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Mundgesundheit im Wandel der Zeit

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Ausgabe 10/2017

28 Fortbildung

28 Fortbildung Psychosomatische Erkrankungen Auswirkungen von Essstörungen und Adipositas auf die Zahngesundheit Essstörungen sind eine der häufigsten psychosomatischen Erkrankungen in der westlichen Welt. Betroffene Patienten weisen häufig orale Erosionen auf, die durch regelmäßiges Erbrechen hervorgerufen werden. Übergewichtige und adipöse Patienten zeigen hingegen aufgrund von typischen Ernährungsgewohnheiten häufig eine erhöhte Kariesprävalenz. Der folgende Beitrag soll behandelnden Zahnärztinnen und Zahnärzten das Erkennen erster Anzeichen einer Essstörung erleichtern und Hilfestellungen bei der Einleitung prophylaktischer und therapeutischer Maßnahmen geben. Definitionen. Erkrankungen aus dem Bereich der Essstörungen sind durch ausgeprägte Veränderungen des Essverhaltens charakterisiert und können sich in verschiedenen Krankheitsbildern darstellen: Anorexia nervosa zeichnet sich durch eine starke, selbst herbeigeführte Gewichtsabnahme aus, die sich bis zu einer lebensbedrohlichen Unterernährung entwickeln kann. Die Magersucht basiert dabei primär auf einer Körperschemastörung, aufgrund derer sich die betroffenen Personen als „dick“ empfinden [American Psychological Association 1994]. Die Diagnose Anorexia nervosa wird gestellt, wenn das Körpergewicht mindestens 15 Prozent unterhalb der Norm bzw. der Body-Mass-Index unter 17,5 kg/ m 2 liegt. Bei etwa der Hälfte der anorektischen Patienten können im Verlauf der Erkrankung Heißhungerattacken mit Purging-Verhalten (Erbrechen, Laxanzien- oder Diuretikamissbrauch) auftreten. Die Lebenszeitprävalenz für Anorexia nervosa liegt zwischen 0,3 und 3,7 Prozent. Die höchsten Inzidenzraten sind dabei vom 10. bis 19. Lebensjahr zu beobachten, wobei es zunehmend zu einer Verschiebung des Krankheitsbeginns in jüngere Altersgruppen kommt. Mädchen haben im Vergleich zu Jungen ein 12-fach erhöhtes Risiko an Anorexia nervosa zu erkranken [Currin et al. 2005; Voderholzer et al. 2012]. Bulimia nervosa ist charakterisiert durch hochkalorische Essanfälle (bis zu 10.000 kcal), denen unmittelbar gewichtsreduzierende Maßnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen, der Missbrauch von Laxanzien, Schilddrüsenhormonen und exzessive Körperaktivitäten folgen [American Psychological Association 1994]. Analog zur Anorexia nervosa sind die höchsten Inzidenzraten in der Pubertät zu beobachten. Die Lebenszeitprävalenz liegt mit 1 bis 4 Prozent jedoch über den Prävalenzraten der Anorexia nervosa [Currin et al. 2005; Voderholzer et al. 2012]. Charakteristisch für die Binge-Eating-Störung sind ebenfalls häufig auftretende Essanfälle, denen im Gegensatz zur Bulimia nervosa jedoch keine kompensatorischen Maßnahmen zur Gewichtsregulierung folgen. Betroffene Personen leiden infolgedessen häufig an Übergewicht oder Adipositas. Die Lebenszeitprävalenz für Binge-Eating-Störungen liegt bei 2,8 Prozent, das mittlere Erkrankungsalter bei 25 Jahren. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer (w:m = 2:1) [Voderholzer et al. 2012]. Dentale Manifestationen. Während schwere Erosionen in der Allgemeinbevölkerung eher selten vorkommen, zeigen Patienten mit Essstörungen eine überdurchschnittlich hohe Prävalenz von Erosionen, wobei die Lokalisation und Ausprägung in Abhängigkeit von der Art der Essstörung variieren: Essstörungen mit chronischem Erbrechen führen durch den häufigen endogenen Einfluss der Magensäure v. a. zu Erosionen im Bereich der Palatinalflächen der Oberkieferfront- und Eckzähne; später sind dann auch die Prämolaren und Molaren betroffen. Viele anorektische Patienten leben hingegen nach einem sehr strengen Ernährungsplan und nehmen nur wenige ausgewählte Lebensmittel zu sich. Durch den häufig hohen Anteil an Früchten und Gemüse können durch den stetigen exogenen Säureeinfluss häufig dentale Erosionen an den Bukkalflächen der Frontzähne beobachtet werden. Aufgrund des z. T. fließenden Überganges zwischen den verschiedenen Ausprägungsformen der Essstörung zeigen Patienten nicht selten eine Kombination aus beiden Defektlokalisationen [Schlueter et al. 2006; Goncalves et al. 2013]. Die Progredienz der erosiven Läsionen schwank dabei individuell, wobei Patienten mit bulimischer Symptomatik aufgrund des aggressiven Potenzials der Magensäure deutlich häufiger von (schweren) Erosionen betroffen sind: In einer Studie wiesen 95 Prozent der 81 Patienten mit Bulimia nervosa dentale Erosionen auf. Bei über 60 Prozent der Patienten reichten diese bis in das Dentin. Dagegen werden nur bei 20 Prozent der Patienten mit Anorexia nervosa dentale Erosionen beschrieben [Ohrn et al. 1999; Schlueter et al. 2006]. Orale Symptomatik. Neben dem Auftreten von dentalen Erosionen sind bei Patienten mit Essstörungen häufig weitere orale Symptome zu beobachten: Bei den betroffenen Patienten besteht die Möglichkeit einer Veränderung der Speichelzusammensetzung und einer Reduktion der Speichelmenge, welche die Progression dentaler Läsionen begünstigen und zu Mundtrockenheit führen können. Dieser Effekt wird durch die medikamentöse Begleittherapie der Essstörungen häufig weiter verstärkt [Dynesen et al. 2008]. Bulimische Patienten zeigen zudem häufig eine beidseitige, nicht schmerzhafte Schwellung der Glandula parotis. Das Ausmaß der Schwellung ist direkt proportional zu der ZBW 10/2016

Fortbildung 29 Fotos: Dr. Tschammler Abb. 1 Erosionsmuster. Typisches, palatinal gelegenes Erosionsmuster bei einer Patientin mit jahrelangem chronischen Erbrechen (Abb. 1). Häufigkeit der Emesis und verstärkt sich nach dem Erbrechen. Bei erfolgreicher Therapie und lange erbrechensfreien Abschnitten bildet sie sich in der Regel spontan zurück [Schlueter et al. 2006]. Durch den Kontakt zu Magensäure können in der Mundhöhle sichtbare Veränderungen der Mundschleimhaut und Verletzungen durch zum Erbrechen verwendete Hilfsmittel auftreten. Häufig werden zudem Zahnhalsrezessionen und dentale Heiß-Kalt-Empfindlichkeiten beobachtet. Viele Patienten weisen rissige Lippen und Mundwinkelrhagaden auf [Schlueter et al. 2006]. Rolle des Zahnarztes. Neben einer möglichst frühzeitigen Diagnostik erosiver Zahnhartsubstanzdefekte ist bei Patienten mit Essstörungen die Behandlung der Grunderkrankung von zentraler Bedeutung. Da bulimische und anorektische Patienten häufig lange Zeit ihre Erkrankung erfolgreich vor ihrem Umfeld verbergen können, fällt dem Zahnarzt eine Schlüsselrolle in der Erstdiagnostik von Essstörungen zu. Zahnärzte sollten sich nicht scheuen, einen entsprechenden Verdacht anzusprechen und die Patienten ggf. in eine spezielle psychotherapeutische Einrichtung zu überweisen. In Bezug auf die Progression erosiver Läsionen ist die effektivste Therapiemaßnahme das Meiden der schädigenden Noxe (kausale Therapie). Da dieses Ziel bei Patienten mit chronischem Erbrechen häufig jedoch erst nach längerer psychotherapeutischer Therapie erreicht werden kann, sollten betroffene Patienten auf das strikte Einhalten bestimmter Verhaltensregeln hingewiesen werden [Schlueter et al. 2006; Magalhaes et al. 2009]: • Nach dem Erbrechen sollte der Patient mit einer neutralisierenden Flüssigkeit spülen (z. B. Wasser, Milch oder fluoridhaltige Mundspülung). • Der Speichelfluss kann mit Hilfe von zuckerfreien Kaugummis angeregt werden. • Säurehaltige Lebensmittel und der häufige Konsum zuckerhaltiger Getränke und Nahrungsmittel sollten vermieden werden. • Mit Hilfe von geeigneten Fluoridierungsmaßnahmen (regelmäßige Verwendung von Mundspülungen und Zahnpasten, die speziell für Erosionspatienten geeignet sind, z. B. Elmex Zahnschmelzschutz) können Demineralisationsprozesse deutlich verlangsamt werden. • Die Patienten sollten eine Zahnpasta mit niedriger Abrasivität verwenden. Zur Vermeidung eines erhöhten mechanischen Abriebes durch Mundhygienemaßnahmen werden in der Literatur verschiedene Vorgehen diskutiert: Studien haben gezeigt, dass die Widerstandsfähigkeit von Schmelz und Dentin nach dem Einwirken von Säuren gegenüber mechanischen Einflüssen deutlich reduziert ist, wobei selbst nach einer Wartezeit von über 60 Minuten noch ein signifikant erhöhter mechanischer Abrieb festgestellt werden kann [Jaeggi and Lussi 1999; Attin et al. 2001]. Erfolgen die Mundhygienemaßnahmen jedoch vor dem Einwirken erosiver Substanzen, kann dieser mechanische Abrieb signifikant verringert werden und damit eine zusätzliche Schädigung der Zahnhartsubstanzen vermieden werden [Wiegand et al. 2008]. Restaurative Therapien (Füllungen, Überkronung) sollten nur beim Vorliegen von ausgeprägten Substanzdefekten mit Schmerzsymptomatik oder funktionellen und ästhetischen Einbußen durchgeführt werden. Sie ersetzen jedoch in keinem Fall eine ausführliche Aufklärung über die Ätiologie der Zahnschädigungen und die eindringliche Empfehlung der oben aufgeführten prophylaktischen und kausalen Maßnahmen. Übergewicht und Adipositas. Zur Klassifikation des Gewichts wird bei Erwachsenen unter anderem der Body-Mass-Index (BMI) angewendet: Nach Definition der World Health Organisation liegt bei Erwachsenen Übergewicht oberhalb eines BMI von 25,0 kg/m 2 und Adipositas bei einem BMI über 30,0 kg/m 2 vor. Aufgrund physiologischer Abweichungen in der Wachstumsphase erfolgt bei Kindern und Jugendlichen die Beurteilung der Körpermasse zusätzlich gewichts- und geschlechtsadaptiert mit Hilfe sogenannter BMI-Perzentilen. Kinder und Jugendliche zwischen der 90. und 97. Perzentile gelten als übergewichtig, über der 97. Perzentile spricht man von Adipositas. Im Jahr 2015 lag der weltweite Anteil übergewichtiger und adipöser Kinder und Jugendlicher bei über 50 Millionen, dies entspricht einer weltweiten Prävalenz von 7,8 Prozent. Schätzungen zufolge werden im Jahre 2020 www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2016

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