14 Titelthema Dimensionen der Digitalisierung im Gesundheitswesen Digitale Transformation braucht mehr Vertrauen, Mut und Leidenschaft Die Digitalisierung revolutioniert unser Leben in allen denkbaren Bereichen. Das Gesundheitswesen ist ein Feld, das erhebliche Chancen bietet, aber auch besonders anfällig für Missbrauch etwa beim Umgang mit sensiblen persönlichen Daten ist. Indessen betreffen die neuen Möglichkeiten nicht nur den technischen Bereich, sie verändern auch die Beziehungen zwischen (Zahn-)Ärzt*in und Patient*in. Dazu im ZBW-Interview: Prof. Dr. Andréa Belliger, Leiterin des Instituts für Kommunikation & Führung (ikf) und Prorektorin der PH Luzern. 2015 war sie mit Bundesforschungsministerin Johanna Wanka Themenpatin für „Digitale Gesundheit“ beim BMBF. Sie ist u. a. Mitglied des Beirats des Bundesverbandes Managed Care BMC in Berlin und Mitglied des gesundheitspolitischen Beirats der ApoBank. ZBW: Frau Prof. Belliger, Sie waren Anfang Februar auf Einladung des Bundesgesundheitsministeriums als Keynotespeakerin auf der Fachtagung „Gesundheitskompetenz im digitalen Zeitalter“ in Berlin. Welchen Eindruck haben Sie vom deutschen Gesundheitswesen und dessen Weg ins digitale Zeitalter? Foto: bluecare Bereitschaft. „Die Bereitschaft seitens der Akteure im Gesundheitswesen, sich der Thematik des digitalen Wandels anzunehmen, ist spürbar.“ Prof. Dr. Andréa Belliger: Ich erlebe das Gesundheitswesen in Deutschland als sehr solide, gut organisiert, mit einer hohen Versorgungsqualität. Das Gesundheitswesen ist aber – analog zur Schweiz – sicher eine der letzten Branchen, die vom digitalen Wandel erfasst wird. Die sich abzeichnenden Veränderungen wurden lange ignoriert. Das System funktioniert ja relativ stabil: Den Leistungserbringern, Versicherungen und auch den Patient*innen geht es gut, die Versorgungsqualität ist hoch. Lange schien es keine Notwendigkeit für Veränderung zu geben. Aber das ändert sich gerade. Für die Herausforderungen der heutigen Welt, die geprägt ist von Volatilität, Komplexität und Ungewissheit, scheint das gegenwärtige Gesundheitswesen nur bedingt gut aufgestellt. Aber die Bereitschaft seitens der Akteure im Gesundheitswesen, sich der Thematik des digitalen Wandels anzunehmen, ist spürbar. Internationalen Studien zufolge sind Ärzt*innen der Digitalisierung gegenüber grundsätzlich offen eingestellt, haben aber klare Ansprüche. Sie wollen digitale Anwendungen nutzen, wenn sie Diagnosen erleichtern und Arbeitsabläufe im Praxisalltag verschlanken. Digitale Checks von Wechselwirkungen zwischen Medikamenten oder der digitale Austausch von Befunden zwischen Leistungserbringern mittels einer Gesundheitsakte sind Anwendungsbeispiele, die auf Zustimmung stoßen. Interessant ist innerhalb der Ärzteschaft die Divergenz zwischen Wissen und Anwendung. Dem Digitalisierungsreport 2019 zufolge steigt unter Ärzt*innen zwar das Wissen um die Thematik und die Offenheit der Digitalisierung gegenüber, die konkrete Anwendung hingegen und die Integration in Versorgungsprozesse ist aber noch nicht weit fortgeschritten. So haben zwar über 85 Prozent der Ärzt*innen schon einmal von Videosprechstunden gehört und 80 Prozent der befragten Ärzt*innen befürworten die Nutzung, gleichzeitig jedoch wird die Videosprechstunde in der Praxis nur wenig genutzt. Nur rund drei Prozent setzen sie bereits ein oder planen, dies konkret zu tun. Ein ähnliches Bild zeigt sich in Bezug auf Gesundheitsapps. Viele haben schon davon gehört, etwa von Apps zu Diagnostikzwecken oder zur digitalen Begleitung der Therapie, aber nicht einmal ein Fünftel, rund 17 Prozent, haben diese schon einmal konkret verwendet bzw. sich intensiver damit auseinandergesetzt. Das Bewusstsein, dass sich etwas verändert, ist also vorhanden. Aber es herrschten bisher wenig Anreize und eine gewisse Ratlosigkeit, wenn es um die Haltung dieser Veränderung gegenüber oder die konkrete Umsetzung und Anwendung geht. Ich beobachte aber mit großem Interesse die Bestrebun ZBW 7/2020 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 15 gen des Gesundheitsministeriums in Deutschland unter der Leitung von Herrn Spahn. Ich sehe beispielsweise im Kontext des Digitale-Versorgung-Gesetzes eine neue Haltung gegenüber Innovation im Gesundheitswesen, neue, iterative Wege in der Gesetzgebung und eine neue Herangehensweise an die Governance-Thematik. Das finde ich sehr interessant und zukunftsweisend. Kann die Coronapandemie den Wandel in Richtung E-Health beschleunigen oder kam dieser Prozess durch die Konzentration auf die Krisenbewältigung wieder ins Stocken? Es ist noch etwas früh, bereits abschließend über die Auswirkungen der Coronapandemie zu urteilen. Klar ist, dass dieser Ausnahmezustand zu einer Art „Defreezing“ von E-Health und Digital Health in Versorgungsprozessen geführt hat. Ein langsames Auftauen, was den Einbezug digitaler Tools und Technologien, die Etablierung digitaler Prozesse und die Haltung dem digitalen Wandel gegenüber betrifft. Keine Disruption, aber zumindest ein leises Knacken in der Eisschicht. Die Grundlagen wären eigentlich schon länger vorhanden. Der gesetzliche Rahmen für die sichere digitale Kommunikation ist in Deutschland seit Ende 2015 in Form des E-Health-Gesetzes in Kraft. Themen wie Telematikinfrastruktur, Stammdatenmanagement, elektronische Patientenakte, Videosprechstunden und Telefonkonzile wurden in den letzten Jahren in diversen Gesetzen niedergeschrieben und langsam finden diese technologischen Entwicklungen, akzentuiert auch durch die Coronakrise, Beachtung und Eingang in die Kliniken, Praxen und Labors und damit in den Alltag des ersten Gesundheitsmarktes. Kein Kongress, bei dem nicht Themen wie Data Driven Healthcare, personalisierte Medizin, E-Health, neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie und die Forderung nach einer neuen Innovationskultur im Gesundheitswesen auf der Agenda stehen. Viele dieser Themen befinden sich auf der Hype-Skala zwar weit oben, gehören aber noch eher in die Welt der Zukunftsvisionen als in den tatsächlichen Alltag des real existierenden Gesundheitswesens. Dennoch: Dass sich der Umgang mit Gesundheit und Krankheit gegenwärtig auf dem Hintergrund einer zunehmenden Digitalisierung und Vernetzung grundlegend verändert, scheint eine Tatsache zu sein. Denn unabhängig und lange Zeit unbeachtet vom klassischen Gesundheits wesen hat sich, wenn es um die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themen geht, eine Art Paralleluniversum entwickelt. Die Welt der vernetzten Bürger*innen und Konsument*innen, die Welt der ePatient*innen. Ein Paralleluniversum, das in den Möglichkeiten der Vernetzung gründet, neue Werte und Normen hervorbringt und von dem eine starke transformative Kraft ausgeht, die das Gesundheitswesen, so wie wir es heute kennen, weit über technologische Innovation hinaus ziemlich auf den Kopf stellen wird. Die Corona-Pandemie hat nicht nur die Bedeutung der Digitalisierung im Gesundheitswesen erkennbar gemacht und die eher vernachlässigten Themen Population und Public Health wieder zuoberst auf die politische Agenda gesetzt, sondern hat auch gnadenlos die Unzulänglichkeiten der Gesundheitssysteme weltweit aufgedeckt. Corona hat das Verhältnis von Globalisierung und lokaler Versorgung, die Notwendigkeit des Zugangs zu medizinischen Dienstleistungen und die Wichtigkeit von funktionierenden Lieferketten und Notfallplanung ins Bewusstsein gerufen, sowie die oft fehlende Wertschätzung für Gesundheitsberufe und deren gleichzeitige Vulnerabilität drastisch vor Augen geführt. Das Thema „Datennutzung und Gesundheit“ wurde durch eine zweimonatige Pandemie salonfähig, Hygiene zur neuen Norm und das pragmatische Oszillieren zwischen Notrecht und Deregulierung, z. B. in Form von Zulassungslockerungen, fast widerspruchslos akzeptiert. Darüber sollten wir mal vertieft nachdenken. Die Diskussion über den digitalen Wandel verliert sich häufig in Detailfragen und ganz konkreten Problemen. Vermissen Sie ein übergeordnetes Ziel, eine Art Leitbild der Digitalisierung im Gesundheitswesen? Ich würde in diesem Kontext gerne zwei Begriffe unterscheiden: Digitalisierung und digitale Transformation. Während Digitalisierung eigentlich nichts anderes meint als die Übersetzung von irgendwelchen analogen Werten in Bits und Bytes, also etwas sehr Technologiegetriebenes, geht der Begriff „Digitale Transformation“ weit über Technologie hinaus. Digitale Transformation meint einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess, der tief in die Werte, Haltungen und Normen unserer Gesellschaft hineinreicht. Das heißt, wenn wir über Digitalisierung im Gesundheitswesen sprechen, dann geht es im Kern nicht einfach um Plattformtechnologien, Big Data, Analytikmöglichkeiten, um digitale Prozesse oder neue Marketing- und Vertriebskanäle, sondern um eine neue Haltung, einen neuen Mindset, um neue Werte und Normen, die den Hintergrund für neue Geschäftsmodelle bilden. Digitale Transformation impliziert eine neue Art, uns im Blick auf Gesundheit und Krankheit aufzustellen. Wir gehen weg von geschlossenen, top down regulier- und steuerbaren Systemen und Silos, hin zu dezentralen Versorgungsnetzwerken, in denen Patient*innen als Kunden eine maßgebliche Rolle spielen, in denen Technologie zur Befähigerin für mehr Transparenz, bessere Kommunikation und Partizipation vertikal wie horizontal wird. Netzwerke, die nicht nur Gesundheitsberufe, sondern auch Versorgungsorte – ambulant, stationär und home based – verbinden, ebenso wie die bisher getrennten Bereiche von Vorsorge und Versorgung. Das Thema der Digitalisierung ist in den meisten Organisationen präsent und auf der Agenda. Per www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2020
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