18 Titelthema Interview mit der Tübinger Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Abels „It‘s Yourope: Diskussion über die zahlreichen Errungenschaften“ In wenigen Wochen sind rund 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger in den EU-Mitgliedsländern aufgerufen, das neunte Europaparlament zu wählen. Zwischen dem 23. und 26. Mai 2019 entscheidet sich, welchen Weg die Politik in der Europäischen Union in den kommenden Jahren einschlagen wird: Zerbricht die EU an fehlendem Gemeinschaftsgefühl oder können sich die proeuropäischen Kräfte durchsetzen und effektiv an bestehenden Schwächen und inneren Widersprüchen der EU arbeiten? Dazu im ZBW-Interview: Die Europaexpertin Prof. Dr. Gabriele Abels, Jean-Monnet-Professorin für Politische Systeme Deutschlands und der EU sowie Europäische Integration am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen. ZBW: Frau Professor Abels, der Zustand der Europäischen Union vor der Wahl ist bedenklich. Mit dem Brexit-Votum von 2016 hat erstmals ein Mitgliedsland den Austritt aus der EU eingeleitet. In vielen Ländern dominieren Parteien die politische Debatte, die der europäischen Einigung im Kern ablehnend gegenüberstehen. Wagen Sie eine Prognose: Wohin driftet die Europäische Union in der nächsten Wahlperiode? Prof. Dr. Gabriele Abels: Es ist zu befürchten, dass v. a. rechtspopulistische und integrationsskeptische Parteien erhebliche Zugewinne verzeichnen werden. Es ist erklärtes Ziel dieser Parteien, das Parlament zu erobern, um eine andere Integration, einen Abbau der liberalen Demokratie bzw. eine starke Renationalisierung von Kompetenzen zu erreichen. Die AfD ist dafür ein gutes Beispiel; sie will das Europäische Parlament abschaffen und strebt einen „Dexit“ an. Zwar wird es auch im neuen Europaparlament vermutlich immer noch zu einer großen Koalition aus konservativer EVP und sozialdemokratischer S&D reichen, aber es braucht Stimmen aus anderen Fraktionen. Es wird also schwieriger werden, Mehrheiten für positive Integrationsprojekte zu finden und der Ton wird rauer werden. Die Tübinger Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Gabriele Abels fordert eine stärkere Politisierung bei Europathemen. Was kann ein vereintes Europa, das mit einer Stimme spricht, ganz konkret besser, als die einzelnen Mitgliedstaaten? Viele Probleme sind heutzutage gar nicht mehr im nationalen Rahmen zu regeln. Sei es z. B. Umwelt- und Klimapolitik, Verbraucherschutz- oder Handelspolitik. Foto: Alexander Kobusch Angesichts aufstrebender neuer Mächte, allen voran China, ist jedes EU-Land – und zwar auch Deutschland – viel zu klein, um alleine im globalen Wettbewerb zu bestehen. Nur die EU kann als größter Binnenmarkt der Welt die Regeln einer globalen Handelsordnung von morgen mitbestimmen. Auch angesichts einer sich wandelnden Sicherheitslage mit neuen Bedrohungen z. B. durch internationalen Terrorismus kann nur eine Kooperation der EU-Staaten sinnvolle Lösungen bieten. Die EU ist mit ihrem Wertekanon einer liberalen, pluralen Demokratie für viele Länder der Welt ein Vorbild. Wir können aber nur gemeinsam für diese Werte streiten. Wie schätzen Sie die Wahrnehmung dieser Wahl in der Öffentlichkeit ein? Ist den Wählerinnen und Wählern bewusst, worüber sie abstimmen, welchen Einfluss sie haben? Oder ist die Europawahl in erster Linie eine Abrechnung mit der jeweiligen nationalen Politik? Europawahlen gelten gemeinhin als nachrangige Wahlen. D. h., da aus den Wahlen keine echte Regierung hervorgeht, so wie wir das im nationalen Rahmen gewohnt sind, werden die Europawahlen vielfach als weniger wichtig erachtet. Dies wird an der geringen Wahlbeteiligung deutlich, die in Deutschland zuletzt ca. 30 Prozentpunkte unter der Wahlbeteiligung für die Bundestagswahlen lag. In einigen EU-Staaten gehen weniger als 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler an die Urne. Dabei sind die Vertrauenswerte in das Europaparlament durchaus sehr hoch. Zudem bestimmen in der Tat oft nationale Themen den Wahlkampf und echte ZBW 5/2019 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 19 europapolitische Themen werden marginalisiert. Viele Wählerinnen und Wähler nutzen die Europawahl dann als Denkzettel-Wahl für die nationale Regierung. Im aktuellen Wahlkampf geht es primär darum, zu informieren und zu mobilisieren für die Wahlen. In Anbetracht der derzeitigen Prognosen für die Integrationsgegner wird die Europawahl gemeinhin als Schicksals- oder Richtungswahl eingeordnet. Europa wird häufig als regulierungswütiges, bürokratisches Monster wahrgenommen, das viel zu stark in Bereiche eingreift, die auf nationaler oder regionaler Ebene viel besser gemanagt werden können. Auch im Gesundheitsbereich hält sich diese Vorstellung. Das EU-Dienstleistungspaket etwa wurde als Angriff auf die Freiberuflichkeit der Heilberufe gesehen. Auch die Datenschutzgrundverordnung hat für große Verunsicherung gesorgt. Was ist dran an der generellen Kritik, Europa mische sich in zu viele nationale Angelegenheiten ein? Keine EU-Richtlinie oder -Verordnung entsteht, ohne dass die nationalen Regierungen dem zugestimmt hätten. Insofern wird EU- Recht den Staaten nicht einfach übergestülpt, auch wenn nationale Regierungen gerne die Schuld für schlechte Politik nach Brüssel verschieben und sich für die Dinge, die gut laufen, selber auf die Schultern klopfen. Sicherlich ist es ein Problem, dass die EU immer Recht für 28 oder künftig wohl 27 Staaten machen muss; diese Staaten sind aber sehr heterogen. Detailregelungen sind dann oft der Ausweg, um eine Rechtsharmonisierung zu erreichen. Im Übrigen ist die Anzahl der Gesetzentwürfe aus Brüssel in der aktuellen Juncker-Kommission stark zurückgefahren worden. Als Reaktion auf vielfach geäußerte Kritik will man nach dem Motto vorgehen, weniger, das dafür aber besser zu machen. Grafik: Globus/Karen Losacker, Redaktion: Wolfgang Fink Muss die Europäische Union also in erster Linie ihr Marketing verbessern oder sollte es tatsächlich in wesentlichen Bereichen eine Verlagerung von Kompetenzen auf andere Ebenen geben? Europawahl 2019: Wer wählt mit? In Deutschland sind 64,8 Millionen Bürger wahlberechtigt, darunter 3,9 Millionen aus anderen EU-Staaten. 18 bis 20 Jahre insgesamt 2,3 Mio. 21 bis 44 Jahre 21,7 45 bis 59 Jahre 17,9 Jedes politische System, das aus mehreren Ebenen besteht, ist komplex und die Frage der Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen ist eine zentrale. Das ist auch in der EU so. Der Lissabon-Vertrag enthält einen präziseren Kompetenzkatalog. Ferner wurde das Prinzip der Subsidiarität durch die Beteiligungsrechte von nationalen (und ggf. auch regionalen) Parlamenten in EU-Angelegenheiten mit dem Lissabon-Vertrag von 2009 ausgebaut. Es ist aber nicht immer so leicht zu sagen, welche Ebene für was die beste ist. So hatte die britische Regierung im Vorfeld des Brexit-Referendums eine Studie in Auftrag gegeben, die sich mit Bereichen für eine Rückverlagerung von Kompetenzen befassen sollte. Zentrales Ergebnis war, dass es – laut dem Expertengremium – kaum sinnvolle Bereiche für solche Rückverlagerungen gibt. Kurzum: Kein Marketing für die EU, aber eine ernsthafte Diskussion darüber, wie die demokratische Legitimation dieses komplexen Systems weiter verbessert werden kann. Ein Zahnarzt hat verschiedene Möglichkeiten, um einen geschädigten Zahn zu erhalten und eine Extraktion zu verhindern. Wie würden Sie kurativ eingreifen, damit das vereinte Europa nicht schwerer erkrankt und doch noch gerettet werden kann? Eine offene und ehrliche Diskussion über die zahlreichen Errungenschaften, die vielfach zu wenig gesehen werden, aber auch über die Probleme. Politik lebt von Politisierung, d. h. auch von der Diskussion von Alternativen. In der Europapolitik brauchen wir eine stärkere Politisierung. Dadurch kann das Interesse an EU-Themen erhöht werden und im Sinne eines „It‘s Yourope“ die Integration quasi von unten stärker unterfüttert werden. Vielen Dank für das Gespräch. 22,9 0,1 Mio. 2,2 1,0 0,6 darunter aus anderen EU-Staaten Schätzung Die Fragen stellte Dr. Holger Simon-Denoix EUROPAWAHL 60 Jahre und älter Quelle: Bundeswahlleiter © Globus 13088 Europawahl 2019. Rund 64,8 Millionen Bürger in Deutschland sind aufgerufen, am 26. Mai 2019 das neue Europäische Parlament zu wählen. Nach Schätzungen des Bundeswahlleiters sind 60,8 Millionen Deutsche und 3,9 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger wahlberechtigt. Rund 3,9 Millionen junge Menschen in Deutschland dürfen sich zum ersten Mal an der Europawahl beteiligen. Quelle: Bundeswahlleiter/Globus www.zahnaerzteblatt.de ZBW 5/2019
Laden...
Laden...
Informationszentrum Zahn- und Mundgesundheit Baden-Württemberg (IZZ)
Haus: Heßbrühlstraße 7, 70565 Stuttgart
Post: Postfach 10 24 33, 70200 Stuttgart
Telefon: 0711 222 966 0
Fax: 0711 222 966 20
presse@izzbw.de
Eine Einrichtung der Kassenzahnärztlichen
Vereinigung Baden-Württemberg
& der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg
© by IZZ Baden-Württemberg - Impressum - Datenschutz