24 Titelthema Meilenstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung 100 Jahre Frauenwahlrecht Der Strukturwandel in der Zahnmedizin, immer mehr Frauen als Praxischefin, und, wenngleich wesentlich langsamer, auch in den ehrenamtlichen Strukturen und Führungspositionen der Körperschaften – all dies ist Spiegel einer Entwicklung, die sich in vielen gesellschaftlichen Bereichen nachzeichnen lässt. In Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, gerade auch in vormals „klassischen Männerberufen“ sind Frauen zunehmend präsenter und übernehmen Verantwortung. Der Weg zum Ziel der „Gender Equality“ ist dennoch weit – und nicht zu Unrecht wird dieser Tage eines zentralen historischen Meilensteins gedacht: der Einführung des Frauenwahlrechts vor 100 Jahren. Stimmrecht für Frauen. Der Waffenstillstand vom 11. November 1918 beendete den Ersten Weltkrieg. Bereits zwei Tage zuvor hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Balkon des Berliner Reichstagsgebäudes die Republik ausgerufen. Der demokratische Aufbruch dieser Tage wurde gleichzeitig zur Geburtsstunde des Frauenwahlrechts in Deutschland. Die Verordnung über die Wahl zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung (Reichswahlgesetz) legte in § 2 fest: „Wahlberechtigt sind alle deutschen Männer und Frauen, die am Wahltag das 20. Lebensjahr vollendet haben.“ Die Idee eines Stimmrechts für Frauen war zu diesem Zeitpunkt keineswegs neu – diverse europäische Länder hatten es bereits umgesetzt. Auch in Deutschland war dies längst in der politischen Debatte angekommen. Als die SPD 1891 auf ihrem Parteitag in Erfurt ein neues Parteiprogramm verabschiedete, forderte sie darin zugleich das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen. Auf internationaler Ebene fand in den folgenden Jahren eine stärkere Vernetzung von Aktivistinnen statt, die ihre Forderungen mit immer größerer Vehemenz vertraten. Frauentag. Plakat der Frauenbewegung zum Frauentag am 8. März 1914. Nationalversammlung 1919. Dennoch sollte es in Deutschland bis 1919 dauern, bis Frauen tatsächlich zum ersten Mal an die Wahlurne gehen durften. Die Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung vom 19. Januar stellte die Premiere in der deutschen Geschichte dar. Die Wahlbeteiligung bei den Frauen lag bei über 80 Prozent, von insgesamt 423 gewählten Abgeordneten waren 37 weiblich. Die erste Frau, die eine Rede im Reichstag hielt, war die Sozialdemokratin Marie Juchacz am 19. Februar 1919. Bereits nach der Anrede „Meine Herren und Damen!“ vermerkte das Protokoll „Heiterkeit“ im Plenum. Für viele der gestandenen Abgeordneten war der Anblick demokratisch gewählter Volksvertreterinnen am Rednerpult wie in den Reihen des Parlaments offensichtlich schwer anzunehmen. Juchacz legte den Finger in die Wunde: „Ich möchte hier feststellen […], dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.“ Foto: Wikimedia/Karl Maria Stadler, gemeinfrei Verfassungsrang. Gleichberechtigt waren Frauen damit indessen lange nicht. Der juristisch verklausulierte Satz der Weimarer Verfassung „Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ (Artikel 109, Abs. 2) konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Frauen weiterhin zahlreiche Einschränkungen wirtschaftlicher, politischer und sozialer Art gegeben waren. Weitergehend war da schon das Grundgesetz von 1949 mit der schlichten Feststellung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ (Artikel 3, Absatz 2), wenngleich auch dieser scheinbar unmissverständliche Anspruch auf unterschiedlichem Wege hintertrieben wurde. Hindernisse. 1954 etwa wurde gesetzlich geregelt, dass zwar der Grundsatz der Gleichberechtigung ZBW 3/2019 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 25 gelte, dies aber nicht zum Schaden der Familie gereichen dürfe. Bei Meinungsverschiedenheiten sollte der Ehemann das letzte Wort behalten. Einen Beruf durften Frauen nur ausüben, soweit ihre Pflichten als Mutter und Ehefrau dadurch nicht beeinträchtigt würden. Erste Aufgabe der Ehefrau sei die Haushaltsführung. Was verfassungsrechtlich seit 1949 festgeschrieben ist, spiegelte sich also lange nicht in der gesellschaftlichen Realität wider – in vielen Bereichen ist eine strukturelle Benachteiligung bis heute nicht überwunden. In den Parlamenten und politischen Spitzenpositionen, in Unternehmensvorständen und Aufsichtsräten wie auch in der Wissenschaft sind Frauen bis zum heutigen Tag unterrepräsentiert. Im Deutschen Bundestag etwa beträgt ihr Anteil nach der Wahl 2017 nur gut 30 Prozent, im Landtag von Baden-Württemberg sogar weniger als 25 Prozent – das Schlusslicht unter den deutschen Landesparlamenten. Ausblick. Veränderung und Fortschritt brauchen einen langen Atem, und wie in vielen anderen Bereichen bleibt noch einiges zu tun, bis die rechtlichen und kulturellen Hürden für eine wirkliche Gleichberechtigung der Geschlechter beseitigt sind. Doch was immer in den vergangenen 100 Jahren auf dem Weg zu mehr politischer und gesellschaftlicher Teilhabe von Frauen erreicht werden konnte – in den Wirren der Novembertage des Jahres 1918 nahm diese Entwicklung eine entscheidende Wendung. Passend dazu betonte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in der Feierstunde zum hundertjährigen Jubiläum des Frauenwahlrechts: „Erst wenn Frauen und Männer wirklich frei entscheiden können, wo sie die Prioritäten in ihrem Leben setzen wollen, ohne auf Beruf oder Familie oder gesellschaftliches Engagement zu verzichten, ist das Ziel erreicht.“ Für junge Zahnärztinnen und Zahnärzte überall im Land, die ihr Privatleben neben dem Beruf frei und ohne strukturelle Hindernisse gestalten wollen, ist das eine hoffnungsvolle Perspektive. » holger.simon-denoix@kzvbw.de 100 Jahre. Am 12. November 1918 verkündet die neue Regierung im Aufruf „An das deutsche Volk!“: „Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht aufgrund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen.“ Am 19. Januar 1919 wurde nach diesem neuen Wahlrecht die verfassunggebende Nationalversammlung gewählt. Rückschritt. Weltweit gesehen geht es mit der Gleichstellung nicht wirklich voran: In einigen Bereichen wächst die Kluft sogar wieder, etwa bei Bildung und Gesundheit. Das ist ein Ergebnis des „Global Gender Gap Report 2018“, den das Weltwirtschaftsforum jährlich vorstellt. Grafik: picture alliance, Quelle: Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung Grafik: picture alliance, Quelle: Weltwirtschaftsforum, Global Gender Gap Report 2018 www.zahnaerzteblatt.de ZBW 3/2019
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