18_TITELTHEMA ZBW_2-3/2024 www.zahnaerzteblatt.de Foto: Adobe Stock/MNStudio Europäische Entscheidung 2024 RICHTUNGSWAHLEN IN ZEITEN ANHALTENDER KRISEN Vom 6. bis 9. Juni 2024 sind die Bürgerinnen und Bürger der 27 EU-Mitgliedstaaten dazu aufgerufen, das Europäische Parlament für fünf Jahre neu zu wählen. In der Vergangenheit wurden Europawahlen oftmals durch nationale Themen dominiert und dienten als Mittel der „politischen Abrechnung“ mit der jeweils amtierenden nationalen Regierung. In diesem Jahr ist das anders. Die Europawahlen 2024 sind Richtungswahlen in Zeiten anhaltender Krisen, die alle EU-Mitgliedstaaten gemeinsam betreffen und grenzüberschreitend zu Verunsicherungen bei Wählerinnen und Wählern geführt haben. Die Rolle, die die EU bei der Bewältigung dieser Krisen spielt, wird vermehrt kritisch hinterfragt. Dies bleibt nicht ohne Folgen. Europakritische Kräfte haben in vielen EU-Staaten Zulauf. Aktuelle Umfragen zeigen, dass sich dies im Wahlergebnis niederschlagen dürfte. Bewahrheiten sich die Prognosen, dann werden sich die Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament ab Juni deutlich ändern. NEUE MEHRHEITEN IN SICHT? Die Parteien des Mitte-Links-Lagers, insbesondere die Grünen, könnten so schwach abschneiden wie nie zuvor, während für die beiden Rechtsaußenfraktionen erhebliche Stimmenzuwächse prognostiziert werden. Die schon heute nicht immer einfache Konsensfindung zwischen den Fraktionen würde sich weiter erschweren. Dies könnte umso folgenreicher sein, als die Europäische Union in den kommenden Jahren vor erheblichen externen und internen Herausforderungen steht, für die tragfähige Lösungen gefunden werden müssen: Hier sind unter dem Aspekt der externen Einflüsse die Auswirkungen des Klimawandels, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sowie der Umgang mit der wachsenden Migration zu nennen. Intern gilt es Antworten auf die drängenden Fragen zu finden, ob es in absehbarer Zeit institutionelle Reformen der EU geben und welchen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Kurs die EU künftig einschlagen soll. Hinzu kommt die Ausgestaltung der Digitalisierung.
ZBW_2-3/2024 www.zahnaerzteblatt.de 19_TITELTHEMA AUSWIRKUNGEN Das Wahlergebnis wird in jedem Fall Auswirkungen auf die Politik der Europäischen Kommission haben, die für die Durchsetzung ihrer Gesetzgebungsvorschläge auf Mehrheiten im Europäischen Parlament angewiesen ist. Mit der laufenden Legislaturperiode des Europäischen Parlaments endet auch die Amtszeit der Europäischen Kommission unter der Leitung von Ursula von der Leyen. Es bleibt abzuwarten, welche Spitzenkandidatinnen oder -kandidaten von den Parteien aufgestellt werden. Wenngleich nicht in den EU-Verträgen formell verankert, so gilt doch das Spitzenkandidatenprinzip, wonach die Kandidatin oder der Kandidat der Fraktion, die die meisten Sitze im Europäischen Parlament erringt, Kommissionspräsidentin oder Kommissionspräsidentin wird. Beobachter in Brüssel spekulieren, dass Ursula von der Leyen als Vertreterin der in den Umfragen vorne liegenden europäischen Volkspartei für fünf weitere Jahre Kommissionspräsidentin bleiben könnte. GESUNDHEITSPOLITIK Ganz unabhängig von den genannten großen politischen Herausforderungen, die die mediale Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, ist festzuhalten, dass die Bedeutung der Europäischen Union für den zahnärztlichen Berufsstand in den vergangenen fünf Jahren seit den letzten Europawahlen weiter spürbar zugenommen hat. Bereits heute werden viele für die Zahnärzteschaft wichtige Fragen nicht mehr auf nationaler Ebene, sondern in Brüssel und Straßburg entschieden: EU-Gesetzgebung wie die Medizinprodukteverordnung, der sich abzeichnende Europäische Gesundheitsdatenraum, die Richtlinie über Patientenrechte oder die EU-Quecksilberverordnung mit den Bestimmungen zu Verwendung von Dentalamalgam betreffen den Alltag der Zahnarztpraxen ganz unmittelbar. Die zahnärztliche Selbstverwaltung ist darüber hinaus von Vorgaben des EU-Binnenmarkts wie beispielsweise die Richtlinie über einen Verhältnismäßigkeitstest vor Erlass eines neuen Berufsrechts in erheblichem Maße tangiert. Selbst wenn die EU-Mitgliedstaaten nach Artikel 168 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union formal die Verantwortung für Organisation und Finanzierung ihrer Gesundheitssysteme haben, so hat nicht zuletzt die COVID- 19-Pandemie das Thema Gesundheit, das noch vor nicht allzu langer Zeit ein Nischenthema war, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit in Brüssel katapultiert. Unter dem Schlagwort Gesundheitsunion wurden in den vergangenen Jahren zahlreiche Gesetze auf EU-Ebene verabschiedet. Zudem ist der politische Ruf nach Übertragung von mehr gesundheitspolitischen Kompetenzen von der nationalen auf die EU-Ebene nicht zu überhören. Deutlich wird dies an den Ergebnissen der Konferenz zur Zukunft Europas, die 2022 endete und die als eine Blaupause für künftige Änderungen der EU-Verträge gesehen werden müssen. So forderten die Konferenzteilnehmerinnen und -teilnehmer etwa die Festlegung gemeinsamer Mindeststandards für die Gesundheitsversorgung auf EU-Ebene. FORDERUNGEN DER BZÄK Die Bundeszahnärztekammer wird im Vorfeld der Europawahlen 2024 ein Positionspapier vorlegen, in dem die europapolitischen Kernanliegen der deutschen Zahnärzteschaft für die kommenden Jahre definiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Sicherstellung der freien zahnärztlichen Berufsausübung im Interesse der Patientinnen und Patienten. Ferner gilt es, neue und bestehende EU- Vorgaben auf deren bürokratische Auswirkungen auf die Praxen zu überprüfen. Außerdem muss die hohe Qualität der zahnmedizinischen Ausbildung in den EU-Mitgliedstaaten, die Grundlage für die automatische Anerkennung von zahnmedizinischen Abschlüssen aus anderen EU- Staaten ist, unbedingt gewährleistet bleiben. Sie darf nicht unter dem Deckmantel der Versorgungssicherheit gelockert werden. Die zahlreichen Initiativen der EU im Bereich der Digitalisierung im Gesundheitswesen müssen zum Nutzen der Patientinnen und Patienten beitragen und dürfen nicht die Sicherheit der sensiblen Gesundheitsdaten gefährden. Mit Blick auf den 2017 verabschiedeten EU- Rechtsrahmen für Medizinprodukte setzt sich die Bundeszahnärztekammer mit Nachdruck für eine Überarbeitung ein, um endlich eine Praxistauglichkeit dieser Regeln zu erreichen. Der geltende EU-Rechtsrahmen weist viele Schwachstellen auf und hat für große Verunsicherung gesorgt. So dürfen seit Jahren bewährte Dentalprodukte nicht durch teure und langwierige Re-Zertifizierungsverfahren vom Markt gedrängt werden. Schließlich muss die EU die Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen im Sinne eines einheitlichen Ansatzes von Tier- und Humanmedizin konsequent fortsetzen. Zu unterstreichen ist, dass bei all diesen Fragestellungen Einigkeit mit dem europäischen Dachverband der Zahnärzte, dem Council of European Dentists, besteht, der diese Punkte ebenfalls zum Gegenstand seiner europapolitischen Forderungen für die Wahlen im Juni 2024 gemacht hat. Die politischen Parteien werden in den kommenden Wochen ihre Wahlprogramme für die Europawahlen verabschieden. Für die Angehörigen der Heilberufe wird sich eine genaue Analyse der jeweiligen gesundheitspolitischen Forderungen lohnen, um die eigene Wahlentscheidung zu treffen. INFO Dr. Alfred Büttner Dr. Alfred Büttner ist Leiter der Abteilung Europa/Internationales der Bundeszahnärztekammer (BZÄK). Diese vertritt die Interessen der Zahnärzteschaft auch auf europäischer und internationaler Ebene. So hat die Abteilung Europa/Internationales ihr Büro in Brüssel und arbeitet eng mit dem europäischen Dachverband nationaler zahnärztlicher Organisationen, dem Council of European Dentists (CED), zusammen.
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