26 Titelthema Ideen für das zukünftige Europa Europa der Regionen – ein Modell für die Gesundheitspolitik? In welchem Europa wollen wir leben? Was bedeutet europäische Integration und wohin entwickelt sich die Europäische Union? Leben wir eines Tages in den Vereinigten Staaten von Europa, wie manche fordern, oder bleibt am Ende ein loser Staatenbund, der nur auf einem gemeinsamen Markt basiert? Das Legitimationsproblem der EU hängt sich meist an der Frage auf: Hat Brüssel zu viel Einfluss? Sachlicher gesprochen bleibt die Frage: Welche politische Ebene soll welche Kompetenzen haben? Zu den vielen diskutierten Ideen für die Zukunft Europas gehört das „Europa der Regionen“. Dahinter steckt die Idee, dass Regionen – unter dem Dach des gemeinsamen Europas – eine stärkere politische Rolle spielen. Interessenvertretung vor Ort. Die baden-württembergische Landesvertretung in Brüssel. Foto: imago images/JOKER Hartwig Lohmeyer Bürgernähe. Augenscheinlich fehlt es an Grundvertrauen, insbesondere bei denjenigen, die besonders unter der Wirtschaftskrise gelitten haben oder von materiellem Abstieg bedroht sind. Doch selbst wohlmeinende Zeitgenossen unterstellen den Institutionen der EU vieles, aber eher keine Bürgernähe. Die Strukturen sind in der Wahrnehmung zu vieler Menschen intransparent, ohne ausreichende demokratische Legitimation und vor allem zu weit weg von den Bürgerinnen und Bürgern, die die Politik der EU in ihrem Alltag zu spüren bekommen. Subsidiarität. In Artikel 3b des Vertrags von Lissabon ist ganz klar das Subsidiaritätsprinzip verankert, d. h. eine staatliche Aufgabe soll soweit wie möglich von der unteren Ebene wahrgenommen werden. Die Europäische Gemeinschaft darf nur tätig werden, wenn die politischen Ziele besser auf der Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Im komplizierten Kompetenzgeflecht zwischen EU-Institutionen, Mitgliedstaaten und Bundesländern bzw. Regionen stellt sich deshalb die Frage, ob die Entscheidungsgewalt in zentralen Fragen derzeit dort angesiedelt ist, wo sie am besten im Sinne der Bürgerinnen und Bürger ausgeübt werden kann. Viele bezweifeln das. Zustand der EU. Wie steht Europa heute da? Das fragen sich Leitartikler und Kommentatoren landauf, landab. Eine sachliche Bestandsaufnahme ergibt zunächst einmal: Nach einem Austritt Großbritanniens hat die Europäische Union immer noch 27 Mitgliedstaaten, 24 Amtssprachen, über eine halbe Milliarde Bürgerinnen und Bürger vom Schwarzen Meer bis zur Atlantikküste, von Lappland bis Sizilien und dazu den größten gemeinsamen Wirtschaftsraum der Welt. Eine Bestandsaufnahme ideeller Art ergibt dagegen: Die Europäische Union steckt in einer veritablen Identitätskrise. Auch wenn in Deutschland eine deutliche Mehrheit die EU-Mitgliedschaft positiv sieht, ist die Skepsis bis hin zur offenen Europafeindlichkeit mit Händen zu greifen. Die Haltung zur EU wurde jüngst in einer repräsentativen Befragung der Bertelsmann Stiftung bei über 11.000 Europäerinnen und Europäern abgefragt. Diese ergab eine Kluft zwischen denjenigen, die den Zustand der Gesellschaft und ihre eigene ökonomische Lage zuversichtlich sehen und denen, die diese mit Sorge betrachten, so die Autoren der Studie. Regionen. Und hier kommt die Idee von einem „Europa der Regionen“ ins Spiel, in dem nicht nur die Union und der Nationalstaat, sondern dezidiert auch die Region politischen Einfluss ausübt und im Zusammenspiel mit den europäischen Institutionen wahrgenommen wird. Nicht umsonst unterhalten Länder wie Baden-Württemberg eine Landesvertretung in Brüssel, um die „Anliegen des Landes in allen Phasen des Entscheidungsprozesses in Brüssel“ einzubringen, wie der Webauftritt des Landes verrät. Wo die Regionen selbst gegenüber der EU ihre Forderungen und Positionen geltend machen können und zentrale Fragen in Eigenregie ZBW 5/2019 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 27 lösen, verspricht man sich praxisnahe Lösungen unter Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern – und unterstellt vermutlich nicht zu Unrecht, dass manches auf regionaler Ebene besser als in einem Zentralstaat geregelt werden kann. Auch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf regionaler Ebene – etwa in Fragen von Wirtschaftsförderung, Infrastruktur, Tourismus oder auch Bildung – ist nicht mehr nur reine Zukunftsmusik, sondern in manchen Bereichen längst gang und gäbe. Gesundheitspolitik. Ein Feld, das sich in besonderem Maße für passgenaue regionale Lösungen anbietet, ist gerade auch die Gesundheitspolitik. Denn nicht nur die Alters- und Sozialstruktur, sondern auch die Verkehrswege, die öffentliche Infrastruktur und nicht zuletzt auch der regionale Arbeitsmarkt unterscheiden sich geografisch erheblich und beeinflussen die Möglichkeiten und Ansprüche an ein bürgernahes, effizientes Gesundheitssystem, das eine Versorgung von hoher Qualität sicherstellt. Je besser man regionale Versorgungsstrukturen den Gegebenheiten vor Ort anpasst, umso besser und effektiver das System von Gesundheitsförderung, Prävention, medizinischer Versorgung und nicht zuletzt der Pflege. Die Initiierung kommunaler Gesundheitskonferenzen in Baden- Württemberg vor wenigen Jahren ist ein deutlicher Ausdruck dieser Überzeugung. Wo Versorgung nicht zentralstaatlich, sondern vor Ort unter Beteiligung aller Akteure gesteuert bzw. organisiert wird, passt sie zu den jeweiligen Strukturen und Bedingungen. Regionale Versorgungkonzepte sind insofern ein lebendiger Ausdruck der Subsidiarität und zugleich ein gutes Beispiel funktionierender Selbstverwaltung. Föderalismus. Immer wieder sind hingegen seitens des Bundes Bestrebungen deutlich geworden, nicht nur die Kompetenz der Regionen, sondern im Gesundheitswesen insbesondere auch die Kompetenz der gemeinsamen Selbstverwaltung zugunsten einer Steuerung durch die Politik zu beschneiden und den Föderalismus zu schwächen. Auch Vielversprechend: Grenzüberschreitende zahnmedizinische Versorgung in Europa. der amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn hat mehrfach auf eine stärkere politische Steuerung der Bundesebene hingewirkt, sich aber gleichzeitig offen für gute Argumente gezeigt, wie in den Beratungen zum kürzlich verabschiedeten Terminservice- und Versorgungsgesetz deutlich wurde. Für Diskussionen sorgte zuletzt der Entwurf für ein „Gesetz für eine faire Kassenwahl“. Durch die Pläne, alle Krankenkassen bundesweit zu öffnen, würde u. a. die Aufsicht von den Landesgesundheitsministerien auf das Bundesversicherungsamt übergehen. Entsprechend groß war der Aufschrei auf Seiten der Länder. Diplomatisch verpackt, aber in der Sache unmissverständlich, schrieb der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne Lucha mit drei weiteren Kollegen: „Eine derartige Zentralisierung einer auch für die medizinische Versorgung in den Ländern wesentlichen Zuständigkeit steht unseres Erachtens den von unseren Ländern vertretenen föderalen Grundsätzen diametral entgegen.“ Deutlicher noch formulierte es Christopher Hermann, Vorstandschef der AOK Baden-Württemberg: Gesundheitsminister Spahn führe mit diesem Plan „seine Linie fort, zentralistisch und dirigistisch in die gesundheitliche Versorgung vor Ort hineinzuregieren“, so Hermann. Welche Sichtweise sich am Ende durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Vermutlich wird es jedoch nicht das letzte Mal sein, dass die Vertreter der Länderebene gegen vermeintliche Zentralisierungsbestrebungen der Bundesebene in der Gesundheitsversorgung und in anderen Bereichen aufbegehren werden. Dass dieses durchaus glückt, zeigt die gerade beendete Diskussion in Bezug auf das Bildungssystem. Ausblick. Es besteht kein Zweifel: Die Bürgerinnen und Bürger werden immer mobiler. Studium, Arbeit und Ausbildung und auch familiäre Beziehungen im europäischen Ausland sind längst kein Sonderfall mehr. Auch die Gesundheitspolitik steht insofern in einer Bringschuld, dass eine grenzüberschreitende Versorgung von hoher Qualität möglich wird. Der europaweite Zugriff auf die eigenen Gesundheitsdaten unter strengen datenschutzrechtlichen Voraussetzungen ist ein zentrales politisches Ziel der Europäischen Kommission, das den Patientinnen und Patienten zugutekommen soll, indem etwa unnötige Doppeluntersuchungen vermieden werden und dadurch schneller die wirksamsten Behandlungsmaßnahmen gewährleistet werden sollen. Grundlage dessen ist jedoch eine flächendeckend gute Versorgung mit (zahn-)medizinischen Leistungen. An einer passgenauen regionalen Versorgungsplanung festzuhalten, ist in diesem Sinne gerade kein Widerspruch zu dem grenzüberschreitenden Ansatz, sondern eine pragmatische Lösung, damit sich die Gesundheitsversorgung flächendeckend auf hohem Niveau bewegt und die Standards, die in den letzten Jahrzehnten in der Medizin wie der Zahnmedizin erreicht wurden, langfristig gesichert werden können. » holger.simon-denoix@kzvbw.de Foto: hutterstock.com/Flavio Massari www.zahnaerzteblatt.de ZBW 5/2019
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