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Digitalisierung für Patienten und Praxen erfolgreich gestalten

Ausgabe 7/2020

16 Titelthema sonell wie

16 Titelthema sonell wie finanziell wird einiges investiert. Woran es vielerorts noch mangelt, ist die vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik der digitalen Transformation als einem Veränderungsprozess, der weit über die Nutzung digitaler Tools und Technologien hinausgeht und eine grundlegende Veränderung des Gesundheitssystems auf der Ebene von Kultur und Mindset impliziert. Digitale Transformation benötigt neben Investitionen in technische Interoperabilität so etwas wie eine „kulturelle“ Interoperabilität – eine Durchlässigkeit der Hirne und Herzen, eine gemeinsame Vision, wohin die Reise im Gesundheitswesen gehen soll. Digitale Transformation braucht nicht nur Geld, sondern vor allem mehr Vertrauen, Mut und Leidenschaft für Veränderung. Heute existieren zahllose Möglichkeiten, Gesundheitsinformationen zu bekommen. Die Qualität dieser Informationen ist nicht immer gesichert. Kann man angesichts dessen von einer wachsenden Gesundheitskompetenz bei den Patient*innen sprechen? Zugang zu Information und Daten ist ein matchentscheidender Schlüssel zu Gesundheitskompetenz. Patient*innen sind heute einerseits gezwungen, in einer immer komplexer werdenden Healthcare-Landschaft zu navigieren und immer mehr Kosten für die Gesundheit selber zu übernehmen, andererseits sind sie aber auch gewohnt, sich im Netz zu informieren, sich online zu vernetzen und die eigenen Gesundheitsdaten und andere Datenquellen zu nutzen, um das Gesundheitssystem für ihre Zwecke zu nutzen. Diese Haltung und das Verhalten von Patient*innen hat bereits einen Namen erhalten: Carehacking. Dieser Begriff beschreibt wie Gesundheitskonsumenten aufgrund des Zugangs zu digitaler Information und digitalen Tools auf teilweise überraschende Art und Weise die Kontrolle über ihre eigene Gesundheit übernehmen. Und es gibt bereits die ersten Carehacking-Helden: Hugo Campos, der nicht an die Daten seines Herzschrittmachers kam, weil die Medtech-Firma ihm diese als Patienten verweigerte. Oder der italienische Gehirntumor- Patient Salvatore Jaconesi, dem vom Spital der Zugriff auf seine Patientendaten verweigert wurde und der als Informatiker kurzerhand die IT der Klinik hackte, seine Daten rausholte und sie ins Netz stellte, um Zweitmeinungen zum bevorstehenden chirurgischen Eingriff zu erhalten. Im Diabetesbereich hat sich rund um die US-Amerikanerin Dana Lewis eine Community und eine globale Diabetesbewegung mit dem Namen #WeAreNotWaiting gebildet, mit dem Ziel, ein von den Medtech-Firmen lange vernachlässigtes Tool, ein externes künstliches Pankreas-System, zu entwickeln. Viele Innovationen werden heute nicht in den traditionellen Life-Science-Unternehmen initiiert, sondern stammen aus Untergrundinitiativen, der DIY-Healthcare- Szene, der Bio-hacking-Community oder dem MakerMovement. Wie sollten die Zahnärzt*innen mit dieser Entwicklung und ihrer veränderten Rolle umgehen? Ganz entspannt. Die Zugänglichkeit zu Information und die Möglichkeit, sich zu vernetzen und zu teilen, verändern gegenwärtig die Rollen im Gesundheitswesen auf eine für alle Akteure bereichernde Art und Weise. Patienten sehen sich zunehmend weniger als passive Empfänger von Gesundheitsdienstleistungen, sondern als aktive und selbstbestimmte Kommunikationspartner, als Initianten von Präventionsmaßnahmen, Verantwortliche für Gesundheitsmonitoring und Manager von „home based care“ – als befähigt, kompetent und „empowered“. Damit rücken Konzepte in den Vordergrund, die die klassische Arbeitsteilung zwischen Experten und Laien, Health Professionals und Patienten aufbrechen. Partizipative Medizin und Shared Decision Making rücken in den Fokus. Die EU hat das Thema „partizipative Medizin“ mit dem Slogan „Putting patients in the driving seat“ schon früh auf ihren Aktionsplan der digitalen Agenda gesetzt. Auf dem Hintergrund der digitalen Transformation ist eine neue Generation von Patienten am Entstehen, die die Werte der vernetzten Welt, offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation ins Zentrum stellt und sich selber als „ePatient*innen“ bezeichnet. Das kleine „e“ vor Patient steht dabei nicht nur für „elektronisch“, sondern für educated, enabled, engaged und empowered – gebildet, aktiv, engagiert und ermächtigt. Diese ePatient*innen sind mit ihren Forderungen von der meist ungenutzten Ressource zu einer neuen Einflussgröße auf dem Gesundheitsmarkt geworden. Vielen Dank für das Gespräch! Die Fragen stellte Dr. Holger Simon-Denoix Info Internationaler online Studiengang „Digital Health erfolgreich umsetzen“ (2020) 10 interaktive online Sessions (15.30-19.00 Uhr) freitags ca. alle 2 Wochen, 25. September 2020 bis 29. Januar 2021 Studienleitung: Prof. Dr. Andrea Belliger, Prof. Dr. Volker Amelung Dozierende: 23 Expertinnen und Experten aus dem Bereich Digital Health, E-Health, Medizin, Recht, Technologie und Versorgung Upgrade: Das online Fortbildungsangebot umfasst Studienleistungen im Umfang von 10 ECTS Punkten und kann an einen MAS oder MBA am Institut für Kommunikation & Führung angerechnet werden (MBA in Digital Health; MBA in Digital Transformation in Health & Care; MBA in eHealth etc.) Weitere Informationen, detaillierter Lehrplan und Auskünfte: Internet: bit.ly/3dWE5EU Mail: info@ikf.ch Informationen dazu finden Sie auch unter www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2020 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 17 Kommentar von Dr. Tomppert zur Digitalisierung in der Zahnmedizin Digitale Disruption als Chance Die Coronavirus-Pandemie brachte in den letzten Monaten weitreichende gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen mit sich. Politik und Unternehmen wurden in der Not gezwungen, die Initiative zu ergreifen, schnell zu handeln und mutige Entscheidungen zu treffen. Die ganze Gesellschaft digitalisierte ihre Abläufe in kürzester Zeit. Der Prozess der digitalen Disruption ist in vollem Gange und nimmt exponentiell an Fahrt auf: Telkos und Chatgruppen ersetzen Face-to-Face- Meetings, Online-Webinare lösen Präsenzveranstaltungen ab und sogar Schulen entwickeln digitale Lernkonzepte. Ein Megatrend der Zukunft wird die Netzwerkgesellschaft sein. Mir stellt sich die Frage, welche Herausforderungen, Möglichkeiten und Konsequenzen der digitale Transformationsprozess für unsere Patienten, für die zahnärztliche Profession und die körperschaftliche Selbstverwaltung mit sich bringen wird? Die Politik hat bereits mit dem Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation die gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen. Mit dem Ausbau der Telematikinfrastruktur, der elektronischen Patientenakte bzw. dem Heilberufsausweis beginnt ein zunehmend digital-vernetztes Berufszeitalter, das nicht von allen begrüßt wird. Bereits heute schon nutzen viele Praxen den digitalen Workflow. Die damit verbundenen Vorteile liegen auf der Hand. Beispielsweise bei der digitalen Patientenverwaltung, der Aufklärung des Patienten mittels intraoraler Kamera oder der Befunderstellung beim 3D-Röntgen. Das alles kann zu Kosten- und Zeitersparnis führen, Planungssicherheit schaffen und helfen, den Patienten besser zu informieren und aufzuklären. Doch das ist erst der Anfang. Mit der digitalen Netzwerk-Kommunikation wird das Zahnarzt-Patienten-Verhältnis virtueller. Telemedizinische Innovationen und Anwendungen sind gefragt. Warum nicht verstärkt Videosprechstunden anbieten? Ein gutes Beispiel ist auch das landesweit qualitätsgesicherte telemedizinische Projekt „docdirekt“ der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg, bei dem sich die Patient*innen mittels App telemedizinisch beraten lassen können und auch immobile Patient*innen und solche im ländlichen Raum besser erreicht werden. Bietet sich hier nicht eine ergänzende Kooperation mit uns Zahnärzt*innen an? Auch im Bereich zahnärztlicher Fort- und Weiterbildung entstehen neue digitale Nutzungsmöglichkeiten. Neben interaktiven Webinaren, die heute schon vom ZFZ Stuttgart und der Akademie Karlsruhe angeboten werden, wäre die Etablierung intra- und interdisziplinärer medizinischer Konsilien vor dem Hintergrund einer sektorenübergreifenden Versorgung sinnvoll und nützlich. Eine Idee wäre auch, die bisher regional autonom arbeitenden zahnärztlichen Qualitätszirkel mittels eines Digitalportals zu vernetzen und damit Synergieeffekte zu schaffen. Weitere telemedizinische Innovationen und Modellprojekte wären für mich auch bei der aufsuchenden Betreuung im Bereich der Alterszahnheilkunde in Kooperation mit den Pflege kräften in den Altersheimen denkbar oder bei der Einrichtung einer digitalen Zentrale zur Steuerung eines einheitlichen zahnärztlichen Notfalldienstes. Des Weiteren bieten sich auch im Bereich der Zahnärztlichen Patientenberatung neue Möglichkeiten. Standespolitisch betrachtet, muss die körperschaftliche Selbstverwaltung im Allgemeinen und die Kammer im Besonderen meines Erachtens mutig neue Wege gehen und mehr digitale Gestaltungskraft entwickeln. Ein vorteilhafter Beginn wäre, sowohl ehrenamtliche Gremienarbeit als auch Verwaltungstätigkeiten auf Bundes- wie Landesebene auch mal mittels Videokonferenzen abzuhalten. Vor allem gilt, durch innovative Modellprojekte auszuloten, was machbar, sinnvoll und finanzierbar ist. Diese Chance müssen wir nutzen, um die zahnärztliche Profession digital zukunftsfähig zu machen. Gleichzeitig ist die Politik gefordert, mögliche Risiken in Bezug auf Datenschutz und Datensicherung zu erkennen und hier Abhilfe zu schaffen. Ebenso sollte sie dafür sorgen, dass die mit der Digitalisierung entstehenden Kosten und Aufwände adäquat honoriert werden. Auf Landesebene bietet es sich an, mit der Landesregierung im Beirat Digitalisierung sowie im dazugehörigen Expertenrat intensiv zu kooperieren und diese zur finanziellen Förderung geeigneter zahnmedizinischer Projekte ins Boot zu holen. Mein Schlussappell: Geben wir externen Disruptoren keine Chance, sondern gestalten wir selbst den zahnärztlich-digitalen Transformationsprozess aktiv mit! Foto: AdobeStock/lucadp Dr. Torsten Tomppert, Präsident der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2020

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