46_PROPHYLAXE ZBW_10/2023 www.zahnaerzteblatt.de Interview mit Prof. Dr. Diana Wolff „VULNERABLE GRUPPEN FALLEN DURCHS RASTER“ Prof. Dr. Diana Wolff leitet die bundesweite Arbeitsgruppe „ITN-Sanierung vulnerabler Gruppen an Universitätsklinika“. Wer wissen will, wie es um die Versorgung der Zahngesundheit vulnerabler Gruppen steht, ist bei Prof. Dr. Diana Wolff an der richtigen Stelle. Im Gespräch sensibilisiert sie für Probleme und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Engpässe. „Wir konkurrieren um OP-Kapazität mit großen und starken medizinischen Fächern […]. Bei Engpässen stehen unsere Patientinnen und Patienten, wenn es sich nicht um Notfälle handelt, nicht an erster Stelle.“ ZBW: Frau Prof. Dr. Wolff, als ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde an der Klinik für Mund-, Zahn- und Kieferkrankheiten des Universitätsklinikums Heidelberg behandeln Sie auch vulnerable Gruppen. Wie ist es aktuell um die zahnmedizinische Versorgung dieser Patientengruppe bestellt? Prof. Dr. Diana Wolff: Sehr kleine Kinder, schwer kranke Menschen, Menschen mit Behinderungen und Unterstützungsbedarf sowie geriatrische Patientinnen und Patienten stellen mittlerweile einen substanziellen Teil unseres Patientenkollektivs an den Universitätskliniken dar. Die Fallschwere unsere Patientinnen und Patienten hat sich über die letzten Jahre zunehmend verschärft, nicht nur, weil eigene Zähne durch präventive und restaurative Maßnahmen erhalten werden können und damit eine Morbiditätskompression ins Alter und in Krankheitszustände Foto: Universitätsklinikum Heidelberg stattfindet, sondern auch, weil die Mundgesundheit und die Auswirkungen oraler Erkrankungen auf die Allgemeingesundheit Patienten und Ärzten heute bekannt sind, sodass bei kranken Menschen z. B. vor Transplantationen, onkologischen Therapien, bei kardiovaskulären Erkrankungen und Autoimmunerkrankungen der Bedarf nach zahnärztlicher Sanierung und Behandlung deutlich gestiegen ist. Diese vulnerablen Patientinnen und Patienten kommen zu uns, weil sie durch ihre komplexen Krankheitsbilder, Medikation und schwierige Behandelbarkeit die Kollegen in der Praxis überfordern bzw. es eben auch fachlich erforderlich ist, dass eine Klinik mit breit aufgestellter medizinisch-zahnmedizinischer Kompetenz die Versorgung übernimmt. In unserer Kindersprechstunde sehen wir beispielsweise vulnerable Kinder und Heranwachsende. Knapp 90 Prozent der dortigen Patientinnen und Patienten haben eine diagnostizierte ICD-10-Diagnose, wie beispielsweise Fehlbildungssyndrome, geistige und körperliche Entwicklungsstörungen, Intelligenzminderung, Stoffwechselkrankheiten, Epilepsien, Paresen, Fehlbildungen des Herzens, Krankheiten des Blutes, blutbildender Organe etc. Die Versorgung dieser Kinder und Erwachsenen bringt uns an den Rand der Belastbarkeit. Wir müssen strenge Aufnahmekriterien anlegen und schicken regelhaft Patientinnen und Patienten zurück zu Hauszahnärzten oder verweisen an andere Einrichtungen, weil sie nicht zwingend durch uns als Maximalversorger betreut werden müssen, wenn sie eine geringere Fallschwere aufweisen und im ambulanten hauszahnärztlichen Setting durchaus behandelt werden können. Aktuell gab es einen Fall, bei dem ein sehr kleines Kind mit Bedarf an zahnmedizinischer ITN-Sanierung von vorab 14 Einrichtungen/Praxen weggeschickt wurde und dann schließlich zu uns kam. Dieses Einzelbeispiel illustriert eine dramatische Schieflage in unserem System, die bedingt, dass vor allem vulnerable Gruppen durch das Raster fallen und riesige Hürden überwinden müssen, bis sie die ihnen gesetzlich zustehenden Gesundheitsleistungen erhalten. Ich kann meine Aussage anhand von Daten einer kürzlich von uns durchgeführten bundesweiten Umfrage an den deutschen Universitätszahnkliniken stützen. Diese hat gezeigt, dass sich die Situation in den letzten 13 Jahren deutlich verschlechtert hat. Gaben vor 13 Jahren lediglich fünf Prozent der Universitätszahnkliniken in Deutschland an, Patienten in Narkose nicht ausreichend versorgen zu können, so waren es aktuell 92 Prozent der Standorte, die Patientinnen und Patienten abweisen müssen. Am Standort Heidelberg beträgt die Wartezeit auf einen Narkosetermin mit stationärer Nachbetreuung aktuell zwölf Monate. Die hohe Krankheitslast bei Kindern und Erwachsenen mit Behinderung und Unterstützungsbedarf haben wir in einer aktuellen Studie (Publikation läuft) festgestellt. Es treten vor allem schwere Karieserkrankung, Parodontitis, Zahnfehlstellungen und dentale Traumata durch z. B. Stürze aus dem Rollstuhl oder motorische Einschränkungen auf. Die Karies erfahrung für Dentinkaries lag bei den 700 untersuchten Proband*innen bei knapp 80 Prozent. Heute versorgen wir präventiv-konservierend und damit bedarfsgerecht. Früher hat man in Narkose reihenweise Zähne extrahiert, heute werden Kompositrestaurationen, Stahlkronen, Wurzelbehandlungen, Professionelle Zahnreinigung und Parodontitistherapie in Narkose durchgeführt. In unserem Haus werden pro durchgeführter Narkose (interne Daten) im Schnitt lediglich 0,3 bleibende Zähne gezogen. Das ist ein riesiger Gewinn für die Patientinnen und Patienten, denn die eigenen Zähne zu erhalten, bedeutet deutlich höhere Lebensqualität, bessere Kauleistung
ZBW_10/2023 www.zahnaerzteblatt.de 47_PROPHYLAXE und Erhalt der motorischen und kognitiven Fähigkeiten sowie ein besserer Allgemeinzustand. Allerdings können wir in der aktuellen Situation nur einen sehr kleinen Anteil der vulnerablen Gruppen in dieser Form versorgen. Welche Folgen hat diese Situation für Patientinnen und Patienten? Orale Erkrankungen bedingen schwerwiegende Effekte für die Allgemeingesundheit. Entzündung der Mundhöhle (Gingivitis, Parodontitis) und die damit vergesellschaftete Keimflora können sich im Körper ausbreiten und andere Erkrankungen auslösen bzw. verschlimmern. Wir wissen um die Zusammenhänge und Assoziationen mit Diabetes, Herzerkrankungen, Schlaganfall, Autoimmunerkrankungen, Schwangerschaftskomplikationen, Krebserkrankungen, Demenz etc. Schmerzen im Mundbereich schränken die Lebensqualität ein und verschlechtern den Allgemeinzustand, weil die Nahrung verweigert wird. Zudem sind fehlende Zähne im sichtbaren Bereich einschränkend im sozialen Umgang. Eltern und Pflegende sind sehr oft hilflos, wütend und ebenso am Rand der Belastbarkeit, wenn bei Zahnschmerzen keine schnelle Abhilfe geschaffen werden kann. Neben den alltäglichen Belastungen in einer Pflegesituation schaffen orale Schmerzzustände zusätzliche Schwierigkeiten. Menschen mit eingeschränkter Mitteilungsfähigkeit entwickeln aggressives Verhalten oder verweigern sich. Alles in allem eine unwürdige Situation für alle Beteiligten. Wo sehen Sie die Ursachen der Probleme? Als universitäre Zahnmedizin sind wir fachlich in der Lage, in Abstimmung mit den Disziplinen vor Ort, diese Patienten medizinisch-zahnmedizinisch adäquat zu versorgen, allerdings ist dies nicht unsere ureigene (Haupt-)Aufgabe. Je nach Vertragskonstrukt in den Hochschulambulanzen haben viele Zahnkliniken keinen Versorgungsauftrag bzw. lediglich geringfügige Sicherstellungsanteile. Mit der Versorgung von vulnerablen Patienten stemmen wir jedoch einen substanziellen Anteil der Sicherstellung dieser Patientengruppen. Das wäre insofern kein Problem, wenn nicht für das zahnärztliche Personal und die Universitätszahnkliniken das Kapazitätsrecht gelten würde. Das Kapazitätsrecht sieht Personal für Lehre und Forschung zzgl. der angebundenen Krankenversorgung vor. Vulnerable Gruppen sind zumeist nicht geeignet für Behandlungen im Rahmen der zahnärztlichen Ausbildung und müssen als zusätzliche Aufgabe bewältigt werden. Deswegen ist grundsätzlich kein ausreichendes und explizites zahnärztliches Personal für diese zusätzlichen Krankenversorgungsaufgaben verfügbar. Zum Verständnis: Die Anzahl der Lehrenden ist direkt verknüpft mit der Zahl der auszubildenden Studierenden. Jeder „wissenschaftliche Kopf“ wird für die Studierenden-Aufnahmekapazität gezählt. Zusätzliche Stellen für Zahnärzte für diese spezielle Krankenversorgungsaufgaben können unter geltendem Recht nicht geschaffen werden (ohne rechtlich angreifbar zu sein). Im Gesamtkontext Universitätsmedizin ist die Zahnmedizin ein eher kleines Fach. Wir konkurrieren um OP-Kapazität mit großen und starken medizinischen Fächern und sind häufig nicht im Notfallbereich, also wenn es um Leben oder Tod der Patienten geht, tätig. Bei Engpässen stehen unsere Patienten, wenn es sich nicht um Notfälle handelt, nicht an erster Stelle. Vor dem Hintergrund der aktuell desaströs defizitären Abrechenbarkeit von zahnmedizinischen Sanierungen in Narkose ist an eine Forderung nach Kapazitätsausweitung nicht zu denken. Wenn wir uns suffizient und auskömmlich aufstellen wollen, dann müssen diese Eingriffe mindestens kostendeckend werden. Davon sind wir heute meilenweit entfernt. Weitere Probleme genereller Art sind natürlich Pflegenotstand, Kapazitätsengpässe in den OPs, Unterfinanzierung der Universitätsmedizin im Allgemeinen etc. Was muss konkret unternommen werden, um die Versorgung kurzfristig und auf lange Sicht zu verbessern? Auskömmliche Vergütungsmodelle bezogen auf die verschiedenen Stufen der Fallschwere müssen denjenigen zugänglich gemacht werden, die die Fachkompetenz und Ausstattung für die jeweilige Versorgung haben. Nicht alle Patienten müssen an eine Universitätsklinik. Wir brauchen gut organisierte Netzwerke mit Versorgerstufen für die unterschiedlichen Fallklassen. Für eine Universitätsklinik bedeutet das, wir sind für die Patienten mit hohem Anästhesierisiko (ASA III, ASA II/I mit stationärem Aufenthalt) zuständig. Unsere Aufwendungen müssen angemessen vergütet werden. Zahnmedizinische Leistungen beispielsweise gemäß BEMA/GOZ mit aufwandsentsprechendem Zuschlag sowie auskömmliche Vergütung der Anästhesieleistungen. Diese müssen für Patienten im Rahmen ambulanter und stationärer Behandlung geltend gemacht werden können, da das effektive DRG-Entgelt stationärer Behandlungen aktuell ebenfalls hochdefizitär ist. Wir kalkulieren hausintern mit einem erforderlichen Deckungsbeitrag von 20 Euro pro OP- Minute, wenn wir eine Zahnbehandlung in Vollnarkose durchführen. Dazu kommen die Leistungen, die vor und nach der OP anfallen. In Abstimmung mit dem geltenden Kapazitätsrecht in der Zahnmedizin müssen zusätzliche Stellen rechtlich ermöglicht und finanziert werden, um diesen Sonderversorgungsbereich vulnerabler Patienten inklusive Narkosesanierungen durch uns als Universitätskliniken weiterhin bedienen zu können. Gerade im Zuge der Umsetzung der neuen Zahnärztlichen Approbationsordnung sind die Personalkapazitäten in der Zahnmedizin extrem angespannt. Die Herausforderungen in der Lehre binden jegliches Personal. In den kommenden Jahren werden noch weniger Universitätszahnkliniken in der Lage sein, Personal, Sachmittel und OP- Kapazität für dramatisch unterfinanzierte Leistungen im Versorgungssektor vulnerabler Gruppen aufbringen zu können. Zeitaufwändige und kostenintensive präventiv-zahnerhaltende Therapiekonzepte sind unter diesen Bedingungen immer schwieriger bis gar nicht mehr umsetzbar. Ich prognostiziere, dass sich die zahnmedizinische Versorgung der vulnerablen Gruppen in den nächsten Jahren dadurch nochmals deutlich verschlechtern wird, wenn nicht grundlegende Anpassungen in der Organisationsstruktur und im Vergütungssystem vorgenommen werden. Das Gespräch führte Alexander Messmer ZUR PERSON Prof. Dr. Diana Wolff ist seit August 2021 W3-Professorin für Zahnerhaltungskunde und Ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltungskunde der Klinik für Mund-, Zahn- und Kieferkrankheiten des Universitätsklinikums Heidelberg. Von 2017 bis 2021 war sie W3-Professorin für Zahnerhaltungskunde und Ärztliche Direktorin der Poliklinik für Zahnerhaltung am Universitätsklinikum Tübingen. Sie ist aktuell Präsidentin der Vereinigung der Hochschullehrer für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde und Leiterin der bundesweiten VHZMK Arbeitsgruppe „ITN-Sanierung vulnerabler Gruppen an Universitätsklinika“.
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