16 Titelthema Die niederländische Gesundheitsreform Modell für staatlich regulierten Wettbewerb Nach 30 Jahren Planung und Vorbereitung wurde im Jahr 2006 in den Niederlanden eine grundlegende Änderung im Gesundheitssystem eingeführt: Die privaten und gesetzlichen Krankenversicherungen für die rund 17 Millionen Einwohner fusionierten, es entstand ein privates System mit öffentlich-rechtlichen Merkmalen, eine Kombination aus Bürgerversicherung und Kopfpauschale. Der soziale Ausgleich erfolgt durch Steuermittel. Oft wird dieses Modell auch für Deutschland propagiert. Seit zwölf Jahren ist eine Krankenversicherung, auf Niederländisch „zorgverzekering“, Pflicht für jeden, der in den Niederlanden wohnt oder arbeitet. Die Krankenversicherung wird von privaten Gesellschaften angeboten, der Staat legt nur fest, was mindestens versichert sein muss und gibt einen Rahmen für die Höhe der Prämien vor. Dazu kommt ein nach dem Einkommen gestaffelter Betrag, der vom Arbeitgeber übernommen wird und rund 50 Prozent der gesamten Beitragslast abdeckt. Selbstständige zahlen einen bestimmten Prozentsatz ihres Bruttoeinkommens; Einkommen aus Kapitalvermögen, Vermietung etc. sind, was die Basisversicherung angeht, beitragsfrei. Kollektivverträge. Wer bei einem niederländischen Unternehmen tätig ist, kann in vielen Fällen von einer „Collective Health Care Insurance“ profitieren, bei der die Konditionen zwischen Arbeitgeber und Krankenversicherung individuell ausgehandelt werden. 2008 kam ein Selbstbehalt dazu, der bei Inanspruchnahme von bestimmten Leistungen aus eigener Tasche bezahlt werden muss. Kinder bis 18 Jahre sind beitragsfrei versichert, für sie zahlt der Staat die Prämie aus Steuermitteln. Keine Zahnarztkosten. Das Leistungspaket der Basisversicherung ist nicht so umfangreich wie man es in Deutschland gewohnt ist. So werden zum Beispiel keinerlei Zahnarztkosten für Erwachsene (ab dem 18. Lebensjahr) übernommen. Möchte man einen weitreichenderen Versicherungsschutz für Zahnbehandlungen, bessere Leistungen in Krankenhäusern sowie Kuren mitversichern, gibt es zusätzliche Pakete. Die Versicherer können den Pauschalbeitrag für jede von ihnen angebotene Police selbst festlegen. Alter, der Gesundheitszustand oder die soziale Situation des Versicherten dürfen keine Rolle spielen. Alle, die die gleiche Police haben, zahlen auch die gleichen Beiträge. Die Versicherten können jährlich den Anbieter wechseln und die Krankenkassen dürfen niemanden ablehnen. Unterschiede zwischen den einzelnen Versicherern sind dabei natürlich möglich. So soll der Wettbewerb zwischen den vier großen und einigen kleinen Versicherungsgesellschaften gefördert und das Kostenbewusstsein der Versicherten geschärft werden. LUXEMBURG NIEDERLANDE DEUTSCHLAND SCHWEDEN FRANKREICH DÄNEMARK BELGIEN IRLAND ITALIEN SPANIEN TSCHECHIEN UNGARN Sachleistung oder Erstattung. Für die Pflicht-Basisversicherung gibt es unterschiedliche Modelle: Möglich sind sowohl Sachleistungen als auch die Kostenerstattung oder eine Kombination aus beidem. Bei einer Sachleistungspolice, die in der Regel billiger ist, schreibt der Versicherer vor, welche Gesundheitsdienstleister in Anspruch genommen werden können. Die Versicherungen haben mit Ärzten und Krankenhäusern entsprechende Verträge geschlossen. Bei einer Erstattungspolice kann man unter allen Anbietern frei wählen. In manchen Fällen muss man allerdings die Behandlungskosten vorschießen, ehe man die Rechnung beim Krankenversicherer zur Erstattung einreichen kann. Notfallbehandlungen werden vollständig und ohne Rücksicht auf das jeweilige Krankenhaus erstattet. Prämienhöhe. Die Prämie für die Krankenversicherung (basisverzekering) wurde 2017 etwas erhöht und liegt derzeit bei rund 1300 Euro im Jahr, die Selbstbeteiligung bei 385 Euro. Sie kann jedoch freiwillig bis auf 885 Euro erhöht werden, was zu einem geringeren Beitrag führt. Hat man in einem Kalenderjahr keine oder nur wenige Leistungen in Anspruch Ausgaben für Krankheit/Gesundheitsversorgung 2014 Euro je Einwohner in ausgewählten Staaten (zu konstanten Preisen von 2010) 1709 1383 920 517 3717 3284 3013 2863 2832 2806 2678 4621 Quelle: Eurostat (Stand 2017) ZBW 2/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 17 Quelle: in Anlehnung an Ministerium für Gesundheit und Sport 2006 Finanzierung des niederländischen Gesundheitssystems Arbeitgeber Staat Versicherte einkommensabhängiger Beitrag (ca. 50%) staatliche Zuschüsse (ca. 5 %) einkommensunabhängiger Beitrag (ca. 45%) Rechnungsbegleichung bei Kostenerstattungsoption/Beitragsrückerstattung Rechnungsbegleichung genommen, hat man Anrecht auf Beitragsrückzahlung. Zahlungsrückstände können zur Prämienerhöhungen oder zum Ausschluss führen. Bei geringem Einkommen ist es möglich, einen staatlichen Zuschuss zur Krankenversicherung zu bekommen. Er kann beim Finanzamt beantragt werden, richtet sich nach dem tatsächlichen Einkommen und betrug 2017 max. 1056 Euro. Gesundheitsfonds. Das Finanzamt ist auch zuständig für die Einziehung der einkommensabhängigen Beiträge bei den Unternehmen und die Einzahlung in den Krankenversicherungsfonds. Bei einem Jahreseinkommen von bis zu 30.000 Euro liegt der Beitrag bei 7,2 Prozent, für selbständige Arbeit bei 5,1 Prozent. Aus dem zentralen Gesundheitsfonds werden die Mittel an die einzelnen Versicherungsträger verteilt und die Risikoausgleichszahlungen vorgenommen. Der Fonds enthält keine Finanzreserven, Defizite trägt der Staat. Verwaltet wird der Fonds durch das Zorginstituut Nederland, das eine unabhängige Position zwischen dem Ministerium für Gesundheit, Soziales und Sport, den Krankenversicherern, den Gesundheitsdienstleistern und Patienten einnimmt. Hausarztmodell. Der Besuch beim Hausarzt ist vom Selbstkostenbeitrag ausgenommen. Ein Wechsel des Hausarztes kann nur Krankenversicherungsfonds einschließlich RSA Krankenkassen Leistungsanbieter mit Zustimmung der Krankenkasse erfolgen. Wer sich eine freie Arztwahl sichern möchte, benötigt eine entsprechende Zusatzversicherung. Dem Hausarzt kommt neben der medizinischen Grundversorgung eine zentrale Rolle zu, denn er entscheidet, ob weitergehende Maßnahmen und eine Überweisung an einen Spezialisten notwendig sind. Fachärzte sind in den Niederlanden fast immer in einem Krankenhaus angesiedelt oder als behandelnde Ärzte mit einem Krankenhaus verbunden. Die Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung ist nicht so strikt wie hierzulande, ambulante Facharzt-Versorgung findet oft in Polikliniken statt. Feste Regeln gelten auch für den Bezug von Medikamenten, für die im Rahmen der Reform eine Positivliste erstellt wurde. Außerdem muss sich jeder Versicherte für eine Apotheke entscheiden und sich dort einschreiben, was zu einer Transparenz der Medikation führt und auch hilft Doppelverordnungen zu verhindern. Übertragbarkeit. Wenn es um die Übertragbarkeit des 2006 eingeführten niederländischen Systems auf das deutsche Gesundheitswesen geht, kann ein Blick in die Geschichte durchaus hilfreich sein. So hat es in den Niederlanden eine lange Tradition, dass sich der Staat im Gesundheitswesen zurückhält und privaten Akteuren das Feld überlässt. Nicht erst im 17. Jahrhundert, dem Goldenen Zeitalter, in dem die Niederlande als führende Großund Kolonialmacht eine globale Vormachtstellung hatten, kümmerten sich wohlhabende Bürger um die schwächeren Glieder der Gesellschaft. Schon im Hoch- und Spätmittelalter gab es soziale Einrichtungen, in denen aus Mitteln der Bürgerschaft Kranke und Alte versorgt wurden. Historie. Der Calvinismus, der die Angehörigen der Oberschicht dazu anhielt, von ihrem Reichtum Bedürftigen abzugeben, tat sein Übriges. In den Kaufmannsgilden des 17. Jahrhunderts entstanden die ersten Formen von solidarischen Krankenversicherungen, in die jedes Mitglied seinen Möglichkeiten entsprechend einzahlte. Diese Frühformen einer Versicherung erwiesen sich als sehr erfolgreich und hielten im Land der Grachten und Deiche bis in die Zeit der Industrialisierung, als Gewerkschaften und karitative Organisationen sich der Werktätigen annahmen und erste Krankenkassen gründeten. Pflichtversicherung. 1940 existierten 600 solcher Kassen, darunter Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Krankenversicherungen, die von Ärzten und Ärzteverbänden gegründet waren, Betriebskrankenkassen und private Krankenversicherer. Eine Pflicht zur Mitgliedschaft gab es allerdings nicht. Die wurde erst nach der Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland 1940 eingeführt, die dem Land ein Krankenversicherungssystem Bismarckscher Prägung überstülpte. In der Nachkriegszeit wurde das System weiterentwickelt und es entstand der Ziekenfondswet (ZFW), der ambulante ärztliche Versorgung bei Haus- und Fachärzten, Arznei-, Heil- und Hilfsmittel und die kurz- bzw. mittelfristige Versorgung im Krankenhaus abdeckte. Kosten für Pflege und langwierige Krankheiten waren darin nicht enthalten. Um diese „besonderen Krankheitskosten“ auf die Schul- www.zahnaerzteblatt.de ZBW 2/2018
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