Aufrufe
vor 2 Jahren

Digitalisierung in der Zahnmedizin

Ausgabe 5-6/2022

26_TITELTHEMA

26_TITELTHEMA ZBW_5-6/2022 www.zahnaerzteblatt.de Zeitenwende in der Zahnarztpraxis? MEHRWERT DURCH DIGITALISIERUNG Foto: AdobeStock/anatoliy_gleb Neue Technologie. Die digitale Abformung bringt vielfältige Vorteile mit sich. Im Jahr 2022 ist die Digitalisierung in den meisten Lebensbereichen angekommen. Die Nutzung von Smartphone, Streaming- und anderen Diensten im Internet ist für viele Menschen bereits selbstverständlich. Aber wie sieht es mit digitalen Prozessen und Techniken in der Zahnarztpraxis aus? Haben diese bereits die Behandlungsräume erreicht oder stehen wir hier noch vor der Zeitenwende? Wir haben den Experten Professor Dr. Jan-Frederik Güth, Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Goethe-Universität Frankfurt am Main, zum aktuellen Stand sowie zu Chancen und Hemmnissen befragt. ZBW: Herr Professor Güth, wie schätzen Sie den aktuellen Stand der Digitalisierung in der zahnmedizinischen Versorgung von Patienten in Deutschland ein? Das fällt grundsätzlich schwer, denn es kann schlecht ein Durchschnittswert des Digitalisierungsgrades berechnet werden. Es fällt aber schon auf, dass mehr und mehr Praxen den Mehrwert erkennen, den die Digitalisierung bietet. Digitalisierung allgemein fängt ja auch nicht mit dem Intraoralscanner an und hört mit dem 3D-Drucker auf. Sondern wir sprechen ja auch von digitaler Verwaltungsstruktur, Online-Terminvergabe, automatisierten Recall- Systemen, also von digitalen Systemen und Vorgängen, die mit der eigentlichen Behandlung fachlich erstmal nichts zu tun haben. Hier sehe ich einen gewissen Vorsprung bei größeren Praxen, was diese Schritte betrifft. Fachlich sehe ich eine größer werdende Menge an sogenannten „first-movern“, die sich der Digitalisierung ihrer Praxis und der Behandlungsabläufe intensiv widmen. Der Stand an Digitalisierung einiger dieser Praxen ist wirklich bemerkenswert. Somit ist das Bild, das sich gerade beobachten lässt, sehr inhomogen. Die Sicht, dass digitale Technologien auch fachlich Vorteile bieten, setzt sich doch mehr und mehr durch. Können Sie einen Vergleich mit anderen Ländern ziehen, die eventuell schon weiter sind als wir? Dort sieht‘s vermutlich ähnlich aus. Eine kleine Menge an sichtbaren Vorreitern – und jetzt folgen nach und nach die anderen Kollegen. Vielleicht stehen wir in Deutschland digitalen Technologien im internationalen Vergleich eher skeptisch gegenüber. Das hat ein Für und Wider: Zu Recht nehmen wir Themen wie Datensicherheit, Datenhoheit und Datenschutz sehr ernst – auf der anderen Seite stehen wir manchen Dingen grundlos skeptisch gegenüber, beispielsweise was digitale Kommunikation betrifft. Ein

ZBW_5-6/2022 www.zahnaerzteblatt.de 27_TITELTHEMA » Vielleicht stehen wir in Deutschland digitalen Technologien im internationalen Vergleich eher skeptisch gegenüber. Das hat ein Für und Wider.« Prof. Dr. Jan-Frederik Güth Foto: Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Prof. Dr. Jan-Frederik Güth, Direktor der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik am Zentrum der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (Carolinum) der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. gegenteiliges Beispiel habe ich persönlich beispielsweise in Brasilien wahrgenommen. Dort spielt die Präsentation der eigenen Praxis in den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram eine Schlüsselrolle bei der Akquise und der Ansprache zukünftiger Patienten. Das wird dort quasi erwartet. Hier sind wir in Europa und Deutschland sicherlich zurückhaltender. Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehört die digitale Abformtechnik und der damit verbundene digitale Workflow bei Zähnen und Implantaten. Was genau ist mit digitalem Workflow gemeint? Der digitale Workflow beschreibt den Prozess der Patientenbehandlung mit Hilfe digitaler Technologien und deren Interaktion untereinander. Wir haben in einigen Bereichen aktuell noch ein paar Lücken zu schließen, aber die Vernetzung und Schaffung von Schnittstellen erfolgt mehr und mehr. Das klingt so, als sei eine Umstellung in die digitale Welt mit großem Aufwand verbunden – finanziell, aber auch was die Arbeitsabläufe angeht. Wo sehen Sie die größten Hürden bei der Einführung? Die Frage ist durchaus berechtigt. Neben den notwendigen Investitio- nen in die Geräte, muss auch an die grundlegende IT-Infrastruktur gedacht werden beziehungsweise an die Implementierung der Systeme in diese. Sprich: Wie gehe ich mit den Daten um, die ich generiere? An welchen Orten habe ich Zugriff? Wie kommuniziere ich beispielsweise mit dem Labor oder den mitbehandelnden Kollegen? Und worin liegt der größte Nutzen der Digitalisierung in der Patientenversorgung? Das hängt stark von er angewendeten Technologie ab. Hier gibt es multiple Vorteile, wie etwa einen Komfortgewinn bei der Anwendung der digitalen Abformung, Effizienzsteigerung durch die Einsparung von Behandlungssitzungen, Verringerung der Strahlenexposition durch die Anwendung digitaler Röntgentechnik und so weiter. Grundsätzlich sehe ich aber den großen Mehrwert in der umfassenderen Informationsgewinnung und Dokumentation von Befunden. Aus den digitalen Daten lassen sich zeitliche Verläufe und Vergleiche ableiten, die bisher nicht – oder nur schwer – möglich waren. Das heißt, unsere Befunde, Diagnosen und Verlaufskontrollen werden objektiver werden. Dann können bzw. sollten von digitalen Workflows auch niedergelassene Zahnärztinnen und Zahnärzte in eigener Praxis profitieren? Selbstverständlich. Ich würde allerdings empfehlen, nicht wahllos einzusteigen – schon gar nicht aus dem Gefühl heraus, etwas zu verpassen. Sondern, wie bei anderen fachlichen und ökonomischen Entscheidungen auch, zunächst zu analysieren: Welchen Mehrwert bringt die Anwendung für meine Patienten? Was erwarte ich mir von der Technologie und wie häufig kann ich sie im Rahmen meines Behandlungsspektrums vorteilhaft und gewinnbringend für meine Patienten einsetzen? Und dann heißt es natürlich auch im Handling: Probieren geht manchmal über studieren… Wenn Sie einen Blick ins Jahr 2030 werfen: Wo werden wir dann stehen? Ich nehme an, dass wir eine Beschleunigung der Marktdurchdringung von digitalen Technologien in der Zahnmedizin in den nächsten Jahren sehen. Ich nehme an, dass ein Intraoralscanner dann zur Grundausstattung einer neuen Praxis gehört. Der digitale Workflow im restaurativen Bereich wird im Jahr 2030 durch die weitere Verknüpfung von Einzeltechnologien (zum Beispiel die digitale Axiografie) vollständig sein, sodass hier deutliche Fortschritte in der Effizienz zu erwarten sind. Digitale Kommunikation hat ja durch die jüngsten Entwicklungen bereits einen lange fälligen Schub bekommen und ich denke, diese wird in Zukunft noch mehr Raum einnehmen. Gleichzeitig werden uns erste, durch künstliche Intelligenz unterstützte Systeme in der Behandlung und Entscheidungsfindung unterstützen können und wir werden mehr additive Technologien in der Fertigung von Zahnersatz sehen. Es wird also spannend! Die Fragen stellte Kerstin Sigle

Ausgaben des Zannärzteblatt BW

© by IZZ Baden-Württemberg - Impressum - Datenschutz