14 Titelthema Sachverständiger Prof. Dr. Wolfgang Merk Bürgerversicherung „in weiten Teilen unklar“ Wissen die politischen Akteure, wie komplex die Einführung einer Bürgerversicherung wäre? Und welche tiefgreifenden Konsequenzen sie für das hervorragende deutsche Gesundheitswesen hätte? Die SPD macht die Bürgerversicherung gerade urplötzlich zur Bedingung für eine große Koalition, obwohl sie im Wahlkampf „de facto keine Rolle“ gespielt habe, so der Gesundheitsexperte und Sachverständige Prof. Dr. Wolfgang Merk im Interview. Nun werde ohne Not „herumgedoktert“. in ländlichen Gebieten sichergestellt werden soll, bleiben völlig außen vor. Ich wage auch zu behaupten, dass der Großteil der politischen Akteure nicht einmal ansatzweise die Komplexität erahnt, die mit der Einführung eines solchen Systems einhergehen würde. Prognose. Prof. Dr. Wolfgang Merk prognostiziert gravierende Folgen einer Bürgerversicherung, vor allem für den ländlichen Raum in Baden-Württemberg. ZBW: Herr Prof. Dr. Merk, im Wahlkampf wurde die Bürgerversicherung von den Parteien kaum thematisiert. Ist es für Sie als Experte erklärbar, dass die Bürgerversicherung jetzt plötzlich zur roten Linie wird? Prof. Dr. Wolfgang Merk: Das überrascht mich sehr, weil das Thema Bürgerversicherung im Wahlkampf de facto keine Rolle gespielt hat und bei der Bevölkerung aktuell überhaupt nicht als Problem wahrgenommen wird. Über 80 Prozent der Deutschen schätzen die Gesundheitsversorgung als gut oder sehr gut ein. Außerdem verwundert mich, dass man eine rote Linie bei einem Konzept zieht, das in weiten Teilen in seinen Strukturen und Mechanismen – ungeachtet von erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken – völlig unklar ist. Die Bürgerversicherung ist eigentlich nur ein Schlagwort, hinter dem sich eine Vielzahl von unterschiedlichen Konzepten versteckt. Die Befürworter dieser Konzepte eint nur der Wunsch, dass das Gesundheitswesen zukünftig „gerechter“ finanziert werden soll. Wichtige und dringliche Fragen, etwa wie die ärztliche Versorgung der Bevölkerung Foto: Stollberg Woran liegt das und was sagt das über die politische Kultur aus? Es zeigt sich ja leider gerade, dass die parteipolitische Strategie offenbar für viele politische Entscheidungsträger wichtiger ist, als der konkrete Auftrag des Wählers. Ich fände es gut, wenn Politiker sich mehr als Problemlöser – wie Manager – für konkrete gesellschaftliche Probleme verstehen würden. Leider wird häufig durch ideologisch geprägte Konzepte die Realität ausgeblendet. Dadurch werden Sachverhalte zu Problemen gemacht, die von den meisten Menschen gar nicht als negativ empfunden werden vice versa. An Systemen, die vergleichsweise effizient funktionieren, wird so ohne Not „herumgedoktert“. Ob dann die geplanten Eingriffe tatsächlich eine Verbesserung des Systems bewirken, wird oft nur nebensächlich analysiert, Hauptsache man hat politischen Aktivismus gezeigt. Was würde es bedeuten, wenn sich die SPD bei Verhandlungen zu einer neuen Regierung mit der Bürgerversicherung durchsetzen würde? Das lässt sich schwer vorhersehen und hängt von der Ausgestaltung der Bürgerversicherung ab. Sicher würden sich die Finanzierungströme des Gesundheitswesens grundlegend ändern. Da die gesetzlichen Krankenkassen sich de facto nicht unterscheiden, würde eine gesetzliche Einheits- ZBW 2/2018 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema Buchtipp 15 kasse entstehen. Weitergehende Leistungen müssten die darin Versicherten weiterhin selbst zahlen oder sich zusätzlich versichern. Wenn die bisher in der PKV Versicherten in die GKV müssen, zahlen sie dort einen einkommensabhängigen Beitrag. Die Leistungserbringer bekommen für die Behandlung der bisher PKV- Versicherten dann das Einheitshonorar, das sie für jeden GKV- Versicherten erhalten. Wie sich dies auf das Versorgungsgeschehen auswirkt lässt sich schwer vorhersagen. Jedenfalls würde aus Leistungserbringersicht der PKV-Mehrumsatz, d. h. das Honorarplus eines Privatpatienten im Vergleich zu einem GKV-Versicherten erst einmal wegfallen. Was heißt das im Speziellen für uns hier in Baden-Württemberg? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich durch eine Angleichung der Honorare und die Einführung einer einheitlichen Gebührenordnung junge Ärztinnen und Ärzte wieder vermehrt auf dem Land niederlassen werden. Das Gegenteil wird der Fall sein. Wenn in einer Landpraxis für die bisherigen Privatpatienten nur noch das GKV-Honorar bezahlt wird, gehen dort der Umsatz und der Gewinn deutlich nach unten. Das ohnehin imminente Problem, dass es junge Ärzte und Zahnärzte in die Stadt zieht und nicht aufs Land, wird dadurch verstärkt und nicht gelöst. Wer will schon auf dem Land eine Praxis übernehmen, wenn er dort weniger verdient als im Angestelltenverhältnis in der Stadt. Alles in allem sehe ich die ärztliche und zahnärztliche Versorgung im ländlichen Raum extrem gefährdet. Und mit jeder Praxis, die nicht nachbesetzt werden kann, fallen zudem Helferinnenjobs weg. Politik lebt von Kompromissen. Stellen wir uns die Schlagzeile nach den Verhandlungen vor: „Bürgerversicherung verhindert! Kompromiss einheitliche Gebührenordnung“ – was wären die Folgen davon? Das kommt letztlich auf die Höhe der Honorare an. Wenn für den Leistungserbringer im Ergebnis nicht weniger Umsatz rauskommt, wäre ja alles gut. Das kann ich mir allerdings nicht vorstellen. Wahrscheinlich hätten wir wenige Gewinner und viele Verlierer. Die Behauptung, dass sich durch eine einheitliche Gebührenordnung eine bessere Versorgung ergeben würde und in Ermangelung anderer Alternativen insbesondere mehr Ärzte aufs Land streben, halte ich für Nonsens. Viel wahrscheinlicher ist doch, dass sich alle niedergelassenen Ärzte und Zahnärzte aufgrund der zu erwartenden geringeren Einnahmen mit Investitionen zunächst stark zurückhalten und dann versuchen, mit privat zu bezahlenden Zusatzleistungen ihre Umsatzrückgänge zu kompensieren. Wenn Sie jetzt tippen müssten: Wie geht das Ganze aus? Die weisesten Propheten äußern sich bekanntlich hinterher. Herr Prof. Dr. Merk, herzlichen Dank für das Gespräch. KZV BW Zur Person Prof. Dr. Wolfgang Merk ist Diplom-Betriebswirt (BA), Diplom-Ökonom, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger und Experte für die Gesundheitswirtschaft und das Gesundheitswesen. In dem vom Vorstand der KZV BW zusammen mit der AG KZVen beauftragten Gutachten stellte Merk auf belastbarer Datengrundlage Prognosen zu den Auswirkungen einer Bürgerversicherung für die zahnmedizinische Versorgung: Im ländlichen Raum in Baden-Württemberg würden 534 Zahnärzte und 2.350 Arbeitsplätze für Zahnmedizinische Fachangestellte in den nächsten zehn Jahren wegfallen. Quellen: wm-institut.de, KZV BW Wissenschaftliche Evidenz Handbuch Instrumentelle Funktionsanalyse Dieses auf wissenschaftlicher Evidenz gründende Werk behandelt umfassend und systematisch das Gebiet der zahnärztlichen instrumentellen Funktionsanalyse auf der Basis der Anwendung elektronischer Geräte. Die theoretischen Hintergründe werden ausführlich dargestellt und praxisorientierte Hinweise und Anleitung zur Anwendung der elektronischen Bewegungsanalyse, instrumentellen Okklusionsanalyse und Oberflächen-Elektromyographie der Kaumuskulatur gegeben. Durch die Präsentation vieler klinischer Fallbeispiele bleibt das im Werk Dargestellte nicht abstrakt, sondern findet die erforderliche Konkretisierung, die den Leser in die Lage versetzt, das Gelesene in die diagnostische und therapeutische zahnärztliche Entscheidungsfindung einzubinden. IZZ Alfons Hugger, Bernd Kordaß Handbuch Instrumentelle Funktionsanalyse und funktionelle Okklusion Wissenschaftliche Evidenz und klinisches Vorgehen 1. Auflage 2017 488 Seiten Quintessenz Verlags-GmbH ISBN 978-3-86867-378-4 198 Euro www.zahnaerzteblatt.de ZBW 2/2018
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