8 Titelthema Foto: Fotolia Gender-Medizin Frauen und Männer werden unterschiedlich krank Eigentlich wissen das alle aus Erfahrung: An Rheuma, Depression, Schilddrüsenerkrankungen und Osteoporose leiden vor allem Frauen. Am Herzinfarkt vor 60 Jahren sterben überwiegend Männer und auch der plötzliche Herztod bei Sportlern trifft fast immer die Männer. Weniger bekannt ist, dass eine stressinduzierte Herzerkrankung, das Broken-Heart-Syndrom, ebenso tödlich wie ein Herzinfarkt ist und zu 90 Prozent die Frauen trifft. Herzinfarkt ist nicht gleich Herzinfarkt – es gibt deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Ein Beispiel ist eine junge Frau, knapp 40 Jahre alt, von Beruf Friseuse, der es bei ihrer Arbeit am Freitagnachmittag plötzlich nicht mehr gut ging, sie klagte über Übelkeit, Schwäche, auch Bauch- und Brustschmerzen. Sie rief nicht um Hilfe, sie zog sich auf die Toilette zurück und versuchte abzuwarten, bis es ihr besser ging. Es wurde nicht besser. Sie versuchte weiterzuarbeiten, es ging nicht, sie erntete Ärger mit Chef und Kolleginnen und ging schließlich nach Hause. In der folgenden Woche ging sie zum Hausarzt. Der hatte den Verdacht auf eine Magenverstimmung und verschrieb ihr Medikamente. Sie versuchte in der Woche wieder zu arbeiten, aber es ging ihr nicht besser. Sie ging in die Notaufnahme eines Krankenhauses, wurde von dort wieder als gesund nach Hause geschickt. Sie versuchte trotz starker Müdigkeit, Übelkeit und Schwäche in den nachfolgenden Wochen wieder zu arbeiten. Als es ihr nach einigen Wochen akut wieder sehr schlecht ging, suchte sie Hilfe in der nächsten Apotheke. Dort wurde ein extrem erhöhter Blutdruck von 200 zu 110 gemessen. Und sie wurde in ein anderes Krankenhaus geschickt. Nach einigen Tagen wurde ein abgelaufener Herzinfarkt diagnostiziert. Was ist hier anders gelaufen als bei einem Mann? Einmal waren die Beschwerden etwas anders, als sie in den Männer-basierten Lehrbüchern stehen. Im Vordergrund standen für sie die Schwäche und Übelkeit, erst danach kamen Bauch- und Brustschmerzen. Dennoch wäre bei einem Mann von 60 sofort der Verdacht auf einen Herzinfarkt entstanden. Sie selbst dachte daran nicht, auch nicht der Hausarzt oder die Notfallmediziner im ersten Krankenhaus. Medikamentenwirkung. Wie wird es weitergehen? Unter anderem wird man ihr Medikamente verschreiben. Wenn sie ein etabliertes Medikament gegen Herzschwäche bekommt, nämlich Digoxin, könnte sie in Gefahr sein. Digitalis wurde als eines der ältesten Medikamente gegen Herzschwäche jahrzehnte- ZBW 10/2017 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 9 lang bei Frauen und Männern gleichermaßen eingesetzt, bei vielen gegen das sogenannte „Altersherz“ benutzt. Eine große Studie zu seiner Wirksamkeit in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde als Empfehlung für seinen Einsatz bei beiden Geschlechtern interpretiert, allerdings ohne dass eine geschlechtsspezifische Analyse gemacht wurde. Die erfolgte erst 2002 und dabei sah man zur großen Überraschung, dass Digoxin bei Männern gut wirkte, während es bei Frauen die Sterblichkeit sehr deutlich, hoch signifikant, erhöhte. Dies ist sicher ein extremes Beispiel für unterschiedliche Medikamentenwirkung bei beiden Geschlechtern. Es gibt weitere Beispiele für unterschiedliche Medikamentenwirkungen. Manche Mittel gegen Herzrhythmusstörungen lösen solche bei Frauen eher aus. Medikamente gegen Bluthochdruck haben bei Frauen oft mehr Nebenwirkungen. Aspirin wirkt zur Verhinderung eines ersten Herzinfarktes vor allem bei Männern unter 65, nicht bei Frauen dieses Alters. Gängige Schlafmittel wirken bei Frauen länger und stärker und führen zu Unfällen am nächsten Morgen. Die Gründe für unterschiedliche Medikamentenwirkungen bei beiden Geschlechtern sind vielfältig. Einmal werden Arzneimittel bei Frauen und Männern anders aufgenommen, umgebaut, haben Wechselwirkungen mit Geschlechtshormonen und werden anders ausgeschieden. Die Nierenfunktion ist bei kleinen alten Frauen sehr viel schlechter als bei gleichaltrigen Männern. Weiter unterscheiden sich die Organe von Frauen und Männern in ihrer Feinbauweise und Funktion ihrer Zellen. Arzneimittelentwicklung. Obwohl viele solcher Unterschiede bekannt sind, werden Arzneimittel oft nur an jungen männlichen Tieren entwickelt, acht Wochen alten Mäusen. Die Frage, ob die an männlichen Tieren gefundenen Substanzen auch bei weiblichen Tieren oder Frauen wirksam sind, interessiert wenig bis gar nicht. Wir haben in einer eigenen Studie ein gentechnisches Medikament an 400 Mäusen geprüft – es verbesserte das Überleben bei den männlichen Tieren hervorragend, bei den weiblichen leider gar nicht. Probleme, die nur bei weiblichen Tieren entstehen, Interaktion mit dem Zyklus, werden in den Studien an nur männlichen Tieren gar nicht entdeckt. Und: Mit diesem Vorgehen kann man Substanzen, die vor allem bei weiblichen Tieren oder Frauen wirksam wären, gar nicht finden. Klinische Studien wurden lange vorzugsweise an Männern durchgeführt. So waren in der oben beschriebenen Digitalis-Studie drei Viertel Männer, auch deswegen wurde der Effekt an den Frauen übersehen. Erst seit kurzem sollen neue Arzneimittel gleichermaßen an Männern und Frauen getestet werden. Aber die vorhandenen fast 100.000 alten Substanzen in unseren Apotheken sind nicht bei Männern und Frauen getestet. Physische Unterschiede. Geschlechtschromosomen werden bei der Zeugung festgelegt – entsteht bei der Verschmelzung der Eizelle mit dem Spermium eine Keimzelle mit zwei X-Chromosomen, den weiblichen Geschlechtschromosomen, so entwickelt sich ein weiblicher Organismus. Erhält die Keimzelle ein X- und ein Y-Chromosom, das männliche Geschlechtschromosom, so entsteht ein männlicher Organismus. Diese Geschlechtschromosomen werden bei allen Zellteilungen weitergegeben mit dem Effekt, dass jede weibliche Körperzelle am Ende zwei X-Chromosomen hat und jede männliche ein X und Y. Die beiden Geschlechtschromosomen, X und Y unterscheiden sich sehr. Während das X-Chromosom über 1500 Gene trägt, die Herz, Hirn und Immunsystem beeinflussen, ist das Y-Chromosom im Lauf der Evolution degeneriert und trägt nur noch weniger als 100 Gene, mit dem Schwerpunkt Geschlechtsentwicklung und Sexualfunktion. Eigentlich sollte eines der beiden X- Chromosomen in allen weiblichen Zellen inaktiviert werden, um hier Frauen und Männer anzugleichen. Dies geschieht jedoch nur unvollständig und ca. 15 Prozent der Gene des zweiten X-Chromosoms werden in allen weiblichen Zellen erhalten. Dies bedeutet einen biologischen Vorteil für die Frauen – sie haben Reservegene, z. T. mit Schutzfunktion, das schützt sie zum Beispiel bei X-chromosomal vererbten Erkrankungen wie Bluterkrankheit oder Farbemblindheit usw. Die Gene steuern die Produktion der Hormone – Testosteron treibt beim Mann die Hodenentwicklung an, macht aggressiv und stimuliert Wachstum, des Muskels zum Beispiel. Östrogene schützen bei der Frau und haben regenerative Wirkung. Schließlich wirkt die Umwelt auf unsere Gene – Ernährung, Stress, Rauchen, Staub, Waschmittel beeinflussen die Verpackung unserer Gene so, dass sie mehr oder weniger aktiv sind. Dies www.zahnaerzteblatt.de ZBW 10/2017
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