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Im Wandel der Welle

Ausgabe 1/2022

38_FORTBILDUNG

38_FORTBILDUNG ZBW_1/2022 www.zahnaerzteblatt.de Ein Fall aus dem Zentrum für Implantologie und Oralchirurgie Heidelberg ENTFERNUNG EINER FOLLIKULÄREN ZYSTE Die follikuläre Zyste ist nach der radikulären die zweithäufigste Zyste im Kieferbereich, jedoch in Abgrenzung zu letzterer nicht entzündlicher Genese. Aufgrund des symptomlosen Wachstums können follikuläre Zysten unbemerkt erhebliche Größen erreichen und werden meist als Zufallsbefund auf dentalen Röntgenaufnahmen entdeckt. Durch die stetige Volumenzunahme der follikulären Zyste können Verbindungen zur Mundhöhle entstehen, die eine Infektion begünstigen. Ihr verdrängendes Wachstum kann auch zur Verlagerung oder Beschädigung von Nachbarstrukturen wie Zähnen oder Nerven führen. Bei ausgeprägten Zysten besteht zusätzlich das Risiko von Spontanfrakturen des Kieferknochens. Des Weiteren können ursächliche Zähne im Oberkiefer in die Kieferhöhle verdrängt werden, sodass ein Eingriff in diesem Bereich notwendig werden kann. Bei ausgedehnten Zysten besteht bei der Entfernung zudem das Risiko der Beschädigung von Nachbarstrukturen wie Zähnen oder Nerven. Deshalb steht der Chirurg vor der Entscheidung, ob die Zysten mittels Zystektomie vollständig in einem Schritt entfernt werden können oder ob ein offenes Vorgehen im Rahmen einer Zystostomie mit sekundärer Entfernung nach Verkleinerung der Zyste sinnvoll ist. Durch Drainagen oder Obturatoren wird beim offenen Vorgehen der Zugang zur Mundhöhle gewährt. Dies nimmt der Zyste den Wachstumsdruck und führt zu einer langsamen Verkleinerung. Nachteilig für den Patienten ist beim offenen Vorgehen die lange Nachbehandlungszeit, bedingt durch regelmäßige Wechsel der Drainage beziehungsweise durch die notwendige Reinigung des Obturators, sowie ein sich häufig einstellender foetor ex ore. In der Literatur wird nicht zuletzt aus diesem Grund die Zystektomie als Therapie der Wahl beschrieben 1 . KASUISTIK Ein 28-jähriger Patient stellte sich im Oktober 2020 nach Überweisung seines Hauszahnarztes im Zentrum für Implantologie und Oralchirurgie vor, nachdem sich in der Panoramaschichtaufnahme als Zufallsbefund eine ausgedehnte Aufhellung im Bereich des rechten Kieferwinkels mit Bezug zur Krone des Zahnes 48 zeigte. Der Patient gab an, keine Allge- 1 2a 2b Erstvorstellung. Panoramaschichtaufnahme: Der Zahn 34 ist kariös zerstört, die Zähne 18, 28, 38 und 48 sind retiniert, 28, 38 und 48 zusätzlich verlagert. Im Bereich des rechten Kieferwinkels zeigt sich eine ausgedehnte, scharf begrenzte Aufhellung mit Bezug zur Krone des Zahnes 48. Digitale Volumentomographie (DVT). Weiterführende Diagnostik: Der Nervus alveolaris inferior (blaue Pfeile) liegt lingual des impaktierten Zahnes 48 sowie am kaudalen Rand der zystischen Veränderung. Die linguale Knochenlamelle ist ausgedünnt, jedoch intakt (grüner Pfeil). (a: coronare Ebene, b: sagittale Ebene).

ZBW_1/2022 www.zahnaerzteblatt.de 39_FORTBILDUNG 3 Marginale Schnittführung in regio 48-45 mit Entlastung mesial 45 sowie Darstellung des Kieferwinkels. 4 Anlage eines Knochendeckels. vertikaler Schnitt im anterioren Bereich (blauer Pfeil), horizontale Schnitte (grüne Pfeile) im Bereich des Kieferwinkels unterhalb der Linea obliqua (grüne Linie). Hierbei ist eine deutliche Überkreuzung der Schnitte bis zum größten Durchmesser der diamantierten Scheibe nötig, damit sich der Knochendeckel mobilisieren lässt. meinerkrankungen oder Allergien zu haben und keine Medikamente einzunehmen. Klinisch zeigte sich außer einem zerstörten Zahn 34 ein ansonsten unauffälliger Befund. In der Panoramaschichtaufnahme waren die Zähne 18 und 28 impaktiert, die Zähne 38 und 48 impaktiert sowie verlagert. Im rechten Kieferwinkel zeigte sich eine ausgedehnte, scharf abgegrenzte Aufhellung mit Einschluss der Krone des Zahnes 48 (Abb. 1). Eine digitale Volumentomographie (DVT) wurde angefertigt, um die Nachbarstrukturen, insbesondere die Lage des N. alveolaris inferior sowie die Knochenwandstärke und das damit einhergehende Risiko einer intraoperativen Fraktur, zu beurteilen (Abb. 2). Im DVT zeigte sich eine oberflächliche Resorption an der distalen Wurzel des Zahnes 37 sowie eine ausgedünnte, aber vorhandene linguale Knochenlamelle in regio 48. Am kaudalen Rand der Zyste in regio 47-49 war der Nervkanal zu erkennen. Eine knöcherne Abgrenzung zum Defekt fehlte teilweise. Der Befund sprach, insbesondere durch das Fehlen einer Septierung, für das Vorliegen einer follikulären Zyste. Differentialdiagnostisch kamen eine Keratozyste oder ein Ameloblastom in Frage. THERAPIEENTSCHEIDUNG Mit dem Patienten wurden die verschiedenen Behandlungsoptionen besprochen. Es kamen eine Zystostomie mit sekundärer Zystektomie nach Verkleinerung sowie eine primäre Zystektomie in Betracht. Ebenfalls wurde der Einsatz einer Osteosyntheseplatte sowie das Auffüllen des Zystenlumens mit Knochen, Knochenersatzmaterial oder Kollagen besprochen. Die Vor- und Nachteile sowie mögliche Komplikationen wurden ausführlich mit dem Patienten diskutiert. Auf Wunsch des Patienten sollte eine lange Behandlungsdauer vermieden werden. Deshalb wurde die Entfernung der Zähne 18, 28, 38, 34 und 48 sowie die Zystektomie unter Verwendung eines Knochendeckels in einem Eingriff geplant. Das Zystenlumen sollte auf Patientenwunsch mit Kollagen gefüllt werden. THERAPIE Die Durchführung des Eingriffs erfolgte in Intubationsnarkose unter perioperativer antibiotischer Abschirmung (Amoxicillin 750 mg 1-1-1 für sieben Tage) sowie mit einer antiphlogistischen Prophylaxe (100 mg Decortin als single shot). Im ersten Schritt wurden die Zähne 18, 28, 38 und 34 entfernt. Hierfür war ein mehrfaches Teilen des Zahnes 38 aufgrund seiner Lage notwendig. Danach erfolgte eine marginale Schnittführung von regio 45 bis 48 mit mesialer Entlastung, die Darstellung der Linea obliqua externa sowie des Kieferwinkels (Abb. 3). Um das Frakturrisiko durch Schwächung des Kieferknochens zu minimieren, wurde der Knochendeckel für den Zugang kaudal der Linea obliqua externa angelegt (Abb. 4). Dieser wurde unter Verwendung einer diamantierten Scheibe gebildet. Nach Luxation des Knochendeckels wurde dieser in steriler Kochsalzlösung gelagert. Der ursächliche Zahn 48 wurde geteilt und vorsichtig entfernt (Abb. 5). Danach wurde die Zyste mit einem scharfen Löffel von kranial beginnend exkochleiert. Nach breitflächigem Lösen der Zyste von den Knochenwänden konnte diese mit einer Klemme vorsichtig entfernt werden, um den kaudal freiliegenden Nerv möglichst zu schonen. Nach vollständiger Entfernung wurde 5 6 Eröffnung der Zyste. Zustand nach Entfernung des Knochendeckels und lateraler Eröffnung der Zyste. Im mesiocranialen Abschnitt des Knochenfensters zeigt sich der Zahn 48 (blaue Pfeilmarkierung). Wundverschluss mittels Einzelknopfnähten und resorbierbarem Nahtmaterial.

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