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Kinderzahnheilkunde

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ZBW 11/12 2024

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22_TITELTHEMA ZBW_11-12/2024 www.zahnaerzteblatt.de Früherkennung von Kindeswohlgefährdung in der Zahnarztpraxis DENTAL NEGLECT: WARNSIGNALE ERKENNEN UND HANDELN Zahnärzte haben eine besondere Verantwortung bei der Früherkennung von Kindeswohlgefährdung, insbesondere in Bezug auf die Zahngesundheit. „Dental Neglect“ kann oft ein Hinweis auf tieferliegende familiäre Probleme sein. Doch wie erkennt man die Warnsignale und was tut man bei einem Verdacht? Houma Kustermann, seit 2005 Zahnärztin für Kinderzahnheilkunde in eigener Praxis in Rottweil, Gewinnerin des Wrigley Prophylaxe-Preises 2019 und 2023 sowie des Präventionspreises von Bundeszahnärztekammer und CP Gaba 2020, gibt in diesem Interview Einblicke in typische Anzeichen, den Umgang mit betroffenen Familien und die Rolle der Dokumentation. Foto: Dentropia Dental Neglect. Houma Kustermann betont die Bedeutung der frühzeitigen Erkennung typischer Anzeichen für Vernachlässigung, wie frühkindliche Karies und wiederholte Verletzungen. ZBW: Frau Kustermann, welche typischen Anzeichen von „Dental Neglect“ sollten Zahnärzt*innen erkennen können, um eine Vernachlässigung frühzeitig zu diagnostizieren? Dr. Houma Kustermann: Grundsätzlich gilt es, sich aus den Anamnesen (schriftlich und verbal), dem Verhalten der Eltern und des Kindes sowie den psychosozialen Verhältnissen des Patienten ein Bild zu machen. Hier spielen Bildungsgrad und wirtschaftliche Verhältnisse keine Rolle! Wohlstandsverwahrlosung ist genauso in unserer Gesellschaft vertreten wie Armutsverwahrlosung. Typische Anzeichen wären vor allem ECC (Early Childhood Caries), repetitive Traumata im Hals-Mund-Bereich, irreführende Angaben zur Entstehung von Verletzungen sowie die aktive Missachtung ärztlicher Anweisungen. Können Sie uns Beispiele aus Ihrer Praxis nennen, in denen eine frühzeitige Diagnostik entscheidend für die Behandlung und das Wohl eines Kindes war? Maria war 18 Monate alt und hatte im Ober- und Unterkiefer ihre ersten Milchzähne. Die Eckzähne befanden sich im Durchbruch. Alle acht Frontzähne waren bereits schwer von Karies betroffen. Aus der Anamnese ging hervor, dass ihre Oma, die sie zu Hause betreute, davon überzeugt war, dass Apfelsaft in der Flasche das Beste für ihre Enkelin sei. Die Mutter arbeitete und war auf diese Betreuung angewiesen, konnte sich jedoch nicht gegen ihre Schwiegermutter durchsetzen. Durch die Begleitung der Familie von Maria konnten wir die Umstände ihrer Überforderung angehen, sodass sich das Kind ohne weitere Beeinträchtigungen entwickeln konnte. Eine Mutter kam regelmäßig mit ihrem fünfjährigen Sohn in die Praxis, der Verletzungen im orofazialen Bereich aufwies. Sie gab an, dass die Familie begeisterte Kletterer seien und dass es beim Klettern häufiger zu Stürzen und Verletzungen komme. Die Frau, eine

ZBW_11-12/2024 www.zahnaerzteblatt.de 23_TITELTHEMA » Wohlstandsverwahrlosung ist genauso in unserer Gesellschaft vertreten wie Armutsverwahrlosung.« Houma Kustermann Foto: Cornelia Schwarz Im Fokus. Ein umfassendes Bild der psychosozialen Umstände der Familie ist oft wichtiger als das Erkunden der wirtschaftlichen Verhältnisse. Rechtsanwältin, schaute während der Schilderung immer wieder zu ihrem Kind und erwartete, dass er zustimmte. Nach der Versorgung des Sohnes bat ich die Mutter zu einem Gespräch unter vier Augen. Es fiel ihr leicht zuzugeben, dass die Verletzungen auf häusliche Gewalt zurückzuführen waren. Nach diesem Gespräch holte sie sich externe Hilfe. Ihr Sohn ist inzwischen 15 Jahre alt und immer noch unser Patient. Welche Bedeutung hat eine ausführliche Dokumentation, und welche Informationen sollten dabei festgehalten werden, um den Verdacht auf Misshandlung zu untermauern? Zu den üblichen diagnostischen Unterlagen gehören Fotos, Zeugen (konsiliarische Austausche mit anderen Kollegen) sowie ggf. Daten zu vorausgegangenen Auffälligkeiten. Auch eine detaillierte Anamnese, inklusive inkohärenter Angaben, ist wichtig. Wie kann das Thema „Dental Neglect“ gegenüber Eltern oder Bezugspersonen angemessen und sensibel angesprochen werden? Der Befund sollte den Grad der Eindringlichkeit und Vehemenz des Gesprächs bestimmen. Wichtig ist dabei, alle Bezugs- bzw. Betreuungspersonen in die Gespräche einzubeziehen. Ein umfassendes Bild der psychosozialen Umstände der Familie ist oft wichtiger als die wirtschaftlichen und bildungstechnischen Verhältnisse. Unter Umständen sollte man Verständnis für die Notlage der Eltern bekunden und sich als Verbündete mit ihnen, um das Wohlergehen des Kindes klar zu positionieren. Es ist extrem wichtig, stets sachlich zu bleiben und die Eltern nie persönlich anzugreifen. Die Tatsache, dass die Eltern in der Praxis sind, bezeugt ihre Notlage. Welche Rolle spielen sprachliche Barrieren beim Vermitteln von Prophylaxe und zahnmedizinischer Aufklärung, und wie gehen Sie damit um? Weitaus bedeutender als Sprachbarrieren sind kulturelle Unterschiede in Bezug auf Ess- und Trinkgewohnheiten sowie die Integration von Prävention ins Bewusstsein. Genauso stellt eine enorme Barriere eher die irreführende Kommunikation der Werbeindustrie dar als die Sprachen an sich: Multivitaminsäfte, Fruchtschorle und gesüßte sowie vitaminierte Kinderjoghurts werden als gesund propagiert! Wir haben den glücklichen Umstand, dass Aufklärungsunterlagen für Patienten in vielen Sprachen sowohl in Printform als auch digital verfügbar sind, was nahezu keine Grenzen setzt. Da es in Deutschland keine Meldepflicht für Zahnärzt*innen bei Kindesmisshandlung und/oder Vernachlässigung gibt, wie sollten Praxen in solchen Fällen vorgehen? Zahnärzte sowie andere Therapeuten erfüllen viele Aufgaben, zu denen sie nicht verpflichtet sind. Bei klaren Fällen, in denen sowohl Befunde als auch Hinweise auf einen dringenden Tatverdacht hindeuten, müssen weitere Therapeuten, das Jugendamt, die Polizei oder Kollegen zurate gezogen werden. Hier spielt die Dokumentation eine zentrale Rolle: Anamnese, Befunde, Fotos, Skizzen sowie Zeugenberichte. Am besten ist es, ein Konsil vom Kinderarzt einzuholen, der in solchen Fällen eine spezielle Fachkunde besitzt. Gibt es Ihres Wissens nach standardisierte Protokolle oder Leitlinien, die Zahnärzt*innen befolgen sollten, wenn sie den Verdacht auf Misshandlung haben? Es ist essenziell, mit den Eltern darüber zu sprechen, dass sie Hilfe benötigen, damit die gesunde Entwicklung ihres Kindes nicht gefährdet ist. Das ist der Grund, weshalb sie die Meldung an eine Behörde machen. Niemals sollte ohne Information der Eltern eine Meldung erfolgen! Wir brauchen ihre Kooperation und Zusammenarbeit! Es geht immer um das Kind, nicht um die Eltern! Der Meldung an ein Amt sollten Gespräche oder Gesprächsversuche/Einladungen vorausgegangen sein. Nur in äußerster Not sollte dies als erste Handlung durchgeführt werden. Es gibt eine Kinderschutzleitlinie vom 5. Februar 2019, die weitere Details enthält, sowie einen Bogen „Meldung an das Jugendamt“ gemäß § 8a SGB VIII und § 4 Abs. 3 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG). Wie verhält es sich mit der ärztlichen Schweigepflicht, wenn ein*e Zahnärzt*in den Verdacht auf Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung hat? In welchen Fällen darf oder muss diese Schweigepflicht gebrochen werden? Das Bundeskinderschutzgesetz sowie das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (vom 22. Dezember 2011) und das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (vom 3. Juni 2021) verankern ausführlich, welche Möglichkeiten Zahnärzte in solchen Fällen haben. Das Gespräch führte Cornelia Schwarz

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