46 Fortbildung Gruppe 2. Die zweite Gruppe der älter werdenden Patient*innen beschreibt die Menschen, die im Laufe der Zeit zunehmend Unterstützung benötigen. Indizien dafür können unter anderem sein, dass die Liste der verordneten Medikamente stetig wächst, dass sie nur noch in Begleitung zu Terminen erscheinen oder dass sich Abläufe in körperlicher und/oder geistiger Motorik spürbar verlangsamen. Auch hier haben sich in der Praxis konkrete Handlungsstrategien als nützlich erwiesen: So wird die Therapieplanung an den jeweiligen Pflegegrad angepasst. Konkret räumen wir diesen Patient*innen mehr Zeit ein und auch Angehörige werden deutlich mehr eingebunden. Zunehmend gewinnt auch die Lagerung während der Behandlung an Bedeutung. Hier spielen unter anderem Einschränkungen wie die Folgen eines Apoplexes, Wirbelsäulenproblematiken oder Symptome von Koronaren Herzerkrankungen eine wichtige Rolle. Ein*e Patient*in, der infolge eines Apoplexes eine Dysphagie ausgebildet hat, braucht beispielsweise bei rotierenden, wasserführenden Instrumenten eine Seitwärtslagerung und exakte Absaugung, um keine Aspirationspneumonie zu entwickeln. Foto: Waldent Maxbite Beleuchtungsinstrumente. Der MaxBite ® dient als intraorale Hilfe, wenn im Rollstuhl oder im Heim behandelt wird und das Licht ungenügend ist. Wird von den Patienten als sehr angenehm empfunden, da sie ihre Zähne darauf „parken“ können. Der am schlechtesten bewertete Parameter der Zahnmedizinischen Funktionellen Kapazität führt zur Festlegung der Belastbarkeitsstufe des Patient*innen. Diese gibt Anhaltspunkte für den Umfang der prothetischen und der konservierenden Rehabilitation. Dritte Gruppe. Die größten physischen und psychischen Einschränkungen stellen wir bei der Patientengruppe 3, den multimorbiden und multipharmazierten Patient*innen fest. Hier kommt ein festes Behandlungsund Therapiekonzept zum Tragen. Das beginnt in der Regel damit, dass die zahnärztliche Versorgung von Pflegeheimen, pflegenden Angehörigen und/oder Betreuern angefordert wird. Auch wenn in dieser Patientengruppe häufig die aufsuchende Betreuung im Mittelpunkt steht, ermöglichen wir einem Teil dieser Gruppe auch die Behandlung in unseren Praxis-Räumlichkeiten. Hier sollte der Fokus auf einer gründlichen Vorbereitung liegen. Nicht zuletzt wegen juristischer Rahmenbedingungen. So lassen wir uns schon vor der eigentlichen Untersuchung sämtliche, dazu notwendigen Unterlagen vorlegen. Das schließt sowohl die Stammdaten, Medikamentenliste, Anamnesebogen, Diagnosen, den gültigen Betreuer- Ausweis, Kontaktdaten von behandelnden Kollegen und anderen Therapeuten (Interdisziplinarität) als auch das jeweils aktuelle Einverständnis zur Untersuchung und Behandlung ein. Diese standardisierten Unterlagen ergänze ich in meiner Praxis – wenn nötig – um Angaben zur demenziellen Erkrankung. Hier spielen verschiedene Faktoren wie das aktuell erlebte Alter (Biografiebogen) eine Rolle und sollten deshalb genau besprochen werden. Alle Informationen fließen anschließend in die Behandlung und in das Therapiekonzept ein. Ausgesprochen wichtig sind diese Informationen auch für das rationelle Arbeiten des Fachpersonals. Schließlich erleichtert eine auf die Mobilität des Patient*innen abgestimmte Zimmervorbereitung den Behandlungsablauf und ermöglicht auch eine spürbare Zeitersparnis. Das ist vor allem mit Blick auf die zum Teil stark eingeschränkte Belastbarkeit des Patient*innen relevant. Teil einer guten Vorbereitung ist auch die Kenntnis darüber, ob die/der Patient*in mög- Therapie vor Ort Therapieort ambivalent - Therapiefähigkeit nach Funktioneller Kapazität (FK) stark reduziert - Transportfähigkeit zumindest im Rollstuhl - Umsetzbarkeit in den Behandlungsstuhl - Einschätzung der betreuenden Pflegekraft/Angehörigen Therapie in der Praxis - Therapiefähigkeit nach Funktioneller Kapazität (FK) normal oder leicht reduziert - Bewohner verlässt gelegentlich gewohnte Umgebung - Positive Einschätzung der betreuenden Pflegekraft/Angehörigen Therapiesetting mit Ampelsystem. Insbesondere bei älteren Menschen der Patientengruppen 2 und 3 zeigt sich immer wieder, dass ihre zahnärztliche Betreuung nicht an der Praxistür endet. (Abb. 2/ DGAZ) ZBW 4/2021 www.zahnaerzteblatt.de
Fortbildung 47 licherweise vom Rollstuhl in den Zahnarztstuhl umgelagert werden kann und wie sich dieser Prozess aufgrund von eventuellen Einschränkungen darstellt. Auch hier sind zu jeder Zeit juristische Fragen sowie Haftungsfragen zu berücksichtigen. Die Strategie für einen reibungslosen Ablauf beinhaltet außerdem ein durchdachtes Zeitmanagement. Das betrifft auch die Berücksichtigung der Tageszeit. Menschen, die in der Pflege ohnehin einem fremdbestimmten Tagesablauf unterliegen, sind nicht immer konstant belastbar. Darüber hinaus vermeiden wir Wartezeiten und planen die Behandlungsdauer vorausschauend. Immer sollte dabei ein Zeitfenster für einen eventuellen Toilettengang des Patient*innen eingerechnet werden. Da der vermeintlich peinliche Hinweis seitens des Patient*innen auf dieses Bedürfnis oft unterdrückt wird, achten wir während der Behandlung genau auf spezielle Anzeichen wie Unruhe oder Hin- und Herrutschen auf dem Behandlungsstuhl. Therapiesetting mit Ampelsystem. Insbesondere bei älteren Menschen der Patientengruppen 2 und 3 zeigt sich immer wieder, dass ihre zahnärztliche Betreuung nicht an der Praxistür endet. Im Gegensatz zu uneingeschränkt selbstbestimmten Patient*innen benötigen sie auch Begleitung und Planung über die Behandlung vor Ort hinaus. Deshalb stelle ich in meiner Praxis eine Versorgungsdia gnose. Dazu ist primär zu klären, ob die Versorgung zuhause oder stationär erfolgt und wer für die Pflege und Mundpflege zuständig ist. Zur Abwägung des Therapiesettings orientieren wir uns an einem Ampelsystem (Abb. 2). Anschließend kläre ich die Nachsorgekompetenz, also die Frage, wer sich um die Inanspruchnahme des engmaschigen Recalls kümmert. Im Kern dieser besonderen zahnmedizinischen Betreuung mit Ziel der Kontinuität und Prävention steht die frühzeitige Anpassung der Therapieplanung an ein mögliches Fortschreiten einer altersbedingten Erkrankung. Sie schließt die Gewährleistung der Mundgesundheit, die Erhaltung der Kaufähigkeit und die damit verbundene Lebensqualität sowie die Verhinderung von einschneidenden Notfällen, bzw. Vermeidung von Narkosesanierung, ein. Die übergeordnete Devise für die prothetische Versorgung dabei sollte lauten: solid, simple and secure – also: stabil, einfach und sicher! Mit dieser Prämisse würden wir uns zum Beispiel eher für eine sogenannte Duplikatprothese als für eine aufwändige neue Arbeit entscheiden. Info Dieser Artikel soll als grober Überblick einen Eindruck vermitteln, welche Möglichkeiten uns die moderne Seniorenzahnmedizin bietet. Wie die gesamte Gesellschaft sind auch wir im Rahmen des demografischen Wandels immer mehr gefordert, uns mit vulnerablen Patientengruppen zu beschäftigen und konkrete Konzepte für sie zu erarbeiten. Die Deutsche Gesellschaft für Alterszahnmedizin, (DGAZ e.V.) hilft Ihnen dabei gerne mit speziellen Fortbildungen weiter. Mehr Informationen finden Sie im Internet auf www.dgaz.org. Behandlungserfolg. Interdisziplinarität ist ein wichtiger Schlüssel zum ganzheitlichen Behandlungserfolg. Wie wichtig die fachgebietsüberschreitende Kommunikation und Kooperation für die optimale Betreuung und Behandlung ist, wird vor allem im Kontext der älteren Patient*innen sichtbar. Sie ist nicht nur für den betroffenen Patient*innen unersetzbar, sondern auch für die am Netzwerk beteiligten Fachrichtungen ein gegenseitiger Gewinn. So können beispielsweise Logopäden helfen, die Mundhygiene zu optimieren und dadurch das Pneumonierisiko senken. Fazit. Für die optimale Betreuung und Behandlung der oben beschriebenen Patientengruppen benötigen wir neben unserer Fachkompetenz weitere Konzepte und Maßnahmen. Ihr Erfolg steht und fällt mit einem adäquat fortgebildeten Praxisteam. Für uns als Zahnärzt*innen bedeutet das vor allem auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit und vielleicht ein neuer Blick auf unsere Patient*innen höheren Alters. Denn: Nur wenn wir genau hinschauen, können wir Veränderungen und die sich daraus ableitenden, oben genannten Strategien auch rechtzeitig zu ihrem Wohl umsetzen. Das bedeutet für unsere Patient*innen häufig eine verbesserte Lebensqualität, verbesserte soziale Kontakte sowie weniger Notfalleinweisungen und invasive Schmerzinterventionen. Zusätzlich haben wir mit diesem Konzept auch ein deutlich besser informiertes und daher oft motivierteres Pflegepersonal. Außerdem schaffen wir ein neues Bewusstsein für die komplexen Zusammenhänge von Gesundheit und Zahnbzw. Mundraumpflege bei den pflegenden Angehörigen, die immer wieder mehr als dankbar sind für diese wichtigen Informationen und Anleitung durch uns als Experten. Vor dem Hintergrund der Alterszahnmedizin sollte sich vielleicht auch der Blick auf unsere Praxisräume verändern. Damit sich ältere Patient*innen hier nicht nur gut betreut, sondern auch gut aufgehoben und wohlfühlen, müssen zum Beispiel nicht nur die Räumlichkeiten altersgerecht, also barrierefrei, sein. Auch die „Software“, die ihnen bei uns begegnet, muss auf die speziellen Bedürfnisse eingehen: Schriften müssen auf Aushängen und auf Informationsmaterial deutlich größer gewählt und Termine der Einfachheit halber immer am selben Wochentag und zur selben Uhrzeit vereinbart werden. All das gehört zu einer ganzheitlichen Barrierefreiheit in der modernen Alterszahnmedizin. Dr. Claudia Ramm, Praxis für Zahnheilkunde & Ästhetik, Kiel Hinweis: Die Fotos aus der Praxis sind vor der Coronapandemie entstanden. Selbstverständlich arbeitet Dr. Claudia Ramm jetzt mit an die Situation angepasster Schutzkleidung. Dr. Claudia Ramm DGAZ-Landesbeauftragte Schleswig-Holstein, Kiel www.zahnaerzteblatt.de ZBW 4/2021
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