicht zu erwarten. PD Dr. Daniel Hellmann PRÄVENTION Seit Jahrzehnten wird darauf hingewiesen, dass sich die Prävention für die ärztlichen Leistungserbringer im Gesundheitswesen lohnen muss 4 . Im Rahmen der Einführung des Präventionsgesetzes wurde dieser Erkenntnis bisher allerdings nur unzureichend Rechnung getragen. Dem eingangs erwähnten Berufsethos entsprechend, streben die Zahnärzte*innen eine hohe Behandlungsqualität an. Diese » Gesunde und von selber Gesundende werden in wachsendem Ausmaß durch die Medizin krank gemacht.« Johannes G. Schmidt (2014)

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