16 Titelthema Sozialversicherungsträger wurden dabei bereits mit dem Selbstverwaltungsprinzip gedacht. Mit der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung im Deutschen Reich begann schließlich 1883 das Jahrzehnt der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in dem auch die Errichtung der Unfallversicherung und der Invaliden- und Altersversicherung folgte. Arbeiter in Handwerk und Industrie waren pflichtversichert, Mitglieder eingeschriebener Hilfskassen (später Ersatzkassen) und Beamte dagegen befreit – ein entscheidendes Detail, welches die Unterteilung in gesetzliche und private Krankenkasse später mit sich brachte. Das Krankenkassenwesen entwickelte sich: 1911 waren 18 Prozent der Bevölkerung in rund 22.000 Krankenkassen versichert. Foto: K. Volz Ärzteschaft setzt sich zur Wehr. Und die Ärzte? Diese wurden zunehmend von den Kassen dominiert. Die steigende Versichertenzahl stärkte die Stellung der Kassen, die ohnehin bereits die Zahl der Kassenärzte frei bestimmen konnten. Interessensgruppen wie der Vereinsbund Deutscher Zahnärzte (1891) oder der Wirtschaftliche Verband Deutscher Zahnärzte (1910) wurden gegründet, um gegenüber Krankenkassen wirksamer auftreten zu können; ein angekündigter Generalstreik für 1914 gerade noch durch das Berliner Abkommen (1913) abgewendet. Waren bislang Einzelverträge üblich gewesen, war nun der Beginn des Kollektivvertragssystems gemacht. Ebenso entschied fortan der zentrale Ausschuss, der spätere Reichsausschuss der Ärzte und Krankenkassen, als Selbstverwaltungsorganisation über die Zulassung. Die Zahnärztevertreter „Am 16. April 2020 kann die Zahnärzteschaft in Baden-Württemberg auf 55 Jahre Selbstverwaltung zurückblicken. „Selbstverwaltung“ erscheint als ein abstrakter Begriff, der in der gelebten Realität aber große Auswirkungen hat, die unser Gesundheitswesen prägen. Selbstverwaltung bedeutet faktisch sowohl Unabhängigkeit in beruflichen Belangen als auch Verpflichtung für die Gesundheit der Bevölkerung. Beide Aspekte verlangen verantwortliches Handeln, Engagement für das Gemeinwohl, ethische Ansprüche, Beobachtung von gesellschaftlichen Entwicklungen und Mitgestaltung durch Aktion und Reaktion. Selbstverwaltung gelingt nur dann, wenn sie sich den ständig ändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stellt. Eine aktuelle Herausforderung ist die Integration von Zahnärztinnen und Zahnärzten sowie zahnmedizinischen Fachangestellten, die eine Migrationsgeschichte haben. Auch der Umgang mit einer größer und vielfältiger gewordenen Zahl von zugewanderten Patientinnen und Patienten erfordert kulturelle Kompetenz und Engagement. Der Umgang mit Menschen mit Behinderungen hat einen Paradigmenwechsel erfahren, mit dem sich die Selbstverwaltung der Zahnärzteschaft bereits aktiv auseinandersetzt. Andersartige Herausforderungen stellen beispielsweise die Digitalisierung, die sektorenübergreifende Versorgung, geschlechterparitätische Besetzung von Gremien und neue Berufsausübungsformen in juristischen Personen des Privatrechts mit Auswirkungen auf berufsrechtliche Belange der Zahnärztinnen und Zahnärzte dar. Hier liegt ein Handlungsfeld für Politik und Selbstverwaltung gleichermaßen. Ich sehe in der Selbstverwaltung der Zahnärzteschaft Baden-Württemberg einen kritisch-konstruktiven, engagierten Partner in der Gesundheitspolitik. Sie füllt ihren Platz aus, weil sie mehr ist als nur eine Berufsstandsvertretung. Dies wünsche ich mir auch für die Zukunft.“ Manne Lucha MdL Minister für Soziales und Integration Baden-Württemberg waren im Ausschuss allerdings nicht berücksichtigt, da es ihnen nicht gelungen war, Vertragspartner zu werden. Dennoch durchlief die Zahnmedizin eine wichtige Entwicklung: Während durch die Einführung einer neuen Gewerbeordnung im Jahr 1870 die Durchführung von Zahnbehandlungen noch jedem erlaubt war und so neben Zahnärzten auch Zahntechniker, sogenannte Dentisten, aber auch freie Zahnkünstler wie Uhrmacher oder Goldschmiede Leistungen anboten, wurde 1919 die Zahnheilkunde endlich als Spezialfach der Medizin anerkannt und die Promotion als Dr. med. dent. eingeführt. Geburtsstunde. Ein Notverordnungsgesetz der Weimarer Republik sorgte 1931 für den Zusammenschluss aller Kassenärzte in Kassenärztlichen Vereinigungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts. So wurden die privatrechtlich organisierten Ärzteverbände ersetzt und fortan auf der Ebene der Vereinigungen kollektive Verträge verhandelt. Die damals in Baden und Württemberg praktizierenden 754 Zahnärzte waren hier allerdings noch nicht berücksichtigt. 1933 kam es dann zur Gründung der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Deutschlands (KZVD), auch einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und in der Folge alleiniger Mittler zwischen Kassenzahnärzten und Krankenkassen. Aufgabe der Vereinigung war aber nicht nur die Verteilung der von den Krankenkassen gezahlten Vergütungen, sondern auch beispielsweise die Prüfung der zahnärztlichen Leistungen und die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise. Regionale Besonderheiten waren in der KZVD allerdings nicht berücksichtigt und als Instrument der Gleichschaltung war die Institution weniger eine Interessenvertretung als vielmehr eine Einflussmöglichkeit des Staates. Sogar die zahnärztlichen Hochschullehrer waren Reichszahnärzteführer Ernst Stuck unterstellt. Wiederaufbau. Nach dem Krieg mussten neben elementaren Auf- ZBW 4/2020 www.zahnaerzteblatt.de
Titelthema 17 gaben wie der Unterbringung von Flüchtlingskollegen und der Versorgung der Praxen mit Material und Instrumenten auch die strukturellen Fragen der Organisation der Zahnärzte geklärt werden. Bis 1955 arbeitete die KZVD zunächst weiter, allerdings mit begrenzter Wirksamkeit, weshalb regionale Organisationseinheiten eingerichtet wurden. Mit der Gründung der Bundesrepublik wurde auch die gesetzliche Krankenversicherung neu geordnet – in Selbstverwaltung. Der damals neu gewählte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) sprach in einer Regierungserklärung 1949 davon, dass die Bundesregierung es den Verbänden überlassen wird, „alles das in freier Selbstverwaltung zu tun, was den wirtschaftlichen und sozialen Interessen förderlich ist“. Der Wiederaufbau der ärztlichen Selbstverwaltung hatte fortan zum Ziel, einen endgültigen Interessensausgleich zwischen Kassenärzten und Krankenkassen zu erreichen. Einzelverträge wurden vollends durch den Gesamtvertrag verdrängt und die niedergelassenen Ärzte hatten nun eine gesetzlich fixierte Interessenvertretung. 1954 gründeten die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (KZVen) die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) als Arbeitsgemeinschaft. Durch das Gesetz über das Kassenarztrecht (GKAR) 1955 wurden nicht nur die Landes-KZVen Körperschaften des öffentlichen Rechts, sondern die Kassenzahnärzte auch Pflichtmitglieder in den regionalen KZVen. Die Zulassung wurde auf 900 Krankenkassenmitglieder je Zahnarzt begrenzt. Nach der Einführung der Gebührenordnung für Zahnärzte (1965) wurden die Leistungen der kassenzahnärztlichen Versorgung permanent ausgeweitet. „Die Selbstverwaltung der Freien Berufe, zu denen die Zahnärzte gehören, hat sich in Deutschland bewährt. Durch die Selbstverwaltung werden Standards gesetzt, die von der Berufsgenossenschaft kontrolliert werden. Damit trägt sie zu einer guten Patientenversorgung bei.“ Andreas Schwab, Mitglied des Europäischen Parlaments Foto: Jürgen Altmann Ära der Kostendämpfung. Durch die finanziellen Möglichkeiten der Wirtschaftswunderzeit war auch der Versorgungskatalog enorm erweitert worden. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen machte die Runde, innerhalb von fünf Jahren verdoppelten sich die Ausgaben der Krankenkassen – Kostendämpfung stand auf der Tagesordnung. 1977 wurde beispielsweise die „Die Selbstverwaltung, auch die der Zahnärztinnen und Zahnärzte stehen durch den Wettbewerb und finanzstarke Investoren unter enormen unter Druck, der mir Sorgen bereitet. Von zaghaften und völlig unzureichenden Versuchen der Koalition abgesehen, scheinen es leider alle anderen Fraktionen zu billigen, wenn die Einzel- und Gemeinschaftspraxen aufgekauft und zu Ketten umorganisiert werden. Das ist klar zum Schaden der Patientinnen und Patienten, wie auch der Versicherten. Wenn die Entwicklung weiter so rasant voranschreitet, auch zum Schaden der Selbstverwaltung, die dann zur Interessenspolitik von Zahnarztketten und Private-Equity-Fonds verkommt. Wenn die Zahnärzteschaft diese Entwicklung aufhalten will, kann sie auf unsere Unterstützung zählen.“ Dr. Achim Kessler, Gesundheitspolitischer Sprecher DIE LINKE Foto: B. Gross Selbstbeteiligung bei Zahnersatz und Kieferorthopädie eingeführt, insgesamt über die Jahre ein Paradigmenwechsel von der ausgabenorientierten Einnahmepolitik zur einnahmenorientierten Ausgabepolitik vollzogen. 1988 wurde durch das Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (GRG) nicht nur die Kariesprophylaxe eingeführt und die Zuzahlung für Zahnersatz angehoben, sondern auch das Primat der Beitragssatzstabilität verankert. Für die kassenzahnärztliche Selbstverwaltung war diese Zeit geprägt von staatlich reglementierenden Beschränkungen im Vergütungs- und Zulassungswesen, beispielsweise durch die Festlegung von Altersgrenzen der Zulassung. Die Entwicklungen führten zu Tendenzen innerhalb der Zahnärzteschaft, dem als dirigistisch und bürokratisch empfundenen GKV-System den Rücken zu kehren. Modernisierung. Das GKV- Modernisierungsgesetz (2003) brachte eine neue Institution mit sich: Fortan sollte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung auftreten und die Aufgabe der Konkretisierung des Leistungskatalogs der Krankenkassen erfüllen. Ebenso führte das Gesetz auch zur Zusammenlegung regionaler KZVen: Die Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden- Württemberg, bestehend aus den Bezirksdirektionen Freiburg, Karlsruhe, Stuttgart und Tübingen, wurde so geboren. In der Folge legte die Selbstverwaltung einen Schwerpunkt auf das Thema der Qualitätsförderung, beispielsweise mit der zahnärztlichen Agenda (2014) und der Errichtung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQ- TIG). Benedikt Schweizer www.zahnaerzteblatt.de ZBW 4/2020
Laden...
Laden...
Informationszentrum Zahn- und Mundgesundheit Baden-Württemberg (IZZ)
Haus: Heßbrühlstraße 7, 70565 Stuttgart
Post: Postfach 10 24 33, 70200 Stuttgart
Telefon: 0711 222 966 0
Fax: 0711 222 966 20
presse@izzbw.de
Eine Einrichtung der Kassenzahnärztlichen
Vereinigung Baden-Württemberg
& der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg
© by IZZ Baden-Württemberg - Impressum - Datenschutz