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Im Wandel der Welle

Ausgabe 1/2022

32_POLITIK ZBW_1/2022

32_POLITIK ZBW_1/2022 www.zahnaerzteblatt.de erreicht werden – der Mehrwertsteuersatz auf Medikamente soll auf sieben Prozent sinken. Das Preisfindungsverfahren nach dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz soll weiterentwickelt werden. Die zwischen Kassen und Herstellern ausgehandelte Erstattungshöhe für Medikamente soll nicht erst ein Jahr nach Markteintritt gelten, sondern bereits nach sieben Monaten. Für Kinder und Jugendliche soll in der privaten Krankenversicherung das Prinzip der Direktabrechnung gelten. Bewertung: Eine Stabilisierung der GKV-Finanzen durch Steuerzuschüsse ist kurzfristig notwendig, um die Zusatzbeiträge stabil zu halten. Sie wird auch zukünftig immer wieder ins Spiel kommen. Allerdings ist – über die genannten Maßnahmen hinaus – auch die Ausgabenseite in den Blick zu nehmen, etwa durch erfolgreiche Vorsorgemodelle wie es sie in der Zahnmedizin bereits gibt und durch mehr Eigenverantwortung der Patient*innen. DIGITALISIERUNG Hier liegt der Fokus auf der Lösung von Versorgungsproblemen und der Perspektive der Nutzer*innen. Die Regierungspartner kündigen an, eine „regelmäßig fortgeschriebene Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen und in der Pflege“ verfolgen zu wollen. Dazu soll u. a. die digitale Kompetenz in der Ausbildung von Gesundheits- und Pflegeberufen eine stärkere Rolle spielen. Die Einführung der elektronischen Patientenakte wird „beschleunigt“, alle Versicherten bekommen DSGVO-konform eine ePA zur Verfügung gestellt, deren Nutzung jedoch freiwillig ist („opt-out“). Sämtliche Akteure sollen beschleunigt an die Telematikinfrastruktur angebunden werden. Telemedizinische Leistungen wie Arznei-, Heil- und Hilfsmittelverordnungen sowie Videosprechstunden, Telekonsile, Telemonitoring und die telenotärztliche Versorgung sollen „regelhaft“ ermöglicht werden. Die Gematik soll zu einer „digitalen Gesundheitsagentur“ ausgebaut werden. Bewertung: Die Zielsetzung der Lösung von Versorgungsproblemen und die Anwender-Orientierung sind im Grundsatz zu begrüßen, es fehlt jedoch an einer konkreten Problemanalyse. So wäre eine systematische Beseitigung bisheriger Fehler Digitalisierungsstrategie. Die Digitalisierung bleibt eine Großbaustelle. Positive Anreize anstelle von Sanktionen wären ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. wichtiger als eine weitere Beschleunigung bei der TI. Auch fehlt das klare Bekenntnis, positive Anreize statt Sanktionen umsetzen, gerade wenn man die Perspektive der Nutzer*innen in den Fokus nehmen will. BÜROKRATIE Ein zentrales Anliegen der Zahnärzteschaft und eine langjährige Forderung ihrer Körperschaften wird ebenfalls in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen: die dringend nötige Entlastung von Bürokratievorgaben. So soll ein Bürokratieabbaupaket Hürden in der Versorgung senken. Beispielsweise soll das Sozialgesetzbuch im Hinblick auf nicht mehr zeitgemäße Dokumentationspflichten überprüft werden. Bewertung: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ Nach unzähligen Lippenbekenntnissen in den letzten Jahren ohne echte Verbesserungen ist hier zunächst Skepsis angezeigt. Wenn es der neuen Bundesregierung tatsächlich gelingen sollte, spürbare Entlastungen von Bürokratie im Praxisalltag umzusetzen, wäre dies ein großer Wurf für die vertragszahnärztliche Versorgung. Die Zahnärzteschaft ist gerne bereit, hier konkrete Vorschläge zu unterbreiten. PRÄVENTION STÄRKEN Krankenkassen und andere Akteure werden dabei unterstützt, sich gemeinsam aktiv für die Gesunderhaltung aller einzusetzen. Ziel ist ein nationaler Präventionsplan sowie konkrete Maßnahmenpakete etwa zu den Themen Alterszahngesundheit, Diabetes, Einsamkeit, Suizid, Wiederbelebung und Vorbeugung von klima- und umweltbedingten Gesundheitsschäden. Krankenkassen sollen weniger Beitragsmittel für Werbemaßnahmen und Werbegeschenke verwenden, dies soll einer verstärkten Prävention und Gesundheitsförderung zugutekommen. Bewertung: Die Zahnärzteschaft hat in den zurückliegenden Jahrzehnten eindrucksvoll demonstriert, welche Erfolge durch eine gute, strukturierte Vorsorge hinsichtlich einer besseren Mundgesundheit erzielt werden können. Dieser Leitgedanke ist sicherlich auch für andere Bereiche zielführend. SELBSTVERWALTUNG Die Unabhängige Patientenberatung (UPD) wird in eine dauerhafte, staatsferne und unabhängige Struktur unter Beteiligung der maßgeblichen Patientenorganisationen überführt. Mit einer Reform des G-BA sollen Entscheidungen der Selbstverwaltung beschleunigt, die Patientenvertretung gestärkt und der Pflege sowie anderen Gesundheitsberufen weitere Mitsprachemöglichkeiten eingeräumt werden, sobald diese betroffen sind. Der Innovationsfonds wird verstetigt. Die paritätische Beteiligung von Frauen in den Führungsgremien der Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen so- Foto: M. Stollberg

ZBW_1/2022 www.zahnaerzteblatt.de 33_POLITIK wie ihrer Spitzenverbände auf Bundesebene sowie der gesetzlichen Krankenkassen soll gestärkt werden. Bewertung: Eine unabhängige Struktur der UPD ist begrüßenswert – sie darf aber nicht in Konkurrenz zu erfolgreichen Modellen auf Landesebene wie der Zahnmedizinischen Patientenberatungsstelle Baden- Württemberg treten. Die Beschleunigung von Verfahren im G-BA ist ebenfalls zu begrüßen. Sie darf allerdings nicht zu Lasten der Qualität der Entscheidungen gehen. Die Institutionen der Selbstverwaltung sind gefordert, sich kurzfristig nicht nur hinsichtlich einer stärkeren Beteiligung von Frauen in Führungspositionen zu positionieren sondern auch erste Maßnahmen zu ergreifen. Ansonsten wird die gesetzliche Regelung sicherlich nicht lange auf sich warten lassen. FREIBERUFLICHKEIT Die Freien Berufe sind als Gruppe adressiert, ein allgemeines Heilberufegesetz soll auf den Weg gebracht werden. Die berufsständische Altersversorgung wird nicht in Frage gestellt. Bewertung: Das Bekenntnis zu den Freien Berufen und die Rückendeckung für das hiesige „System Freier Beruf “ mit Blick auf die Politik auf europäischer Ebene sind zu begrüßen. Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit sich dies auch in konkretem politischem Handeln niederschlägt. Ebenso ist zu begrüßen, dass die berufsständische Altersversorgung nicht in Frage gestellt wird. Dr. Holger Simon-Denoix KOMMENTAR Dr. Ute Maier Vorsitzende des Vorstands der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg STANDESPOLITISCHER ZWISCHENRUF Glückwunsch, Herr Bundeskanzler! Seit dem 8. Dezember 2021 ist Olaf Scholz nun im Amt und dieses Land hat eine neue Bundesregierung, die sich – nicht unbescheiden – selbst das Etikett „Fortschrittskoalition“ verpasst hat. „Mehr Fortschritt wagen“ lautete denn auch der Soundtrack zur Präsentation des gemeinsamen Regierungsprogramms – und wer wollte schon etwas gegen Modernisierung und das Aufbrechen überkommener Strukturen einzuwenden haben? Dass die Kanzlerpartei zwölf der letzten 16 Jahre stets mit am Kabinettstisch saß und für Entscheidungen mit verantwortlich war, sei am Rande bemerkt, soll aber die verhaltene Aufbruchsstimmung nicht trüben. Denn es ist evident, dass von allen großspurigen Zielen zunächst die Bekämpfung der Pandemie alle Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen wird. Nicht nur das zögerliche Handeln der geschäftsführenden alten Bundesregierung sondern auch die lange bestehende Zurückhaltung der in Verhandlungen begriffenen Ampelparteien nach der Wahl haben genug Schaden angerichtet. Umso wichtiger also, dass schnell konkrete Maßnahmen beschlossen und durchgesetzt werden. Was haben wir Zahnärztinnen und Zahnärzte darüber hinaus zu erwarten? Die Lektüre der gesundheitspolitischen Passagen des Koalitionsvertrags bietet einige Lichtblicke, etwa das Bürokratieabbaupaket, die Nutzerorientierung bei der Telematik oder die Stärkung von Prävention und Vorsorge. Auch die Beibehaltung der Dualität von GKV und PKV ist – wenn auch im Gegensatz zum ersten Sondierungspapier nicht nochmal explizit erwähnt – auf den ersten Blick positiv. Bei verschiedenen konkreten Punkten zeigt sich also, dass der Einsatz der Selbstverwaltung für die Interessen der Zahnärztinnen und Zahnärzte durchaus erfolgreich sein kann. Enttäuschend ist dagegen, was so alles nicht im Koalitionsvertrag steht: Die Abschaffung der Budgetierung zur Sicherung der Versorgung im ländlichen Raum ist zwar ein hervorragender Gedanke! Aber warum gilt dies nur für die hausärztliche Versorgung? Und wieso gilt das nur für bestimmte Regionen? Wieder mal drängt sich der Eindruck auf, die Zahnärzteschaft wird einfach übersehen. Dabei wäre dies ein wichtiger Schritt, um die Niederlassungsbereitschaft zu erhöhen und damit präventiv zu verhindern, dass bei uns Versorgungslücken wie im hausärztlichen Bereich entstehen. Die Abschaffung von Sanktionen bei der Telematikinfrastruktur sucht man vergeblich, ebenso eine klare Ansage zur Regulierung investorengetragener MVZ, die regelmäßig keinerlei Beitrag zur wohnortnahen Versorgung leisten und stattdessen auf Gewinnmaximierung durch Konzentration auf finanzstarke Ballungszentren setzen. Auch ein deutliches Bekenntnis zur Kompetenz der Selbstverwaltung fehlt sträflich, dabei hat sich unser System gerade in der Coronapandemie vielfach bewährt. Nach den unzähligen Bestrebungen der letzten Jahre, die Kompetenzen der Selbstverwaltung zu beschränken und Zuständigkeiten auf die staatliche Seite zu ziehen, wäre ein Richtungswechsel dringend erforderlich. Wenn sich der neue Gesundheitsminister nach vier Jahren mit einer guten Bilanz hinsichtlich des Erhalts starker Versorgungsstrukturen zugunsten der Bevölkerung schmücken will, sollte die gesundheitspolitische Maßgabe lauten: „Mehr Selbstverwaltung wagen!“

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