18 Titelthema tern aller zu verteilen, wurde eine Pflichtversicherung, die Algemeen Wet Bijzonder Ziektekosten“ (AWBZ) eingeführt, in die jeder niederländische Bürger seinem Einkommen entsprechend einzahlen musste. Doch das Nebenher von privaten und gesetzlichen Krankenkassen führte auch im Nachbarland zur Unzufriedenheit und zur Zwei-Klassen-Medizin, sodass man von Seiten der Regierung auf Abhilfe sann. Die Forderung nach mehr Wettbewerb und Effizienz im Gesundheitswesen stand im Raum. Lange Vorbereitung. Mindestens drei Jahrzehnte an Diskussionen und Vorbereitungen gingen ins Land, in der Zeit wurden die Verhältnisse angeglichen, indem man den gesetzlich vorgeschriebenen Leistungskatalog auszudünnen begann. So wurden die Kosten für Zahnbehandlungen und kieferorthopädische Eingriffe bei über 18-Jährigen schon weit vor dem 1. Januar 2006 nicht mehr durch die gesetzliche Krankenversicherung abgedeckt. Um die Leistungserbringer mit ins Boot zu bekommen, wurden Arzthonorare für gesetzlich Versicherte erhöht, die Behandlung von Privatpatienten geringer vergütet, sodass sich Ende der 90er-Jahre die Erstattung für beide Patientengruppen angeglichen hatte. Außerdem war eine Privatversicherung für Besserverdienende kein Privileg, sondern ein Muss. Wer mit seinem Verdienst über der Pflichtgrenze lag, musste sich privat krankenversichern, was erhebliche Mehrkosten mit sich bringen konnte. Reformbestrebungen. Dynamik ins System brachte ein Gutachten des Sociaal-Economische Raad (SER), einem dauerhaft installierten Gremium zur Beratung der Regierung in Wirtschafts- und Sozialfragen. Er stellte zu Beginn dieses Jahrhunderts Forderungen nach einem Systemwechsel auf, die eine Vereinheitlichung des Versicherungsmarktes, eine Versicherungspflicht für die gesamte Bevölkerung, einen steuerfinanzierten Gesundheitszuschuss für Einkommensschwache und die Privatisierung der Krankenkassen forderten. Umgesetzt wurden diese Vorschläge 2005 von einer Koalition aus Christdemokraten, konservativen Liberalen und Linksliberalen, die schließlich im zweiten Kabinett Balkenende eine Gesundheitsreform über die letzte Hürde hoben. Ausblick. Die Duisburger Gesundheitsexperten Jürgen Wasem und Stefan Greß waren sich vor zehn Jahren sicher, dass sich „auf dem Hintergrund der niederländischen Erfahrungen mögliche Kompromisslinien zeichnen lassen, die gleichzeitig die Nachhaltigkeit der Finanzierung in der gesetzlichen Krankenversicherung erhöhen, Ungleichheiten im Zugang zur gesundheitlichen Versorgung beseitigen, Effizienzreserven erschließen und darüber hinaus politisch kompromissfähig sind“. Inzwischen aber merkt Gesundheitsökonom Greß etwas ernüchtert an, dass „die Einführung einer Bürgerversicherung das niederländische Gesundheitssystem auf keinen Fall billiger gemacht hat“. D. Kallenberg » info@zahnaerzteblatt.de Anzeige ZBW 2/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 19 Die SPD mag zwar heute den Einstieg in die Bürgerversicherung fordern; diskutiert wird über eine Einheitsversicherung, die das bisherige System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung ablöst, schon seit mehr als zehn Jahren. Und die Diskussionen dürften anhalten; das legen zumindest die Erfahrungen aus den Niederlanden nah. Dort wurde viele Jahrzehnte über eine einheitliche Versicherung für alle diskutiert, bis es endlich zu solch einer Reform kam. Und selbst als sich die großen Volksparteien Anfang der 90er-Jahre über den Systemwechsel einig waren, dauerte es noch mehr als 15 Jahre, bis die Bürgerversicherung 2006 auch tatsächlich Realität wurde. Nicht nur was den Zeithorizont angeht, sollten die Politiker zur Orientierung einen Blick auf die Niederlande werfen. Die Erfahrungen von dort zeigen auch, dass der radikale Systemwechsel nicht gebracht hat, was seine geistigen Väter sich davon erwartet hatten. Und vor allem kommt aus dem Nachbarland im Westen auch eine Warnung: Denn der Systemwechsel hat die niederländischen Steuerzahler viel Geld gekostet. Zwar war die Situation in den Niederlanden vor der tiefgreifenden Reform eine völlig andere als hierzulande: Vor 2006 waren dort zwei Drittel der Menschen gesetzlich krankenversichert und ein Drittel privat. Anders als in Deutschland galt es dort als Privileg gesetzlich versichert zu sein: Ab einem gewissen Gehaltsniveau verloren Angestellte und Selbstständige das Recht darauf, vom staatlichen System versorgt zu werden; stattdessen mussten sie sich bei den privaten Versicherungen versichern. Tatsächlich flogen Angestellte häufig nach Gehaltserhöhung aus dem gesetzlichen System und mussten plötzlich viel höhere Prämien zahlen, die von Alter und Vorerkrankungen abhängig waren. Dieses System und sein Nebeneinander von gesetzlicher und privater Versicherung sorgte ähnlich wie hierzulande für Unverständnis. Hinzu kam ein weiteres Problem, das Privatversicherte hierzulande gut kennen: Zwischen den gesetzlichen Versicherungen in den Niederlanden herrschte zwar vor der Reform ein reger Wettbewerb um Mitglieder; unter den Privatversicherungen aber kaum. „Ein großer Teil der privat Versicherten steckte dort in einer Art Basistarif und für die gab es sogar überhaupt keinen Wettbewerb“, sagt Stefan Greß, Professor für Gesundheitsökonomie an der Hochschule Fulda. Eine Situation, die nicht ganz so extrem gewesen sei, wie die hierzulande. Von einer Bürgerversicherung versprachen sich die Volksparteien in den Niederlanden einen regen Wettbewerb um Mitglieder – nicht nur über günstigere Preise sondern auch über bessere Leistungen und innovativere Versorgungsmodelle. Schon wegen dieser Zielsetzung taugt das holländische Modell kaum als Blaupause für eine deutsche Bürgerversicherung. Trotzdem hat der Modellwechsel viele Lehren für Deutschland parat - insbesondere, wenn es darum geht, Vorbild Niederlande? wie die Zustimmung für das neue Modell erkauft wurde: bei den privaten Versicherungen, den Ärzten – und bei den Bürgern. Der Widerstand gegen den geplanten Systemwechsel war Ende der 80er-Jahre gewaltig und kam vorwiegend von den gleichen Gruppen wie hierzulande: Den privaten Krankenversicherungen, die um ihr Geschäft fürchteten und von den Ärzten. Um die Versicherungen für die Reform zu gewinnen, wählte die niederländische Politik eine pragmatische Lösung: In ihrer Variante der Bürgerversicherung sind alle Bürger privat versichert. Anders, sagen Experten, hätte sich das Projekt gegen den Willen der Versicherungen nicht durchsetzen lassen. Auch die Ärzte wurden mit mehr Geld überzeugt: Sie bekamen ab Anfang der 90er Jahre jedes Jahr etwas mehr Honorar für die Behandlung gesetzlich Versicherter, während die Behandlung privater Patienten mit jedem Jahr ein wenig schlechter bezahlt wurde. Ende der 90er-Jahre hatten sich die Erstattungen für beide Patientengruppen angeglichen. Teuer war dieser Schritt vor allem für die niederländischen Steuerzahler, denn die Politik hat die Mehrkosten für die höheren Arzthonorare vor allem über Steuerzuschüsse in der gesetzlichen Krankenversicherung gedeckt. Die Krankenkassenbeiträge sollten auf keinen Fall steigen, um die Wähler nicht zu vergrätzen. „Der Wechsel zur Bürgerversicherung führte für die niederländischen Steuerzahler zu Mehrbelastungen“, sagt Gesundheitsökonom Greß. „Die Regierung hat dabei sehr genau austariert, dass die meisten Versicherten durch die Reform finanziell sogar profitiert haben und nur ein geringer Teil Verluste erlitten hat.“ Tatsächlich sind die Steuerzuschüsse in der niederländischen Krankenversicherung weit höher als etwa im deutschen System. „Die Einführung einer Bürgerversicherung hat das niederländische Gesundheitssystem auf keinen Fall billiger gemacht“, sagt Gesundheitsökonom Greß. „Das war aber auch nicht das Ziel; das System sollte effizienter werden und den Versicherten durch mehr Wettbewerb zwischen den Versicherern bessere Leistungen bringen.“ In dieser Hinsicht hat die Reform allerdings bisher enttäuscht, sagt Greß. Das niederländische Gesundheitssystem ist eines der teuersten Gesundheitssysteme weltweit; in Europa geben nur noch Luxemburg, die Schweiz und Norwegen pro Kopf mehr für Gesundheit aus – und Deutschland. Dabei ist das niederländische System sehr viel kostenbewusster als das hiesige. Verantwortlich für die hohen Ausgaben pro Kopf ist dort vor allem der sehr große und teure Pflegesektor. Trotz der strengen Rationierung scheint das niederländische dem deutschen überlegen: Die Zahl der Todesfälle, die durch eine optimale Gesundheitsversorgung vermeidbar wären, ist in der EU nur noch in Luxemburg geringer – hierzulande ist sie dagegen weit höher. Die Niederländer sind zudem mit ihrem System hochzufrieden, in Bevölkerungsbefragungen gibt es kaum Klagen darüber, dass es zu wenig Ärzte, Termine oder Krankenhauskapazitäten gebe. Tobias Kaiser, Wirtschaftsredakteur Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Welt vom 20.12.2017 www.zahnaerzteblatt.de ZBW 2/2018
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