18_TITELTHEMA ZBW_11-12/2024 www.zahnaerzteblatt.de lem die Sensibilisierung der Eltern für eine ausgewogene Ernährung und die tägliche Zahnpflege mit fluoridhaltiger Zahnpasta. Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Durchführung der Zahnpflege mit den Eltern nicht nur besprochen, sondern auch in der zahnärztlichen Praxis geübt werden muss. Es ist außerordentlich wichtig, mit den Eltern zu besprechen, welche Schwierigkeiten es bei der Durchführung der häuslichen Zahnpflege gibt und man muss dann gemeinsam mit ihnen nach praktikablen Lösungen suchen. Eltern berichten oft, dass ihr Kind mit einer geistigen Beeinträchtigung keine lange Ausdauer bei der unterstützenden Zahnpflege hat und dass dies mit viel Stress verbunden ist. Deshalb hat es sich am Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke bewährt, zu empfehlen, das Zähneputzen so zu modifizieren, dass möglichst kein Stress mehr auftritt. So kann es beispielsweise Sinn machen, morgens nur die Zähne im Unterkiefer gründlich zu putzen und abends nur die Zähne im Oberkiefer. Entscheidend ist, dass täglich fluoridhaltige Zahnpasta verwendet wird und dass abwechselnd wenigstens ein Teil der Zähne gründlich gereinigt wird. Bei den Beratungen zur Zahnpflege muss auch der Aspekt berücksichtigt werden, dass Kinder mit geistiger Beeinträchtigung sehr wahrscheinlich nie in der Lage sein werden, diese eigenständig in ausreichendem Maß durchzuführen und dass sie deshalb lebenslang eine individuell angepasste Unterstützung bei der Mundpflege benötigen werden. An dieser Stelle soll auch erwähnt werden, dass die Eltern vieler Kindern mit Beeinträchtigung nicht nur bei der Zahnpflege, sondern auch bei der Körperpflege insgesamt stärker gefordert sind als Eltern von Kindern ohne Beeinträchtigung. Hinzu kommt für die Eltern, dass sie in der Regel einen erheblichen Zeitaufwand für verschiedene logopädische, ergotherapeutische oder physiotherapeutische Maßnahmen, die ihr Kind mit einer Behinderung benötigt, leisten müssen. Dies sollte in den zahnmedizinischen Beratungsgesprächen verständnisvoll berücksichtigt werden. PFLEGEGRAD Wir sind in Deutschland in der glücklichen Situation, dass die gesetzlichen Krankenkassen es ermöglichen, alle Kinder vom ersten Milchzahn an bis zum Ende des gesetzlichen Jugendalters präventiv-zahnmedizinisch zu betreuen. Aufgrund der Vorgaben von § 22 im SGB V haben alle Personen mit einem Pflegegrad oder Bezug von Eingliederungshilfe in jedem Halbjahr Anspruch auf zusätzliche zahnmedizinisch-präventive Leistungen in Form von Erhebung des Mundhygienestatus, ausführliche Beratung der Unterstützungspersonen und Entfernung von Zahnstein. Dies ermöglicht es uns Zahnärztinnen und Zahnärzten, Kindern mit schwerer Behinderung bei Bedarf alle drei Monate präventive Maßnahmen zukommen zu lassen. Dazu gehört neben den o. a. Maßnahmen auch die Applikation von Fluoridlack. Abbildung 1 zeigt beispielhaft, welche präventiven Maßnahmen im Abstand von drei Monaten bei sechs- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen erbracht werden können. Diese Altersgruppe hat außerdem Anspruch auf die Versiegelung der Fissuren und Grübchen Kognitive Einschränkung. Bei Kindern mit frühkindlichem Autismus liegt in der Mehrzahl der Fälle auch eine intellektuelle Beeinträchtigung vor. von kariesfreien bleibenden Molaren. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen einerseits, dass diese Maßnahmen auch bei Kindern mit Behinderung wirksam sind, andererseits aber auch, dass bei noch viel mehr Kindern mit Behinderung Fissurenversiegelungen appliziert werden sollten. Die langjährige klinische Erfahrung am Lehrstuhl für Behindertenorientierte Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke zeigt, dass die Strategie des Vertrauensaufbaus in vielen kleinen Schritten in mehreren Sitzungen es ermöglicht, den allergrößten Teil der Kinder mit Beeinträchtigung oder Behinderung im Wachzustand zu untersuchen und präventiv zu betreuen. Bei Kindern, die regelmäßig präventiv-zahnmedizinisch betreut werden, ist es dann auch fast immer möglich, später ggf. erforderliche invasive Therapiemaßnahmen wie direkte Restaurationen oder Milchzahnextraktionen oder endodontologische Maßnahmen als Folge eines Frontzahntraumas durchzuführen. Univ.-Prof. Dr. G. Andreas Schulte, bis 2023 Inhaber des Lehrstuhls für Behindertenorientierte Zahnmedizin, Universität Witten/Herdecke www.zahnaerzteblatt.de 0711 222966-14 info@zahnaerzteblatt.de Univ.-Prof. Dr. G. Andreas Schulte, Präsident der DGZBM Vorsitzender der OralGesundheit Inklusiv e. V. Mitglied der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke Foto: Adobe Stock/LIGHTFIELD STUDIOS
ZBW_11-12/2024 www.zahnaerzteblatt.de 19_TITELTHEMA Kindeswohlgefährdung in der Zahnarztpraxis (Teil 2) MANGELNDE MUNDHYGIENE UND KARIES ALS INDIKATOREN Die COVID-19-Pandemie hat das Thema Kindeswohlgefährdung verstärkt in den öffentlichen Fokus gerückt, da soziale Isolation und eingeschränkte Betreuung das Risiko für Vernachlässigung erhöhen. Zahnärz*tinnen können eine entscheidende Rolle spielen, indem sie frühzeitig Anzeichen von Vernachlässigung im oralen Gesundheitszustand erkennen. Dieser Artikel beleuchtet die Formen von Kindeswohlgefährdung und Vernachlässigung, die im zahnmedizinischen Bereich beobachtbar sind, mit besonderem Fokus auf mangelnde Mundhygiene und Karies als Indikatoren. Zudem werden mögliche Handlungsoptionen aufgezeigt, wie Fachkräfte angemessen reagieren und zum Schutz des Kindeswohls beitragen können. Foto: Adobe Stock/Stanislaw Mikulski Die sogenannte frühkindliche Karies (ECC: Early Childhood Caries) tritt laut der DAJ-Studie aus dem Jahr 2016 in Deutschland bei etwa 15 Prozent der dreijährigen Kinder auf. Sie ist in der Regel eine Folge des hochfrequenten Konsums süß-saurer Getränke aus der Nuckelflasche sowie fehlender Zahnpflege. Leichte oder frühe Formen sind durch Initialläsionen an den oberen Schneidezähnen erkennbar. Bei schweren Formen kann es zu einer (beinahe) vollständigen Zerstörung der Zahnkrone kommen (Abb. 2), die mit Schmerzen, Fisteln und Abszessen einhergehen kann. Karies und die oftmals frühzeitige Extraktion von Milchzähnen können erhebliche Auswirkungen auf die Gesundheit des Kindes haben. Dies stellt unter Berücksichtigung der herrschenden Definition unzweifelhaft eine Kindeswohlgefährdung dar. Initialkaries bzw. frühe Formen der frühkindlichen Karies treten an den oberen Milchschneidezähnen auf (Abb. 1a und 1b). Die inaktivierte Initialkaries an den oberen Schneidezähnen zeigt sich durch weißliche Bänder, die nun durch Remineralisation glänzend und glatt erscheinen. Die Lokalisation lässt darauf schließen, dass vor allem im ersten Lebensjahr keine Zähne geputzt wurden, dieses nun aber seit geraumer Zeit gut durchgeführt wird, das heißt, den Empfehlungen Folge geleistet wurde (Abb. 1a). Oberkieferfrontzähne mit aktiver Karies, die erst nach Entfernung massiver Plaque zu erkennen waren, stellen bei einem zwölf Monate alten Kind einen frühen Marker für eine Vernachlässigung zumindest der oralen Pflege dar (Abb. 1b). Denn hier liegt nicht nur temporär eine fehlende Zahnpflege vor, sondern wohl auch ein hochfrequenter Konsum zuckerhaltiger Getränke über die Nuckelflasche zur freien Verfügung. Durch Umstellung der Putz- und Ernährungsgewohnheiten konnte die Karies inaktiviert und Zahnschmerzen bzw. Folgebehandlungen vermieden werden. Im Fall des ersten Kindes mit einer schweren Form der ECC (Abb. 2a) wurde die mehrere Tage alte, gereifte dentale Plaque an den Oberkieferfrontzähnen den Eltern im Rahmen der zahnärztlichen Prophylaxe mithilfe einer Anfärbelösung sichtbar gemacht. Darunter fanden sich tiefe, sehr aktive kariöse Läsionen. Die Zähne 52 bis 62 bedürfen sehr wahrscheinlich einer endodontischen Therapie oder es ist sogar ein Zahnentfernung nötig. Hier besteht also akuter zahnärztlicher Behandlungsbedarf, der aufgrund des großen Behandlungsumfangs bei diesem kleinen Kind möglicherweise in Narkose erfolgen muss (Abb. 2a). Nach den Aufklärungen und Instruktionen in den Vorbesuchen hat sich das häusliche Nachputzen durch die Eltern im Fall des zweiten Kindes (Abb. 2b) deutlich verbessert. Klinisch gibt es keinen Anhalt für eine dentogene Fistel oder einen Abszess. Der Grad der Inaktivierung der großflächigen Läsionen lässt auf eine deutliche Verbesserung schließen und insbesondere auf eine länger anhaltende positive Verhaltensänderung bezüglich häuslicher Mundhygiene und Ernährung (Abb. 2b). DOKUMENTATION Spuren von Gewalteinwirkung sind am menschlichen Körper meist nur für eine begrenzte Zeit erkennbar. Deshalb stellt
Das Zahnärzte-Praxis-Panel: Ihre U
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