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Im Wandel der Welle

Ausgabe 1/2022

44_FORTBILDUNG

44_FORTBILDUNG ZBW_1/2022 www.zahnaerzteblatt.de Tradition. Wissenschaftliche Fortbildung, kollegialer Austausch und die Weitergabe an die nächste Generation sind wichtige Bestandteile der Tagungen der Oberrheinischen Zahnärztegesellschaft. 53. Jahrestagung der Oberrheinischen Zahnärztegesellschaft (ORZG) LEBEN IN EINEM HYBRIDEN ZEITALTER Fotos: D. Kallenberg Die Pflege der Tradition wird am Oberrhein großgeschrieben – und auch die trinationale Oberrheinische Zahnärztegesellschaft ist sich ihres kulturellen Erbes sehr bewusst. Zu diesem Erbe gehören wissenschaftliche Fortbildung, kollegialer Austausch und die Weitergabe an die nächste Generation. Den Geist der Oberrheinischen aber macht die Besinnung auf eine gemeinsame gesellschaftliche und kulturelle Identität in einer beneidenswert schönen und lebhaften Region aus. Der Kaisersaal im historischen Kaufhaus in Freiburg bot den idealen Rahmen für eine wissenschaftliche Hybridveranstaltung zum aktuellen Stand der Digitalisierung im Praxisalltag und für ein kulturelles Highlight in Form eines Konzertes. Trotz des geschichtsträchtigen Ambientes hatte die Jahrestagung nichts mit Rückwärtsgewandtheit zu tun: Die Offiziellen der Oberrheinischen wissen sehr wohl, dass ihre Organisation vom internationalen Austausch auf höchstem Niveau und von der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit lebt. Referent*innen aus Straßburg, Basel und Freiburg erfüllten diesen hohen Anspruch – mit sehr viel Liebe zum Detail. BESONDERE ATMOSPHÄRE Der Kaisersaal, von dem aus man einen schönen Blick auf das Münster und den Markt hat, stellte so etwas wie eine bergende Hülle dar, die von der Außenwelt etwas abschirmte. Vergessen konnte man die Pandemie natürlich zu keinem Zeitpunkt, denn die Hygienevorschriften wurden peinlich genau eingehalten, dazu gehörten auch das Maskentragen im Saal. Auch die Tatsache, dass auf das Auditorium statt eines sonst üblichen Festvortrages ein Konzert wartete, schon zu Beginn erkennbar am Flügel auf der Bühne, schuf eine besondere Atmosphäre. Zumal Live-Musik in Zeiten von Corona vielen schon lange nicht mehr vergönnt war. Die gute Stube der Breisgaumetropole füllte sich zeitig am 23. Oktober letzten Jahres mit Studierenden der zahnmedizinischen Fakultäten Basel, Freiburg, Straßburg. Dazu kamen niedergelassene Zahnärzt*innen, Standesvertreter*innen und Honoratioren aus dem Dreiländereck. Sie alle waren gespannt auf die Referate zum Thema „Fortschritt gleich Benefit? Der Patient im digitalen Zeitalter“. HYBRID-VERANSTALTUNG Die amtierende Präsidentin der Oberrheinischen Prof. Dr. Katja Nelson, Freiburg, konnte rund 90 Teilnehmer*innen im Saal und 20 Teilnehmende online begrüßen. Der erste Referent, Prof. Dr. Michael Bornstein, Klinik für Oral Medicine & Health und Leiter der Geschäftseinheit Forschung am Universitären Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB), wurde von Prof. Dr. Sebastian Kühl, Basel, vorgestellt, indem er auch auf die Erfahrungen des Referenten aus seiner Zeit in Hongkong hinwies. Von 2018 bis 2019 war Prof. Bornstein Associate Dean für Research & Innovation an der Zahnmedizinischen Fakultät der Universität Hongkong, wo man die Nutzung von Big Data und KI im Gesundheitssektor schon ziemlich vorangetrieben hat. Von Prof. Bornstein stammt der Satz „Wir leben in einem hybriden Zeitalter“, denn er geht davon aus, dass eine Umstellung auf vollständig digitale Praxen bei uns noch 10 bis 15 Jahre in Anspruch nehmen wird. Er begann seinen Vortrag

ZBW_1/2022 www.zahnaerzteblatt.de 45_FORTBILDUNG zum Thema „Künstliche Intelligenz (KI) und personalisierte Zahnmedizin“ damit, dass er zwischen Hype und Realität unterschied. So machte er das Auditorium auch mit verschiedenen Gamechangerm wie dem Handy im Privaten und DVT, CBCT in der Zahnmedizin aufmerksam. Am Beispiel des Lasers gelang es leicht, zu verdeutlichen, dass viele Hypes bald auch wieder „enthypt“ werden. ZUKUNFT MIT KI Der KI aber gehört nach Ansicht von Prof. Bornstein die Zukunft, wobei es nicht darum geht, den Arzt oder Zahnarzt zu ersetzen, sondern darum, Abläufe und Entscheidungsprozesse in der täglichen Praxis zu erleichtern. Digitalisierung und KI sind seiner Ansicht nach nur dann effizient, wenn sie so in den Arbeitsablauf eingebaut sind, dass man sie nicht bemerkt, weder als Behandler*in noch als Patient*in. So ist es beispielsweise denkbar, dass durch KI eine Vereinfachung bei der Befundaufnahme zu erzielen ist: Anhand einer Panoramaschichtaufnahme erkennt das Computerprogramm Zähne, Füllungen und Implantate und überträgt dies dann direkt in den dentalen Befund. Kontrolliert werden muss diese Eintragung natürlich abschließend persönlich, denn auch Computer machen Fehler. In diesem Zusammenhang erwähnte der Referent das Gigo-Dilemma (garbage in, garbage out), das besagt, dass ein Rechner mit hoher Wahrscheinlichkeit eine ungültige oder nicht aussagekräftige Ausgabe produziert, wenn die Eingabe ungültig oder nicht aussagekräftig ist. Wünschens- und anstrebenswert ist es nach Ansicht des Referenten, dass man dank KI über Algorithmen verfügen wird, die Zahnärzt*innen bei komplexen Fällen evidenzbasierte Entscheidungshilfen bieten. In Zukunft wird man sämtliche Patienteninformationen wie den medizinischen Gesundheitsstatus und auch die zahnmedizinisch relevanten Befunde eingeben können, worauf dann mittels künstlicher Intelligenz wissenschaftlich fundierte und individuell auf die jeweiligen Patientenbedürfnisse zugeschnittene Empfehlungen abgegeben werden können. Eröffnung. Die amtierende Präsidentin der Oberrheinischen Prof. Dr. Katja Nelson, Freiburg, begrüßte die rund 90 Teilneh - mer*innen im Saal. INDIVIDUALITÄT IST GEFRAGT Um patientenindividuelle Zahnmedizin ging es auch dem zweiten Vortragsredner, Prof. Dr. Benedikt Spies, seit 2020 Ärztlicher Direktor der Klinik für Zahnärztliche Prothetik am Universitätsklinikum Freiburg. Er wurde von der Präsidentin als „echtes Freiburger Bobbele“ angekündigt. Obwohl Prof. Spies einer der jüngsten Prothetik-Professoren ist, liegen ihm ältere Patient*innen und ihre verbesserte zahnärztliche Versorgung besonders am Herzen. In diesem Zusammenhang sieht er einen sinnvollen Einsatz digitaler Techniken auch darin, Zahnprothesen günstiger und einfacher herzustellen oder verlorengegangenen Zahnersatz ohne großen Aufwand neu anzufertigen. In seinem Vortrag zur Prothetik im digitalen Zeitalter stellte er anhand von eindrucksvollen Bildern drei Fälle vor, bei denen es zu entscheiden galt, ob Prothetik im digitalen Zeitalter einfacher oder schwieriger ist. Er stellte u. a. einen Patienten mit zahnlosem Oberkiefer und wenig Knochenangebot vor, eine Patientin, die mit Veneers versorgt werden musste, um wieder ein „befreites Lächeln“ zeigen zu können und einen zahnlosen Patienten, der mit Implantaten verschiedener Hersteller festsitzend versorgt worden war. Für alle diese Fälle gab es Lösungen, die auf digitalen Techniken beruhten und sehr individuell gestaltet werden konnten. Wobei Prof. Spies zu bedenken gab, dass er trotz Digitalisierung viel Zeit am Patienten verbracht hat. Entscheidend für den Erfolg ist seiner Ansicht nach außerdem, dass das Labor „Lust hat, den Weg mitzugehen“, denn jeder Wechsel von digital zu analog oder umgekehrt ist mit Fehlern oder Ungenauigkeiten behaftet. Prof. Oliver Huck, Straßburg, übernahm die Einführung für den Vortrag von Dr. Cyril Perez, Straßburg. Er sprach zum Nutzen der 3D-Bildgebung in der Endodontie/Apport du numérique en endodontie. Leider stand in diesem Jahr aus Kostengründen keine Simultanübersetzumg der französischen Beiträge zur Verfügung, sodass vor allem die französischsprachigen Teilnehmer von den Ausführungen profitierten. Wie die zahlreichen Nachfragen zeigten, gab es aber keine große Sprachbarriere, denn im Dreiländereck ist man polyglott. Dr. Perez zeigte anhand zahlreicher Schaubilder u. a. die Zeitersparnis zwischen konventionellem und digitalem Vorgehen in der Endodontie, speziell wenn es bei der Revision einer Wurzelbehandlung um die Entfernung von Faserstiften oder -pfosten geht. Mit Irina Wagner am Flügel und Boriana Baleff, Violine, die Werke von Händel und Mozart darboten, kamen die Kongressteilnehmer*innen zu einem Kunstgenuss erster Güte, ehe es zu den Vorträgen der drei Promovenden ging, die sich um den Dissertationspreis der Oberrheinischen bewarben. Sie kamen von den Universitäten Freiburg, Basel und Straßburg und trugen die Essenz ihrer Doktorarbeiten vor. Dr. Karima El Ouahabi, Straßburg, sprach über „Immediat dentin sealing versus smear layer“, Selina A. Bernauer, Basel, über „Influence of preparation design, marginal gingiva location and tooth morphology on the accuracy of digital impressions for fullcrown restorations an in vitro investigation“ und Mario Recca, Freiburg, über „In-vitro-Genauigkeit von Intraoralscans bei verbundenen und unverbundenen Inplantatscankörpern“. Eine salomonische Entscheidung sprach allen drei Nachwuchswissenschaftler*innen den Preis zu – sehr zur Freude von Auditorium und Preisträger*innen. Am Nachmittag gab es noch Hands-on für Studierende und einen Empfang in der Galerie Baumgärtner, wo vor allem die Skulpturen des Südtirolers Walter Moroder die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Der Künstler setzt sich in seinen Arbeiten mit der Figürlichkeit des Menschen und auch mit seiner Verletzlichkeit auseinander – ein Thema, das in dieser Zeit besonders zum Nachdenken anregte. Dorothea Kallenberg

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