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Digitalisierung für Patienten und Praxen erfolgreich gestalten

Ausgabe 7/2020

12 Titelthema Digital

12 Titelthema Digital Health global betrachtet Coronavirus treibt Entwicklung voran Foto: AdobeStock/Andrey Popov Die rasante Verbreitung des SARS-CoV-2-Erregers hat unsere Gesellschaft und damit auch das Gesundheitssystem vor große Herausforderungen gestellt. In nahezu allen Bereichen wurden neue Wege beschritten, um der Komplexität der neuen Gegenwart begegnen zu können. Vor der Pandemie war das Thema Digital Health eher ein Zukunftstrend – in den vergangenen Wochen gelebte Realität. Ein Blick in die Welt zeigt jedoch, dass es nicht überall die Bedrohung gebraucht hat, um im digitalen Gesundheitsbereich aufzurüsten. Digital Health boomt. Disrupt Africa berichtet, dass afrikanische Technologie-Startups im Jahr 2015 über 185 Millionen US-Dollar an Finanzmitteln erhalten haben und Pharmaunternehmen ein wachsendes Potenzial auf dem Kontinent sehen, da sie immer mehr Gründerzentren für digitale Gesundheit unterstützen. Vorreiter Estland. Was sich in Deutschland immer noch als Herausforderung darstellt, ist in Estland bereits gelebter Alltag – und das nicht nur im Gesundheitswesen. Als Estland 2007 zwei Wochen lang Opfer eines Cyberangriffs auf die Infrastruktur von Regierung, Medien und Banken war, etablierten die Verantwortlichen ein Blockchainbasiertes Datenmanagementsystem, bekannt als E-Estonia, sowohl im Bereich der staatlichen Verwaltung als auch im Gesundheitssystem. Seitdem bietet das nordeuropäische Land an der Ostsee digitale Dienstleistungen wie Telemedizin oder Gesundheits-Apps flächendeckend, kosteneffizient und erfolgreich an. 99 Prozent der Est*innen verfügen über eine digitale Patientenakte, deren Verwaltung über ein Smartphone erfolgt. Mit ihrer ID-Card erhalten sie zudem Zugriff auf alle digitalen Bürgerservices, die zum Großteil rund um die Uhr erreichbar sind. Diese ID-Card dient außerdem zur Identifizierung bei Banken oder Wahlen und es können auch rechtsverbindlich Unterschriften abgegeben werden. Brasilien rüstet nach. Bislang war das Thema Digital Health in Brasilien eher ein unbeschriebenes Blatt. Ferndiagnosen oder gar -behandlungen schienen nicht existent. Seit Mai 2019 koordiniert die Abteilung Departamento de Saúde Digital (DESD) die Digitalisierung im Gesundheitswesen, deren erklärtes Ziel die landesweite Nutzung der digitalen Patientenakte Prontuário Eletrônico do Cidadão (PEC), die seit 2019 bezuschusst wird, war. Die Entwicklungen hinsichtlich der Eindämmung von COVID-19 hingegen veranlassten die brasilianische Regierung nun mit dem Erlass Portaria 467/2020 Ende März dazu, jegliche Art der Telemedizin zu gestatten. „Über eine einheitliche Patientenakte für alle Bürger will die Regierung Grundlagen für neue Digital-Health-Lösungen schaffen“, berichtete die GTAI, die zum Bundesministerium für Wirtschaft gehört. Zwar mangelt es in abgelegenen Regionen noch an der entsprechenden IT-Infrastruktur, doch in den Metropolen und Städten steht der Bevölkerung ein guter Internetzugang zur Verfügung. Veränderung durch Corona. Auch in Kanada hat sich der Alltag infolge der aktuellen Gesundheitskrise verändert: Etwa zwei Drittel der Patientenbesuche waren in den vergangenen Monaten virtuell. Um diese Umstellung zu beschleunigen, arbeitete das Gesundheitsministerium zusammen mit Canada Health Infoway, einer unabhängigen, von der Bundesregierung finanzierten gemeinnützigen Organisation, deren Aufgabe es ist, die Einführung digitaler Gesundheitslösungen wie elektronischer Patientenakten in ganz Kanada zu beschleunigen. Schnelle virtuelle Lösungen für ganz Kanada sollen dabei entwickelt und erweitert werden, denn bislang waren E-Mails, Textnachrichten und virtuelle Besuche zwischen Patient*innen und Ärzt*innen die Ausnahme. 2014 machte die Telemedizin nur 0,15 Prozent aller abrechnungsfähigen Dienstleistungen im kanadischen Gesundheitssystem aus und bis zur Pandemie hatten die meisten niedergelassenen Ärzt*innen in Kana- ZBW 7/2020 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 13 da keinen Zugang zu virtueller Gesundheitstechnologie. Die Notwendigkeit, Arztpraxen offenzuhalten und mit Telemedizin zu arbeiten, war und ist während der Pandemie gewachsen. Health Record in Down Under. Bereits seit 2012 gibt es in Australien mit „My Health Record“ eine Gesundheitsakte, die eine sichere Online-Zusammenfassung der Gesundheitsinformationen zu einer Person beinhaltet und allen Australiern zur Verfügung steht. Sämtliche Gesundheitsdaten sind damit einsehbar und zudem kann individuell gesteuert werden, was in dieser Akte enthalten ist und wer darauf zugreifen darf. Die Akte kann sowohl an Ärzt*innen, als auch an Krankenhäuser und andere Gesundheitsdienstleister weitergegeben werden. So können aktuelle Blutwerte beispielsweise mit früheren, von anderen Mediziner*innen abgenommenen, verglichen und eventuell sofort das entsprechende Medikament verschrieben werden. Ein Verfahren, das hierzulande nicht so einfach möglich ist, da Untersuchungsergebnisse anderer Ärzt*innen schriftlich angefordert werden müssen. Häufig werden deshalb Untersuchungen mehrfach gemacht, um die nötigen medizinischen Erkenntnisse zu bekommen. Das dauert, ist teuer und mitunter unnötig. Boom in Afrika. Im Geburtskontinent des Homo sapiens boomt die digitale Gesundheit. Er hat die schlechteste Gesundheitsbilanz der Welt vorzuweisen, trägt ein Viertel der weltweiten Krankheitslast, gibt jedoch nur ein Prozent der globalen Gesundheitsausgaben aus und stellt nur drei Prozent der weltweiten Gesundheitshelfer. Nach Angaben der WHO sind die Regionen, in denen es mehr als einen Arzt für weniger als 1.000 Patienten gibt, selten. Digitale Technologien verbreiten sich deshalb auch wie ein Lauffeuer, insbesondere weil sie den Sprung von keiner Infrastruktur zur vierten industriellen Revolution ermöglichen. Disrupt Africa berichtet, dass afrikanische Technologie-Start-ups im Jahr 2015 über 185 Mio US- Dollar an Finanzmitteln erhalten haben und Pharmaunternehmen ein wachsendes Potenzial auf dem Kontinent sehen, da sie immer mehr Gründerzentren für digitale Gesundheit unterstützen. Rund 27.000 staatliche Gesundheitshelfer in Uganda nutzen ein mobiles Gesundheitssystem namens mTRAC, um über Arzneimittelbestände im ganzen Land zu berichten. Novartis arbeitet auch an einem mHealth- Pilotprojekt in Nairobi und Mombasa, um den Lieferkettenzyklus besser zu verstehen und Möglichkeiten aufzubauen, um sicherzustellen, dass Medikamente Patienten in Not erreichen. Durch diese Initiative registrieren Apotheker ihre Patienten für Umfragen per SMS. Mobile Gesundheitslösungen wie Miti Health in Kenia und mPedigree in Ghana tragen zur Verbesserung der Arzneimittelversorgungskette bei, indem sie Rezepte und rezeptfreie Arzneimittel validieren. Innovative App. Es ist ein Beispiel für Spitzentechnologie mit globalem Potenzial, die innerhalb der Infrastruktur des britischen National Health Service entwickelt wurde. Push Doctor ist eines von rund 3.700 Medizintechnikunternehmen, die heute in Großbritannien tätig sind und zusammen 115.000 Mitarbeiter mit einem Jahresumsatz von 21 Mrd GBP beschäftigen. Das Unternehmen gibt an, dass 90 Prozent seiner Patienten online die Hilfe erhalten können, die sie benötigen, ohne dass eine körperliche, persönliche Untersuchung erforderlich ist. „Push Doctor war die erste Plattform in Großbritannien, die Video-Konsultationen mit Patienten online und per Smartphone anbot. Heute helfen wir Tausenden von Patienten pro Woche, die Hilfe zu erhalten, die sie zum ersten Mal benötigen“, so Wais Shaifta, Geschäftsführer von Push Doctor. Die chirurgische Robotik ist daneben ein weiterer Bereich, in dem britische Unternehmen arbeiten. Nachzügler Japan. Obwohl Japan der drittgrößte Markt für medizinische Geräte ist und über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt verfügt, vollzog sich die digitale Transformation im Gesundheitswesen nur langsam. Dies ist teilweise auf den konservativen Charakter der medizinischen Industrie des Landes zurückzuführen, aber auch auf die Tatsache, dass die Bevölkerung im Rahmen des universellen Krankenversicherungssystems eine kostengünstige und qualitativ hochwertige Versorgung erhalten hat, was es in der Vergangenheit weniger dringend gemacht hat, fortschrittliche Technologien zur Überwachung der Gesundheit und zur Vorbeugung von Krankheiten einzusetzen. Mit einigen grundlegenden Veränderungen in der Demografie und dem zunehmenden Fokus japanischer Unternehmen auf die Beschleunigung von Innovationen änderte sich diese Situation: 2017 wurde ein Gesetz eingeführt, das die Bestimmungen für den Umgang mit personenbezogenen medizinischen Daten lockerte und ein Jahr später erfolgte die Liberalisierung der Telemedizin. Seither können Online-Konsultationen über die Krankenversicherung abgerechnet werden. Die Regierung plant zudem, klare Richtlinien für artifizielle intelligenzbasierte Lösungen in klinischen Umgebungen einzuführen. 2019 Rekordjahr in Israel. In Israel hat die Regierung Anfang 2018 Hunderte Millionen Dollar zugesagt, um die lokale digitale Gesundheitsindustrie zu unterstützen. Israel ist weltweit in einer einzigartigen Position, da alle israelischen Bürger gesetzlich verpflichtet sind, Mitglieder einer der vier Gesundheitsorganisationen des Landes zu sein, die sowohl als Dienstleister als auch als Krankenversicherer fungieren. Das Land verfügt daher über fast drei Jahrzehnte gesammelter Daten zum Gesundheitssystem, von denen 98 Prozent digitalisiert sind. Die Zahl der in Israel tätigen Unternehmen für digitale Gesundheit erreichte 2019 580 und hat sich laut SNC seit 2011 mehr als verdoppelt. Die Daten zeigen, dass 26 Prozent der Unternehmen im Bereich der digitalen Therapeutika tätig sind. 40 Prozent der Unternehmen verlassen sich bei ihrer Technologie auf künstliche Intelligenz. Cornelia Schwarz www.zahnaerzteblatt.de ZBW 7/2020

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