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65 Jahre Landeszahnärztekammer

Ausgabe 4/2020

24 Pro und Contra Pro

24 Pro und Contra Pro Contra Dr. Stefan Etgeton, Senior Expert Gesundheitspolitik, Bertelsmann-Stiftung Ass. jur. Christian Finster, Stellv. Vorstandsvorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg Solidarität gehört zu den Grundwerten der sozialen Marktwirtschaft. In der Sozialversicherung basiert sie auf einer möglichst breiten Mischung unterschiedlicher Risiken und Leistungsfähigkeiten. Nur wenn Starke und Schwache sich zusammentun, um die Risiken zwischen Gesunden und Kranken auszugleichen, kann eine tragfähige Solidargemeinschaft entstehen und erhalten werden. Die Aufspaltung der Kranken- und Pflegeversicherung in einen gesetzlichen und einen privaten Zweig wird dieser Maßgabe nicht gerecht. Durchschnittlich sind Privatversicherte nicht nur einkommensstärker als gesetzlich Versicherte, sondern auch gesünder. Obwohl die gesetzlich Versicherten insgesamt sogar etwas jünger sind als die Privatversicherten, ist unter ihnen der Anteil vom pflegebedürftigen, erwerbsgeminderten bzw. schwerbehinderten Menschen und solchen mit chronischen Erkrankungen höher als in der privaten Krankenversicherung. Auch die subjektive Einschätzung des eigenen Gesundheitszustands weicht signifikant ab: Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wird von den gesetzlich Versicherten sowohl für die körperliche als auch für die psychische Gesundheit schlechter beurteilt als von den Privatversicherten. Die Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung führt also zu einer nachweisbaren Risikoentmischung, die den Prinzipien einer Sozialversicherung zuwiderläuft und erhebliche Solidarverluste nach sich zieht. Diese Risikoselektion beschädigt den sozialen Zusammenhalt – ideell wie handfest ökonomisch. Wir wissen aus zahlreichen repräsentativen Befragungen, aber auch aus den jüngst von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen ihres Projektes „Neustart“ durchgeführten Bürgerdialogen, dass die Aufspaltung der Kranken- und Pflegeversicherung in einen solidarischen und einen privatwirtschaftlichen Zweig auf erhebliche Vorbehalte in der Bevölkerung stößt. Die Verabschiedung eines im Durchschnitt wohlhabenderen Teils der Bevölkerung aus dem Solidarversprechen entzieht der Sozialversicherung notwendige Mittel. Das Gros der Versicherten würde von einer Aufhebung der Dualität in der Krankenversicherung auch finanziell profitieren – von dem Zugewinn für den sozialen Zusammenhalt ganz zu schweigen. Gerade da in dem vor uns liegenden Jahrzehnt allein aus demografischen Gründen die Finanzlage der Kranken- und Pflegeversicherung wieder angespannter werden wird, muss ernsthaft darüber gesprochen werden, wie wir die Solidargewinne in der Gesellschaft durch eine stärkere Risikomischung vermehren können. Dazu wären mutige Schritte in Richtung eines fairen Kranken- und Pflegeversicherungsmarktes notwendig. Bürgerversicherung An Herausforderungen für das Gesundheitswesen – Digitalisierung, sektorenübergreifende Versorgung, etc. – fehlt es nicht. Alles dient dem Ziel einer guten medizinischen Versorgung. Ein Wegfall der privaten Krankenversicherung trägt dazu wenig bei. Es ist offenbar eine besondere Krankheit in diesem Land, ständig Strukturdebatten zu führen, anstatt Ärzte und Zahnärzte einfach mal ihre Arbeit tun zu lassen. „Bürgerversicherung“ bedeutet: Abschaffung der freiwilligen Versicherungsmöglichkeiten, Abschaffung von Wahlmöglichkeiten und eine einheitliche Pflichtversicherung für alle. Dies würde den Eingriff des Staates verstärken und die Selbstverwaltung als Garant für Stabilität und gute Versorgung schwächen. Man muss auch verhindern, dass aus freiberuflich tätigen Zahnärzten abhängig Beschäftigte werden à la britischem National-Health- Service. Am Ende wird nämlich das hohe Gut von freier Arztwahl und Therapiefreiheit auf dem Altar einer vermeintlichen Gerechtigkeitsdebatte geopfert! Bei der Bürgerversicherung besteht ein Zusammenhang zwischen Finanzierungs- und Leistungsseite. Die Finanzierung wird vom Gesetzgeber geregelt (Arbeitnehmeranteil, Arbeitgeberanteil, Steueranteil). Völlig ungeklärt bleibt jedoch, welche (Grund-)leistungen zu finanzieren wären. Es geht primär ums Geld. Bertelsmann fordert deshalb auch eilfertig Beitragsgerechtigkeit für GKV-Versicherte. Würde man die Honorarverluste der Praxen durch den Wegfall der PKV jedoch ausgleichen, bliebe eine Einsparung von gerademal vier Euro im Monat. Allein durch Tarifvergleich und Kassenwechsel innerhalb der GKV kann man schnell das Zehnfache sparen. Und selbst diese Einsparung wäre nur im hypothetischen Fall realisierbar, dass alle PKV-Versicherten in die GKV wechseln würden, was, wie die Studie selbst einräumt, kein umsetzungsnahes Szenario ist. Hinzu kommt: Die verfassungsrechtlichen Hürden zur Einführung einer Bürgerversicherung wären sehr hoch. Was eine Bürgerversicherung für die zahnärztliche Versorgung bedeuten würde, haben wir bereits untersuchen lassen. Auf dem Land droht ein Ausbluten der Strukturen zum Nachteil der Bevölkerung. Über 500 Zahnärzt*innen und tausende Arbeitsplätze für Praxispersonal könnten wegfallen. Natürlich darf man Fehlentwicklungen im heutigen System benennen. So hat die Wissenschaftliche Kommission für ein modernes Vergütungssystem konkrete Ansätze für eine Reform der Honorarordnungen vorgeschlagen – aber eben keine pauschale Vereinheitlichung der Honorare von GKV und PKV. Es geht darum, eines der besten Gesundheitssysteme der Welt zielgenau weiterzuentwickeln. Ideologisch motivierte Forderungen helfen dabei nicht. ZBW 4/2020 www.zahnaerzteblatt.de

Berufspolitik 25 Fachtagung Gesundheitskompetenz im digitalen Zeitalter „Wir erleben eine digitale Transformation“ Foto: F. Wahl Das Bundesgesundheitsministerium hat am 4. Februar 2020 in Kooperation mit dem „Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ in Berlin zu einer Fachtagung „Gesundheitskompetenz im digitalen Zeitalter“ eingeladen. Die KZV Baden-Württemberg war bei dieser Tagung anwesend und hat so die Interessen der Vertragszahnärztinnen und Vertragszahnärzte aus Baden-Württemberg engagiert vertreten. Vision. Keynotespeakerin Prof. Dr. Andréa Belliger (3. v. l.) forderte eine Vision für die Digitalisierung im Gesundheitswesen. Es gehe nicht nur um technische Fragen, sondern um eine Transformation, die unser gesamtes Leben verändert. Konnektivität. Als Keynotespeakerin war die Schweizer Sozial- und Kommunikationswissenschaftlerin Prof. Dr. Andréa Belliger zu Gast. Sie bemängelte, dass es in Bezug auf die Digitalisierung im Gesundheitswesen an einer Vision fehle. So würde das Thema immer als ein rein technisches behandelt. Dabei seien die sich ändernden Werte das Wesentliche. Es ginge im Kern weniger um eine Digitalisierung von analogen Prozessen, sondern um eine digitale Transformation, die unser gesamtes Leben verändern würde. Früher sei zum Beispiel das (Zahn)arzt-Patientenverhältnis eine „bilaterale“ Angelegenheit gewesen. Heute hätte es sich dagegen längst in eine „multilaterale“ verwandelt, wo die Patientin/der Patient erst im Internet recherchiere, Apps benutze und die Information der Ärztin/des Arztes nur noch eine unter mehreren sei. Dies sei exemplarisch für viele Bereiche. In Zukunft würde es daher vor allem um Konnektivität gehen. Gesundheitskompetenz. Im Jahr 2017 hatte sich bereits die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ gegründet, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu stärken. Eingebunden in dieses Bündnis ist die Breite der Fachverbände und Gesundheitsberufe, darunter auch die Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV). Diese haben sich mit einer gemeinsamen Erklärung verpflichtet, in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitswissens zu entwickeln und umzusetzen. Digitalisierung gestalten. Wie dieses gemeinsame Ziel erreicht werden kann, wurde auf der Fachkonferenz in vier verschiedenen Workshops erarbeitet. Es ging von der Frage „Digitalisierung und Gesundheitskompetenz – Wo wollen wir hin?“ über „Die Bedeutung der Medien für die Stärkung der Gesundheitskompetenz“, „Stärkung der Gesundheitskompetenz vulnerabler Zielgruppen im digitalen Zeitalter“ bis hin zu „Kommunikation von Gesundheitsberufen und Patient*innen im digitalen Zeitalter“. Die Zahnärzteschaft war in diesen Foren vertreten und machte deutlich, dass Digitalisierung im Gesundheitswesen kein Selbstzweck sei, sondern primär den Patient*innen und deren Versorgung im Allgemeinen dienen müsse. Gesundheitsinformationen. Wie ein roter Faden zog sich ein zentraler Fragenkomplex durch die Fachtagung: Wie kann man die Fülle an Gesundheitsinformationen im Netz qualitätsgesichert filtern und bewerten? Welche Rolle spielen Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Gesundheitsberufe und -verbände dabei? Und inwiefern ändert sich die Rolle der Ärzt*innen und Zahnärzt*innen durch die fortschreitende Digitalisierung. So stünden viele Menschen aufgrund der fast unendlichen Informationen im Internet vor dem Problem, die richtigen und auch verlässlichen Informationen zu erhalten und damit umzugehen. Es habe sich daher jedoch auch die Rolle der Ärztin und des Arztes geändert: Während diese früher die Aufgabe übernommen haben, eine erste Diagnose durchzuführen, kämen heutzutage viele Patient*innen schon mit einer festen, manchmal auch falschen Meinung aus dem Internet darüber, was sie hätten. Die Ärztin und der Arzt habe dadurch eine ganz andere Rolle als noch vor Jahren. Nationales Gesundheitsportal. Die parlamentarische Staatssekretärin Sabine Weiß hat auf der Tagung angekündigt, dass Mitte 2020 das neue nationale Gesundheitsportal starten werde. Dieses Portal soll den Patient*innen qualitätsgesicherte Informationen bieten. Gesundheitsinformationen sollen im Netz leichter auffindbar werden und als seriös erkennbar sein. Florian Wahl www.zahnaerzteblatt.de ZBW 4/2020

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