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65 Jahre Landeszahnärztekammer

Ausgabe 4/2020

20 Titelthema Prof. Dr.

20 Titelthema Prof. Dr. Claus Wendt zur Zukunft der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen „Das deutsche System ist weltweit einzigartig“ Gesundheitsminister Spahn betont, dass er das Prinzip der Selbstverwaltung gegenüber einer staatlichen Organisation des Gesundheitswesens für überlegen hält. Dennoch ruft seine Politik regelmäßig Widerspruch bei der Selbstverwaltung hervor. Das ZBW sprach mit Prof. Dr. Claus Wendt, Universität Siegen, Lehrstuhl für Soziologie der Gesundheit und des Gesundheitssystems, über das Verhältnis von Politik und Selbstverwaltung, den Stellenwert und die Zukunftsperspektiven für das Modell der Gesundheitsversorgung mit einer starken Selbstverwaltung. ZBW: Herr Prof. Wendt, worin liegt der Vorteil, wenn zentrale Fragen der Gesundheitsversorgung nicht von der Politik, sondern von Ärzten, Zahnärzten oder Krankenkassen selbst geregelt werden? Prof. Dr. Wendt: Die Idee der Selbstverwaltung hat im deutschen Gesundheitssystem eine lange Tradition. Es hat sich in vielen Fällen als Vorteil erwiesen, dass nicht der Staat alles alleine regelt, sondern dass die Träger der gemeinsamen Selbstverwaltung viele der wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben in der Gesundheitsversorgung übernehmen. Beispielsweise hat der Aushandlungsprozess zwischen Krankenkassen und Ärzteverbänden maßgeblich zu dem heute bestehenden hohen Leistungsniveau beigetragen. Viele Länder in Osteuropa haben ebenfalls eine gesetzliche Krankenversicherung aufgebaut. Allerdings ohne starke Selbstverwaltung, und auch aus diesem Grund ist das Leistungsniveau in diesen Ländern sehr viel geringer. Gibt es die vom Gesetzgeber vorgesehene starke Selbstverwaltung auch in anderen Ländern? In vielen europäischen Ländern wurde ursprünglich ein Krankenversicherungssystem nach deutschem Vorbild aufgebaut. Wir finden heute allerdings kein Gesundheitssystem, das eine ähnlich starke Selbstverwaltung aufweist. In dieser Hinsicht ist das deutsche System weltweit einzigartig. Ein Beispiel für ein weiteres Gesundheitssystem mit Selbstverwaltung und Verhandlungsstrukturen zwischen Krankenkassen und Ärzteverbänden ist Österreich. Allerdings ist Prof. Dr. Claus Wendt hier die Kassenlandschaft weniger stark zersplittert und der Staat hat früh einen größeren Einfluss ausgeübt. So werden die Krankenversicherungsbeiträge seit vielen Jahren durch den Staat festgelegt und der Anteil der Steuerfinanzierung ist sehr viel höher als in Deutschland. Das hat unter anderem zur Folge, dass die Beiträge zur sozialen Krankenversicherung mit etwa 7,5 Prozent deutlich niedriger sind als in Deutschland. Jens Spahn bezeichnet sich selbst als „Fan der Selbstverwaltung“. Vertreter der Selbstverwaltung wiederum klagen über zu große staatliche Eingriffe und unterstellen das Bestreben, die Kräfteverhältnisse dauerhaft zugunsten der Politik zu verschieben. Wie beurteilen Sie dies? Das größte Problem sehe ich vor allem dann, wenn Selbstverwaltungsstrukturen zugunsten marktwirtschaftlicher Strukturen und von Privatisierungsprozessen aufgegeben werden. Wir haben mit den Vereinigten Staaten ein Beispiel, dass Privatisierung und Wettbewerb im Gesundheitssystem zu hohen Kosten, verbunden mit Unterversorgung und Ausschluss von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung, führen kann. Im Vergleich dazu haben sich die Akteure der Selbstverwaltung in Deutschland als verlässliche Partner erwiesen, die sich vor allem dem Wohl der Patientinnen und Patienten verpflichtet fühlen. Es ist insofern gut und richtig, dass sich der Gesundheitsminister als „Fan der Selbstverwaltung“ und weniger als „Fan des Wettbewerbs im Gesundheitssystem“ outet. Für wichtige Zukunftsfragen konnten Krankenkassen und Kassenärztliche Vereinigungen jedoch bisher keine Lösungen anbieten. Hier ist es wichtig, dass sich der Staat an der gemeinsamen Verantwortung für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger beteiligt. Foto: K. Gös Ist die starke Stellung der Selbstverwaltung mit ihren weitreichenden Verantwortlichkeiten zukunftsfähig angesichts der aktuellen Herausforderungen? Wenn es um die Kernfrage einer qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall geht, hat die Selbstverwaltung sehr häufig zu wichtigen Verbesserungen beigetragen. Angesichts der hohen Bedeutung der Gesundheit ZBW 4/2020 www.zahnaerzteblatt.de

Titelthema 21 halte ich es für erforderlich, dass außer Ärzten und Zahnärzten auch weitere Gesundheitsberufe mehr Verantwortung im Gesundheitssystem übernehmen. Es gibt allerdings wichtige Zukunftsfragen, die die Selbstverwaltung alleine nicht lösen kann. Im internationalen Vergleich sehen wir, dass z. B. die skandinavischen Länder mit stärkeren staatlichen Strukturen im Gesundheitssystem sehr viel bessere Maßnahmen für Prävention und Gesundheitsförderung ergriffen haben. Hier sehe ich auch in Deutschland den Staat mehr in der Pflicht. Ähnlich sehe ich es bei einer elektronischen Gesundheitskarte, die diesen Namen auch verdient. Eine Gesundheitskarte, die dazu beitragen kann, dass Doppeluntersuchungen und Arzneimittelmissbrauch vermieden und mithilfe derer schneller auf bereits erfolgte Diagnosen und Therapien zurückgegriffen werden kann. Bei solchen Themen scheinen in einem System mit starker Selbstverwaltung die Eigeninteressen der Akteure dazu beizutragen, dass Innovationen zum Wohle der Patient*innen zu langsam vorankommen. Müssen die Zuständigkeiten bei der Gesundheitsversorgung zwischen Bund, Ländern, Kommunen und Akteuren des Gesundheitswesens neu austariert werden? Aktuell halte ich es vor allem in drei Bereichen für dringend erforderlich, zu überlegen, welche Strukturen am besten geeignet sind, dass alle Patient*innen die notwendigen Gesundheitsleistungen in möglichst hoher Qualität erhalten. Der Sicherstellungsauftrag für die ambulante Versorgung obliegt den Kassenärztlichen Vereinigungen und wir haben zunehmend Probleme, die Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen zu gewährleisten. Aufgrund der Alterung der Gesellschaft ist es außerdem immer mehr erforderlich, dass Gesundheitsversorgung und Pflege besser miteinander verzahnt werden. Viele Patient*innen benötigen beides: eine hochwertige Gesundheitsversorgung und eine verlässliche gesundheitsbezogene und soziale Pflege. Auf beiden Feldern sehe ich vor allem die Kommune stärker in der Verantwortung. Bestehende Leistungen müssen besser koordiniert werden und es ist auf kommunaler Ebene eine Infrastruktur aufzubauen, die es ermöglicht, dass auch auf dem Land alle Menschen die notwendigen Gesundheits- und Pflegeleistungen erhalten. Da dies eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, halte ich hierfür eine Ausweitung der Steuerfinanzierung für dringend erforderlich. Eine dritte wichtige Aufgabe ist die Digitalisierung im Gesundheitssystem. Hier liegen wir weit hinter den führenden Ländern wie z. B. Dänemark zurück. Der Vergleich mit anderen Ländern zeigt, dass die Digitalisierung im Gesundheitssystem schneller vorankommt, wenn der Staat sich umfassend an dieser wichtigen Zukunftsaufgabe beteiligt. Inwieweit hängen die Prinzipien von Selbstverwaltung und Freiberuflichkeit der Zahnärztinnen und Zahnärzte zusammen? Viele der Aufgaben, die vor uns liegen, werden wir nur dann lösen können, wenn auch im ambulanten Bereich größere Gesundheitszentren aufgebaut werden, in denen Ärzte, Zahnärzte und weitere Gesundheitsberufe die erforderlichen Gesundheitsleistungen unter einem Dach anbieten. Innerhalb dieser Zentren können gemeinsame Verwaltungsstrukturen, medizinisch-technische Geräte und Laborleistungen genutzt werden. Vor allem bei der zunehmenden Zahl an multimorbiden Patient*innen wird das immer wichtiger. In diesen Gesundheitszentren können Ärzte freiberuflich oder angestellt tätig sein. Hier sollte es mehrere Optionen geben. Umfragen zeigen, dass gerade junge Zahnärzt*innen und Ärzt*innen mit Kindern ein Interesse an größeren Einrichtungen mit familiengerechten Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen haben. Ich sehe, wie gesagt, einen großen Erfolg der Selbstverwaltung in ihrem Beitrag zu dem heute bestehenden hohen Niveau der Gesundheitsversorgung. Da angestellte Ärzt*innen ebenso wie freiberuflich Tätige vor allem das Wohl ihrer Patient*innen vor Augen haben sollten, dürfen wir auf ihr Know-how auch in der Selbstverwaltung nicht verzichten. Oder mit anderen Worten: Selbstverwaltung geht auch mit weniger Freiberuflichkeit. Gehen Sie davon aus, dass trotz europäischer Integration und Binnenmarkt auf Dauer unterschiedliche nationale Lösungen bestehen können und damit auch die starke Stellung von Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung in Deutschland erhalten bleibt? Die Stärkung des Wettbewerbs innerhalb der Europäischen Union hat sich erheblich auf den Krankenhaussektor ausgewirkt. Dieser Prozess wird weiter zunehmen, und private Krankenhausketten werden an Bedeutung gewinnen. Einen ähnlichen Prozess kann man sich im ambulanten Sektor mit Gesundheitszentren vorstellen, die ich grundsätzlich begrüße. Wenn dies jedoch mit Privatisierung und Kommerzialisierung einhergeht, kommt ein immer geringerer Teil der Ressourcen bei den Patient*innen an. In dieser Hinsicht könnte die den Wettbewerb fördernde EU einen negativen Einfluss haben. Gesundheit und somit auch die Gesundheitsversorgung sind kein marktfähiges Gut, da wir in einer lebensbedrohlichen Situation oder bei einer schweren Krankheit jeden Preis zahlen würden, um wieder gesund zu werden. Wenn Einzelpraxen oder Gesundheitszentren vor Kommerzialisierungsprozessen geschützt sind, können allerdings Gesundheitsleistungen zum Wohle der Patienten sowohl durch freiberuflich tätige als auch durch angestellte Ärzte bereitgestellt werden. Eine starke Selbstverwaltung wäre allerdings zukünftig auf beide Gruppen, auf Freiberufler und angestellte Ärzte angewiesen. Gleichzeitig hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass eine starke Selbstverwaltung vor negativen Folgen des Wettbewerbs im Gesundheitssystem schützen kann. Vielen Dank für das Gespräch. Die Fragen stellte Dr. Holger Simon-Denoix www.zahnaerzteblatt.de ZBW 4/2020

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